Teil 2: Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus
Der erste Teil dieses Artikels endete damit, dass die Ereignisse zwischen 1989 und 1991 einen historischen Wendepunkt im 20. Jahrhundert darstellten: den Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa und der Sowjetunion. Dieser Zusammenbruch hatte vielfältige Auswirkungen, unter anderem die vollständige Verbürgerlichung von sozialdemokratischen und manchen stalinistischen Parteien und eine Verstärkung von Globalisierung und Neoliberalismus.
von Wolfram Klein
Verschiedene trotzkistische Strömungen haben die Entwicklungen unterschiedlich analysiert. Es kann nicht überraschen, dass sie auch innerhalb von Organisationen zu Kontroversen führten. Auch innerhalb des CWI (Komitee für eine Arbeiterinternationale, die internationale Organisation, der die SAV angehört) gab es wesentlich heißere Debatten als in den Jahren zuvor, die auch zu mehreren Abspaltungen führten.
Neben den Kontroversen über die objektiven Veränderungen, gab es auch Meinungsverschiedenheiten darüber, welche Aufgaben sich für RevolutionärInnen ergaben. Entsprechend besteht auch dieser Text aus zwei Teilen.
Der Zusammenbruch des Stalinismus
Trotzki war überzeugt, dass der Stalinismus nicht eine neue und notwendige Gesellschaftsform im Ablauf der menschlichen Geschichte und der Entwicklung der Produktivkräfte war, sondern ein historischer „Unfall“, aus dem eine Übergangsgesellschaft entstanden war. In den stalinistischen Staaten war der Kapitalismus abgeschafft, aber noch kein Sozialismus geschaffen worden. Die Herrschaft der Bürokratie verhinderte eine auf einer Arbeiterdemokratie basierenden, harmonische Entwicklung in Richtung Sozialismus. Es gab nur die Alternative zwischen einer politischen Revolution (einem Sturz des Stalinismus durch die ArbeiterInnen und die Errichtung einer Arbeiterdemokratie, die den Weg zum Sozialismus frei machen würde), und einer kapitalistischen Konterrevolution. Daraus ergab sich für MarxistInnen eine doppelte Aufgabe: einerseits die Verteidigung der revolutionären Errungenschaften, des Staatseigentums an den Produktionsmitteln, der Planwirtschaft, gegen alle Bestrebungen der Konterrevolution, sowohl durch die Imperialisten im Ausland als auch durch die stalinistische Bürokratie im Inland; andererseits die Vorbereitung einer politischen Revolution gegen den Stalinismus. Trotzki betonte, dass die politische Revolution der Verteidigung der Sowjetunion untergeordnet war. Ein Sturz des Stalinismus mit dem Ergebnis der Restauration des Kapitalismus war nicht erstrebenswert. Allerdings wurde die Bürokratie immer mehr zur Fessel für die Planwirtschaft und vergrößerte damit die Gefahr der Restauration des Kapitalismus.
Die britische Revolutionary Communist Party, eine Vorläuferorganisation des CWI in den 1940er Jahren, erkannte, dass der Zweite Weltkrieg den Stalinismus vorübergehend gestärkt hatte. In Osteuropa und China wurden stalinistische Staaten nach sowjetischem Vorbild errichtet. In den folgenden Jahrzehnten wurden in weiteren Ländern stalinistische Staaten errichtet. Die Abschaffung des Kapitalismus und die Planwirtschaft führten in diesen Ländern zu einer großen Entwicklung der Produktivkräfte. Bei diesem Kräfteverhältnis war die Restauration des Kapitalismus in den gefestigten stalinistischen Ländern für eine ganze Geschichtsperiode praktisch ausgeschlossen.
Aber in den 1980er Jahren änderte sich das. Die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion und Osteuropas nahmen zu. Verschiedene Länder, inklusive der Sowjetunion nach Gorbatschows Amtsantritt 1985, versuchten die Einführung von Marktmechanismen in die Planwirtschaft, die die Probleme aber noch verschärften. Trotzdem nahmen sowohl in der herrschenden Bürokratenkaste, als auch in der Bevölkerung, insgesamt die Illusionen in die Marktwirtschaft zu, weil der wirtschaftlichen Stagnation in den stalinistischen Staaten ein längerer Konjunkturaufschwung ab 1983 und eine höhere Konsumgüterversorgung in den entwickelten kapitalistischen Staaten gegenüber stand.
Zu Trotzkis Zeiten spielte die Bürokratie eine doppelte Rolle: Auf der einen Seite unterdrückte sie die Bevölkerung, auf der anderen Seite verteidigte sie die Planwirtschaft als die Grundlage ihrer Herrschaft. Gegen Ende der 1980er Jahre war von dieser Verteidigung der Planwirtschaft nicht mehr viel übrig.
1989 war ein Jahr von Massenprotesten gegen stalinistische Regime. Im Frühjahr protestierten Studierende und ArbeiterInnen in Peking und wurden blutig unterdrückt. Im Sommer streikten die sowjetischen Bergarbeiter massenhaft.
Die Ereignisse in der DDR 1989/90 hat die SAV ausführlich in dem Buch von Robert Bechert, „Die gescheiterte Revolution“ dargestellt. Dort wird auch auf die Kontroversen innerhalb des CWI in Deutschland eingegangen (S. 135f.) Hinter ihnen steckte, dass ein Teil der GenossInnen, vor allem in der damaligen westdeutschen Bundesleitung, weiterhin eine Restauration des Kapitalismus in der DDR oder anderen osteuropäischen Ländern für unmöglich hielt – und daher auch eine kapitalistische Wiedervereinigung. Sie glaubten nach wie vor, dass eine Wiedervereinigung nur auf der Grundlage des Sturzes des Stalinismus in der DDR durch eine politischen Revolution und des Sturzes des Kapitalismus durch eine sozialistische Revolution in der BRD möglich sei. Deshalb meinten sie, an die wachsende Stimmung für eine Wiedervereinigung anknüpfen zu können, ohne zu erkennen, dass diese Stimmung die Gefahr einer Restauration des Kapitalismus in der DDR erhöhte.
Die Führung des CWI war schon 1988 mehrheitlich zu der Einsicht gekommen, dass eine Restauration des Kapitalismus in Ländern wie Polen möglich geworden war. In der DDR war im Oktober 1989 die vorherrschende Tendenz die zur politischen Revolution gewesen, aber nach der Maueröffnung nahmen die Illusionen in die Marktwirtschaft zu. Aus der Einsicht, dass die kapitalistische Wiedervereinigung eine reale Gefahr geworden war, ergab sich die Schlussfolgerung, dass man an Wiedervereinigungsforderungen nicht positiv anknüpfen konnte.
Andere linke Strömungen verfuhren umgekehrt. Zum Beispiel lehnte die deutsche Organisation der Internationalen Sozialistischen Tendenz (IST), die Sozialistische Arbeitergruppe (SAG, die Vorläuferorganisation von Linksruck und Marx 21), im Winter 1989/90 die Wiedervereinigung ab, weil diese eine Stärkung des deutschen Imperialismus bedeutete. Wenige Monate später befürwortete sie sie, weil sie die DDR als (staats)kapitalistisch betrachtete und eine Vereinigung dadurch nicht als Mittel zur Restauration des Kapitalismus. Für die IST/SAG waren die Ereignisse 1989 bis 1991 keine historischer Rückschritt, sondern ein Schritt zur Seite. Auch 1994 bemängelten sie nur, eine „aus dem Generalstreik (eine Forderung, die sie für die Massenbewegung der DDR aufgestellt hatte, A.d.A.) hervorgegangene revolutionäre Übergangsregierung hätte den Auftrag gehabt, (…) mit der Kohl-Regierung die Bedingungen für eine Wiedervereinigung auszuhandeln.“ (Sozialismus von unten, 1994) Diese Position ist allerdings selbst aus der Annahme heraus, die DDR sei staatskapitalistisch gewesen, unmarxistisch, weil sie die Massenbewegung in der DDR nicht mit einer sozialistischen Perspektive ausgestattet hat, sondern zu einer Vereinigung auf kapitalistischer Grundlage geführt hätte – denn in Verhandlungen mit der Kohl-Regierung hätte nichts anderes herauskommen können!
Hinter den Kontroversen innerhalb des CWI zur Wiedervereinigung steckte, dass ein Teil der Mitglieder sich an alte Formeln klammerte und nicht auf die grundlegend geänderte Lage einstellte. Daher war die Auseinandersetzung ein Vorspiel für den Fraktionskampf 1991/1992, der zur Abspaltung der Minderheitsgruppe um Ted Grant und Alan Woods (der heutigen Internationalen Marxistischen Tendenz, IMT, in Deutschland und Österreich der „Funke“) führte. Bei diesem Fraktionskampf stand die Haltung zur Labour Party im Mittelpunkt (siehe den folgenden Abschnitt).
Ein Streitpunkt war aber auch die Haltung zum gescheiterten Putsch in der Sowjetunion im August 1991, als Generäle um Janajew versuchten, den russischen Präsidenten Boris Jelzin zu stürzen und die Macht zu ergreifen. Bei diesem Putsch ging es keineswegs – wie in bürgerlichen Medien zumeist dargestellt – darum, dass die Putschisten am Stalinismus festgehalten hätten, während nur die Kräfte um Jelzin den Kapitalismus einführen wollten. Es gab keine relevante Kraft innerhalb der herrschenden Bürokratie mehr, die den Stalinismus verteidige. Es ging vielmehr darum, welche Rolle die zentrale sowjetische Bürokratie spielen sollte und welche die Bürokratien der Einzelstaaten (Russland, Ukraine etc.) – also wer bei der kapitalistischen Restauration sein Scherflein ins Trockene bringen konnte. Zum anderen ging es darum, dass der Flügel um Jelzin schnell kapitalistische Verhältnisse einführen wollte, während der Flügel um Janajew kapitalistische Verhältnisse langsamer einführen wollte, aber sofort die in den letzten Jahren faktisch zugestandenen demokratischen Rechte wieder einkassieren wollte: Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, Streikrecht, das Recht, sich zu organisieren. Bei so einem Konflikt konnten MarxistInnen nicht neutral sein. Nicht weil das CWI eine kapitalistische Demokratie einer stalinistischen Diktatur vorziehen würde, sondern weil unter einer von den Generälen geführten kapitalistischen Restauration die demokratischen Rechte und Kampfbedingungen der Arbeiterklasse deutlich schlechter gewesen wäre.
Die einzige Kraft, die in Russland 1991 das Staatseigentum und die Planwirtschaft hätte verteidigen (und von den stalinistischen Monstrositäten befreien) können, war die Arbeiterklasse. Deshalb stand in den Tagen des Putsches im Vordergrund, die Putschisten zu bekämpfen, die die demokratischen Rechte, die Bewegungsfreiheit, die Kampfmöglichkeiten der Arbeiterklasse unmittelbar bedrohten. Nur so blieb die Möglichkeit bestehen, später mit dem Jelzin-Flügel abzurechnen. Leider war das Bewusstsein der ArbeiterInnen zu sehr zurückgeworfen, so dass diese Möglichkeit nicht genutzt wurde. Aber das war im August eine Möglichkeit, keine Gewissheit. Deshalb war es richtig, Streiks zu organisieren und Barrikaden zu errichten, unabhängig davon, ob Jelzin & Co dazu auch aufriefen. Gleichzeitig war es notwendig, vor den Zielen von Jelzin & Co zu warnen. So haben die russischen Mitglieder des CWI gehandelt. Das wurde von der Minderheitsfraktion um Ted Grant und Alan Woods heftig kritisiert, die dafür eintraten, sich neutral zu verhalten.
Das CWI erkannte an, dass die Restauration des Kapitalismus eine Niederlage für die Arbeiterbewegung war, betonte aber, dass es vor allem eine ideologische Niederlage war, nicht vergleichbar mit der Zerschlagung der Arbeiterbewegung in verschiedenen Ländern durch den Faschismus in den 1930er Jahren. Im Unterschied zum CWI haben mehrere trotzkistische Organisationen jahrelang nicht wahrhaben wollen, dass es in Osteuropa zur kapitalistischen Restauration gekommen war. Die LIT (Internationale Arbeiterliga, die bis heute größte Organisation aus der, vor allem in Lateinamerika vertretenen, Strömung, die von Nahuel Moreno aufgebaut wurde) betrachtete noch 1995 den Sturz des Stalinismus als „sehr positive Entwicklung“ und „strategischen Sieg der Arbeiterklasse“ und räumte erst 1996 ein, dass Russland kapitalistisch war. Sie beging den Kardinalfehler, Revolution und Konterrevolution zu verwechseln und bereitete ihre Mitglieder völlig falsch auf die schwierige Periode der 1990er Jahre vor, was zu einer vielfachen Aufspaltung dieser Strömung führte.
Ted Grant, nach der Spaltung vom CWI wichtigster Theoretiker der IMT, veröffentlichte noch 1997 ein Buch über „Revolution und Konterrevolution in Russland“, laut dem dort kein Kapitalismus herrschte, sondern es „eine widersprüchliche Hybridsituation gibt, in der die bürgerliche Regierung von Jelzin unter dem Druck des Imperialismus einen völligen Übergang zum Kapitalismus anstrebt.“ Nicht nur das: Er sah den Prozess der kapitalistischen Restauration sogar als als umkehrbar an.
Die Verbürgerlichung der Sozialdemokratie
Wie oben geschrieben, stand im Mittelpunkt des Fraktionskampfes im CWI 1991/92 die Einschätzung der Sozialdemokratie. Die Einschätzung der objektiven Entwicklung und der praktischen Schlussfolgerungen waren hier so eng verflochten, dass es keinen Sinn macht, sie getrennt zu diskutieren.
Die Mehrheit stellte fest, dass sich die Sozialdemokratie nach rechts bewegte und sich entleerte. Die Ortsvereine verloren mehr und mehr ihre aktive Basis, vor allem unter ArbeiterInnen und AktivistInnen aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Dieser Prozess begann Ende der 1980er Jahre unter dem Einfluss des damaligen relativ langen Wirtschaftsaufschwungs und verstärkte sich nach dem Zusammenbruch des Stalinismus. Die Mehrheit zog daraus die Schlussfolgerung, dass in einzelnen Ländern eine erfolgreichere Arbeit als „offene“ Organisation außerhalb der traditionellen Parteien möglich war. Dieser taktische Schritt wurde als „offene Wende“ bekannt. Für die Minderheit hatte sich die langfristige Taktik der Arbeit in den traditionellen (sozialdemokratischen, in manchen Ländern auch stalinistischen) Massenparteien der Arbeiterklasse in eine Strategie und ein Dogma verwandelt, z.B. arbeiten sie heute noch in Frankreich in der Kommunistischen Partei, die mal eine Massenpartei war, aber bei den Präsidentschaftswahlen 2007 noch 1,9 Prozent erhielt – der Kandidat der damaligen LCR (Revolutionär-Kommunistische Liga) Olivier Besancenot bekam 4,1 Prozent.
Zu diesem Zeitpunkt sah aber auch die Mehrheit die „offene Wende“ nur als eine vorübergehende Taktik – und keineswegs als einzige mögliche Taktik. So schlug sie der italienischen Sektion vor, in der Rifondazione Comunista (PRC), die sich damals gerade von der sozialdemokratisierten ehemaligen Kommunistischen Partei (Partei der Demokratischen Linken) abgespalten hatte, zu arbeiten. Die italienische Sektion, die die internationale Minderheit unterstützte, lehnte das aber ab und trat erst Jahre später der PRC bei. Der 6. CWI-Weltkongress 1993 hielt „offene Arbeit“, die Arbeit in „neuen Formationen“, die sich von den traditionellen Parteien abspalteten, und die Fortsetzung der Arbeit in traditionellen sozialdemokratischen/kommunistischen Parteien als mögliche Taktiken fest.
In den folgenden Jahren kam das CWI zu der Schlussfolgerung, dass der Rechtsruck der Sozialdemokratie eine qualitative Veränderung bedeutete. Seit der Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten 1914 hatten MarxistInnen sie als bürgerliche Arbeiterparteien bezeichnet. Das heißt, dass sie Parteien waren, die politisch bewusste ArbeiterInnen als ihre Organisationen ansahen (und nicht nur als ein kleineres Übel, das man auf dem Stimmzettel ankreuzt, um ein größeres zu verhindern), die aber von bewussten Verteidigern des Kapitalismus geführt wurden. Der Nutzen dieser Führung für die Kapitalisten beruhte auf ihrem Einfluss auf die ArbeiterInnen und dieser Einfluss auf erkämpften Reformen (oder zumindest der Erinnerung an vergangene Reformen).
Jetzt verwandelten sich diese bürgerlichen Arbeiterparteien in rein bürgerliche Parteien.
Sie verloren ihre aktive Arbeiterbasis, wurden von breiteren Schichten der Arbeiterklasse nicht mehr als ihre Parteien angesehen, ArbeiterInnen, die in Aktion traten und sich politisierten, orientierten sich nicht mehr auf diese Parteien als Vehikel ihre Interessen durchzusetzen und programmatisch gaben sie weitgehend jeden Bezug zum Sozialismus auf und nahmen an der Durchsetzung neoliberaler Politik teil. Sicher haben diese Parteien noch enge Verbindungen zu den Gewerkschaftsapparaten, aber das haben die Demokraten in den USA auch, geschweige denn christdemokratische Parteien in Ländern, in denen es stärkere christliche Gewerkschaftsverbände gibt.
Mit dieser Einschätzung steht das CWI fast allein. Auch ultralinke Organisationen wie die „Spartakisten“ oder die „Liga für die fünfte Internationale“ (in Deutschland „Gruppe Arbeitermacht“) betrachten die Sozialdemokratie noch als bürgerliche Arbeiterparteien und sehen daher den qualitativen Unterschied zu Parteien wie der Linken in Deutschland nicht, womit sie ihre sektiererische Haltung solchen Parteien gegenüber rechtfertigen.
In einem Artikel zur Wahl in Hamburg im Februar 2011 schrieb die „Gruppe Arbeitermacht“: „Den traditionellen SPD-WählerInnen, die ‚ihrer’ Partei die Treue halten, sagen wir: Geht wählen! Sorgt dafür, dass die SPD nur mit der Linken regiert – keine Koalition mit Schwarz, Gelb oder Grün!“ (Neue Internationale“ 156, S. 15) Sie rufen sie nicht dazu auf, endlich mit der SPD zu brechen, sondern reden einer Koalition zwischen SPD und Linken das Wort!
Auch die „Funke“-Gruppe in Deutschland hat sich nicht grundlegend gegen die Koalition der PDS/DIE LINKE mit der SPD in Berlin und anderen Bundesländern ausgesprochen.
Die Organisation, die sich selbst als „die Vierte Internationale“ zu bezeichnen pflegt, aber von anderen trotzkistischen Organisationen meist als Vereinigtes Sekretariat der Vierten Internationale (VSVI) bezeichnet wird, sieht zwar auch eine qualitative Veränderung der sozialdemokratischen Parteien, eine Verwandlung in „sozialliberale Parteien“, betrachtet diese aber immer noch als Teil der Arbeiterbewegung.
Aus der Einschätzung des CWI ergibt sich unter anderem die Notwendigkeit, gegen den sozialdemokratischen Einfluss in den Gewerkschaften zu kämpfen, z.B. in Britannien für das Kappen der Angliederung der Gewerkschaften an die Labour Party und das Einstellen der gewerkschaftlichen Parteispenden einzutreten, statt die Illusion zu haben, auf diese Weise noch Einflussmöglichkeiten auf die Partei zu haben. Vor allem aber kam das CWI deshalb Mitte der 1990er Jahre zu der Folgerung, dass der Aufbau neuer Arbeiterparteien notwendig ist.
Imperialismus, Krieg und Islamhetze
Eine der schrecklichsten Folgen der Restauration des Kapitalismus war eine Reihe von Kriegen, sowohl von Bürgerkriegen in ehemals stalinistischen Länder (Kaukasus, ehemaliges Jugoslawien) als auch Kriege des US-Imperialismus und seiner Verbündeten gegen den Irak (1991 und 2003), Jugoslawien (1999) und Afghanistan (2001) – 1999 und 2001 unter direkter Beteiligung der „rot-grün“ regierten BRD. MarxistInnen hatten selbstverständlich die Pflicht, diese reaktionären Kriege abzulehnen und auf der Seite der vom Imperialismus angegriffenen Völker zu stehen. Dabei war klar, dass der Irak, Jugoslawien oder Afghanistan die einzig verbliebene Supermacht USA militärisch nicht besiegen konnten. Ein Sieg des US-Imperialismus hätte nur durch eine mächtige Antikriegsbewegung in den imperialistischen Ländern verhindert werden können. Dabei war es völlig kontraproduktiv, irgendwelche Sympathien für Saddam Hussein, Milosevic oder die Taliban zu haben, für die die Massen weltweit Abscheu empfanden. Richtig war es zu betonen, dass der Sturz dieser Regime nicht Sache imperialistischer Armeen, sondern der eigenen Bevölkerung der ArbeiterInnen und Jugend, war, die ja auch in der Tat Milosevic gestürzt haben.
Anders als SAV und CWI, hat die IST es sogar für falsch erklärt, die Anschläge vom 11. September zu „verurteilen“. Das vertraten ihre damaligen Vertreter Rob Hoveman und John Rees in einem Rundschreiben des britischen Bündnisses „Socialist Alliance“. Es war umso absurder, weil sie erklärten, die Anschläge auch abzulehnen – aber das Wort „verurteilen“ zur Prinzipienfrage erklärten.
Fehler in die andere Richtung wurden gleichzeitig gemacht: Ein Aufruf französischer Intellektueller gegen den Jugoslawienkrieg 1999 beklagte: „Man hätte im Rahmen der OSZE die Bedingungen für eine gemischtnationale (insbesondere aus Serben und Albanern zusammengesetzte) Polizei finden können“. Der Aufruf wurde vom damaligen Vordenker der LCR (französischen VSVI-Sektion), Daniel Bensaid, ebenso unterschrieben wie vom IST-Theoretiker Professor Callinicos. VSVI und IST verbreiteten den Aufruf international. Aber Institutionen wie OSZE und UNO sind keine Alternative zur Nato oder Bushs „Koalition der Willigen“, sondern ebenfalls Zusammenschlüsse kapitalistischer und imperialistischer Staaten. Und wenn Räuber sich zusammenschließen, ist das Ergebnis eine Räuberbande.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion löste der Islam sie als Feindbild ab. Nach dem 11. September nahm die Hetze gegen MigrantInnen aus islamischen Ländern stark zu. Es ist notwendig dem entgegen zu treten. Aber die IST hat darüber hinaus opportunistisch Zugeständnisse an die Vorurteile rückständiger Muslime gemacht. So hat ihre britische Socialist Workers Party (SWP) im Gefolge der Massenbewegung gegen den Irakkrieg das Wahlbündnis Respect gegründet, das sich stark auf durch den Krieg politisierte Muslime stützte. Dabei präsentierte sich Respect oftmals als die Partei für Muslime, statt muslimische ArbeiterInnen als ArbeiterInnen anzusprechen und die Einheit mit nicht-muslimischen ArbeiterInnen deutlich zu propagieren. So wurden zum Beispiel KandidatInnen teilweise aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ausgewählt oder auf Kandidaturen gegen muslimische Labour-Kandidaten verzichtet, obwohl diese Sozialabbau zugestimmt hatten.Von vielen ArbeiterInnen (auch nicht-muslimischen MigrantInnen) wurde Respect demenstprechend als „Moslem-Partei“ gesehen.
Noch verheerender ist die unkritische Haltung gegenüber dem islamischen Fundamentalismus in Bezug auf Länder, wo er Macht hat. Nach dem israelischen Angriff auf den Gaza-Hilfskonvoi veröffentlichte die SWP-Theoriezeitschrift International Socialism einen Artikel, in dem Hamas als „nationale Befreiungsbewegung mit islamistischen Merkmalen“ bezeichnet wird, die „in einer Achse des anti-imperialistischen Widerstands mit Organisationen wie Hisbollah und dem Iran verbunden“ sei. Wenige Wochen bevor Jugendliche in Gaza ihre Wut über die Bevormundung in einem Manifest zum Ausdruck brachten, das mit den Worten „Fuck Hamas, Fuck Fatah, Fuck UNO, Fuck Israel“ begann, verniedlichte die SWP die Haltung der Hamas zu „tief konservativen Positionen zu Fragen wie dem freien Markt und sexueller Befreiung“. Wenige Monate bevor in der Revolution in Ägypten die Moslembrüder kaum eine Rolle spielten, erklärte der Artikel sie zur „größten Massenbewegung in Ägypten (in der Tat in der arabischen Welt)“ und „Hauptopposition zum Mubarak-Regime“.
Die IST betrachtet islamistische Bewegungen als mit den revolutionären antikolonialistischen Bewegungen der Nachkriegsjahrzehnte vergleichbar. Es stimmt, dass die NLF(Nationale Befreiungsfront) in Vietnam auch fortschrittliche Menschen verfolgt hat. Tatsächlich haben die vietnamesischen Stalinisten nach dem Zweiten Weltkrieg eine der stärksten trotzkistischen Bewegungen der Welt zerstört. Der entscheidende Unterschied ist, dass die vietnamesischen Stalinisten für eine ganze Geschichtsepoche den Kapitalismus gestürzt haben, dabei allerdings ein totalitäres stalinistisches Regime errichtet haben, das sich nur durch einen Sturz der Bürokratie zum Sozialismus hätte entwickeln können. Aber die IST, die den Stalinismus für eine Form von Kapitalismus („Staatskapitalismus“) hält, erkennt diesen Unterschied nicht.
Permanente Revolution heute
Der IST-Gründer Tony Cliff hatte 1963 eine „Theorie der umgelenkten permanenten Revolution“ entwickelt. Danach könnte eine Bewegung unter Führung von Intellektuellen ein staatskapitalistisches System errichten. Damit erklärte Cliff es im Unterschied zu Trotzki für möglich, dass in rückständigen kapitalistischen Staaten auch im Zeitalter des Imperialismus eine revolutionäre Lösung der Agrarfrage (die Zerschlagung des Großgrundbesitzes) im Rahmen des Kapitalismus möglich ist (und nicht nur in Ausnahmefällen). Inzwischen sieht die IST nicht nur keinen Unterschied mehr darin, ob ein Regime kapitalistisch bleibt oder ein stalinistisches System (was sie für Staatskapitalismus erklärt) errichtet, sondern auch darin, ob es den Großgrundbesitz zerschlägt oder nicht. Ob eine nationale Befreiungsbewegung wie in Vietnam das macht oder eine islamistische „nationale Befreiungsbewegung“ das nicht macht, scheint für sie keinen Unterschied zu machen.
Für CWI und SAV ist Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ein unverzichtbarer Schlüssel zum Verständnis gerade auch der revolutionären Welle, die jetzt im Nahen Osten begonnen hat. Dagegen haben IST und VSVI in diesem Zusammenhang Karikaturen von Trotzkis „permanenter Revolution“ vertreten. Der SWP-Theoretiker Callinicos schrieb in einem Artikel über Tunesien, dass in Russland der politische Aufstand gegen den Zaren in wirtschaftliche Kämpfe gegen das Kapital hinüber wuchs. Das Internationale Komitee des VSVI schrieb in einer Erklärung vom 22. 2. 2011 von der permanenten Revolution, die „soziale, demokratische Dimensionen und solche der nationalen Souveränität verbindet und sich international ausbreitet“. Die Volksklassen und vor allem die Arbeiterklasse hätten „die Mittel bekommen, alle demokratischen Freiheiten geltend zu machen“. Beide unterschlagen den Gedanken, dass sich auch die demokratischen Ziele der Revolution nur verwirklichen lassen, wenn die Arbeiterklasse im Bündnis mit der Bauernschaft die Macht übernimmt und dann zu antikapitalistischen Maßnahmen weitergeht. Aber im Nahen Osten ist eine demokratische Lösung der Agrarfrage und, angesichts des Iarel-Palästine-Konflikts, erst Recht der nationalen Frage im Rahmen des Kapitalismus unrealistisch. Seine Überwindung ist für jeden dauerhaften Fortschritt notwendig.
Aufbau einer revolutionären Partei – möglich? notwendig?
Der Trotzkismus als politische Strömung war in Opposition zum Stalinismus entstanden. Waren nach dem unrühmlichen Ende des Stalinismus die alten Kontroversen überholt? Das Vereinigte Sekretariat sagte 1995: „Die Analyse der stalinistischen Sowjetunion, die Identifikation mit dem historischen Kampf der russischen Linken Opposition und mit der Entwicklung der Vierten Internationale seit dem Zweiten Weltkrieg wird Stück für Stück ihren unterscheidenden Charakter bei der Konstituierung revolutionärer Organisationen verlieren“.
Aber erstens bleibt eine Erklärung des Stalinismus eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau neuer sozialistischer Massenbewegungen und zweitens besteht der Trotzkismus nicht nur aus der Stalinismusanalyse. Die Aktualität von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution wurde schon betont, seine von ihm entwickelten oder verteidigten Ideen zu Fragen des Übergangsprogramms, der Koalitionspolitik mit bürgerlichen Parteien, des Internationalismus sind ebenso brandaktuell (siehe dazu den Artikel „Trotzkismus heute“ in sozialismus.info Nummer 11).
Der Restauration des Kapitalismus in Osteuropa und der Sowjetunion und ihre Folgen stellten einen schweren Rückschlag für die internationale Arbeiterbewegung dar. War unter diesen Umständen der Aufbau revolutionärer Organisationen möglich?
Organisationen verschiedener internationaler Strömungen zogen die Schlussfolgerung, sich in breitere Organisationen aufzulösen. Die französische LCR (Ligue Comuniste Revolutionnaire, Revolutionär-Kommunistische Liga), die wohl einflussreichste Sektion des VSVI, löste sich im Februar 2009 in der NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste, Neue Antikapitalistische Partei) auf. Ihre ehemaligen Mitglieder gehören heute verschiedene Strömungen, „Positionen“ in der NPA an. In Deutschland erklärte die bisherige IST-Sektion Linksruck im September 2007 ihre Auflösung und die Gründung des Netzwerks Marx 21, das offiziell nicht Mitglied der IST ist und sich nicht als trotzkistisch versteht. Die australische DSP (Demokratisch-Sozialistische Partei) gründete erst mit anderen Linken ein Bündnis namens Sozialistische Allianz. Später wandelte sie sich in eine lockere Strömung Demokratisch-Sozialistische Perspektive um und löste sich im Januar 2010 in der Sozialistischen Allianz auf. Eine Minderheit, der das zu weit ging, wurde 2008 ausgeschlossen.
Auch im CWI gab es 1998 bis 2001 eine Diskussion über die Frage, die sich an der Gründung der Schottischen Sozialistischen Partei (SSP) entzündete. Die schottische CWI-Sektion (Scottish Militant Labour, SML) waren in den Jahren davor die stärkste Kraft in der Schottischen Sozialistischen Allianz (SSA). Jetzt schlugen sie vor, die SSA in eine Partei zu verwandeln, die sie als Übergangs- oder Hybridpartei bezeichneten: weder eine revolutionäre Partei noch eine „breite“ Partei (in der verschiedene ideologische Strömungen mitarbeiten).
Die Führung des britischen Sektion (Socialist Party, SP) und des CWI warnten entschieden davor, SML in eine nichtrevolutionäre Partei aufzulösen. Sie schlugen vor, in jedem Fall eine revolutionäre CWI-Organisation zu erhalten. Entsprechend hatte das CWI die LCR vor der NPA-Gründung mehrfach zur Bildung einer breiten Partei aufgefordert. Leider ließ diese mehrere günstige Gelegenheiten verstreichen. Die französische CWI-Sektion Gauche Révolutionnaire (Revolutionäre Linke) hat sich an der Gründung der NPA beteiligt, sich aber nicht in ihr aufgelöst.
In Irland wurde auf Vorschlag der dortigen CWI-Sektion, Socialist Party, für die Wahlen im Februar 2011 das Vereinigte Linksbündnis (United Left Alliance, ULA) gegründet. Dieses konnte mit fünf Abgeordneten, zwei davon von der Socialist Party, ins Parlament einziehen und stellt hoffentlich die Basis für eine neue breite Arbeiterpartei in Irland dar. Doch auch hier hat die CWI-Sektion ihre eigenen revolutionären Organisationsstrukturen nicht aufgelöst.
In ihrer Kritik der SML-Vorschläge beharrte die Führung der britischen Sektion auf dem Ziel des Aufbaus von revolutionären Massenparteien und einer revolutionären Masseninternationale.
Das ist die historische Erfahrung des 20. Jahrhunderts, in dem die russische Revolution unter Führung der bolschewistischen Partei zur Errichtung einer Rätedemokratie führte (bis die Isolation der Revolution zur stalinistischen Degeneration der Revolution führte), während alle anderen Revolutionen, oft in Ländern mit viel günstigeren objektiven Bedingungen aber ohne eine vergleichbare Partei, auf die eine oder andere Weise in Niederlagen endeten.
Die Notwendigkeit einer revolutionären Partei ergibt sich aus der Spaltung der Arbeiterklasse, in Männer und Frauen, Gelernte und Ungelernte, Junge und Alte, Einheimische und MigrantInnen etc., auf die sich die Kapitalisten mit ihrer Teile-und-Herrsche-Politik stützen. Um diese Spaltungen zu überwinden ist eine revolutionäre Partei notwendig, die durch politische Forderungen und Kampfvorschläge gemeinsame Kämpfe vorantreibt, bis hin zum Sturz des Kapitalismus.
Das CWI hat nie die These Karl Kautskys (die Lenin in „Was Tun“ 1902 vorübergehend übernommen hatte) geteilt, dass die Arbeiterklasse nur ein gewerkschaftliches („trade-unionistisches“) Bewusstsein entwickeln könne, während das revolutionäre Bewusstsein von außen durch bürgerliche Intellektuelle hineingetragen werden müsse. Trotzki hat diese Idee zurückgewiesen. Trotzdem vertreten sie viele, sich als trotzkistisch verstehende Organisationen. Aber die revolutionäre Partei ist nichts der Arbeiterklasse Äußerliches, sondern ihr bewusstester Teil.
Doch auch wenn ArbeiterInnen durch ihre Erfahrungen mit dem Kapitalismus zu revolutionären Schlussfolgerungen kommen können, ist das mit Umwegen und Irrwegen verbunden. Verschiedene Teile der Klasse kommen zu verschiedenen Zeiten zu revolutionären Schlussfolgerungen, stellen fest, dass andere Teile der Klasse das nicht so sehen und verzweifeln an der Möglichkeit, die Mehrheit der Arbeiterklasse für revolutionäre Ideen gewinnen zu können.
Und wir haben nur eine begrenzte Zeit in dem doppelten Sinne, dass objektiv revolutionäre Situationen nicht lange anhalten, sondern in Niederlagen und Konterrevolutionen enden, wenn sie nicht genutzt werden; und in dem Sinne, dass die Menschheit in Barbarei in Form von ökologischen und sozialen Katastrophen und Kriegen versinken wird, wenn noch zu viele revolutionäre Möglichkeiten ungenutzt verstreichen. Deshalb hat eine revolutionäre Partei mit weitsichtiger Führung, die durch ihre Intervention hilft, Radikalisierungsprozesse zu beschleunigen und Irrwege zu vermeiden, eine entscheidende Bedeutung.
Was ist eine revolutionäre Partei?
Da die SML-Führung sich auch zum Ziel einer revolutionären Partei bekannte, entwickelte sich eine ausführliche Diskussion, was darunter zu verstehen ist. Die SP-Führung charakterisierte eine „revolutionäre Partei“ als revolutionäre Organisation, die politisch und organisatorisch unabhängig ist, deren Ziele und Organisationsmethoden auf einer bestimmten Weltanschauung und theoretischen Tradition und einem Programm beruhen. Es ist nicht entscheidend, ob sie eine eigenständige Partei ist oder als organisierte Strömung in einer breiteren Organisation arbeitet.
Ihre Organisationsmethoden wurden traditionell „demokratischer Zentralismus“ genannt. Das bedeutet Wählbarkeit, Verantwortlichkeit und jederzeitige Abwählbarkeit der Führung, vollstmögliche interne demokratische und solidarische Diskussion und Debatte und gemeinsames Umsetzen der gefällten Beschlüsse. Demokratie ist immer unverzichtbar, aber die Gewichtung von Demokratie und Zentralismus kann verschieden sein. Nach der Erfahrung mit dem Stalinismus und angesichts der vielen neuen Fragen, denen MarxistInnen seitdem gegenüber stehen, muss die demokratische Seite im Vordergrund stehen.
Ohne eine solche revolutionäre Organisation ist es auf die Dauer unmöglich, die marxistischen Ideen gegen den Druck der bürgerlichen Gesellschaft und nichtmarxistischer Strömungen zu verteidigen und zugleich weiter zu entwickeln.
Damit eine revolutionäre Organisation funktionieren kann, braucht sie eigene Publikationen (öffentliche Zeitungen oder Zeitschriften oder interne Bulletins), eigene regelmäßige Treffen, eine demokratisch gewählte Führung und eigene Finanzen, je nach Größe auch eigene Hauptamtliche.
Auch für die Mitgliedschaft in der Internationale sind Strukturen wichtig, in denen demokratisch diskutiert und entschieden werden kann. In der Debatte 1998 zeigte sich, dass die SML-Führung die Organisationsstrukturen der schottischen CWI-Organisation massiv aufweichen wollte.
Unter Programm verstand die SP-Führung nicht nur ein Aktionsprogramm oder auch ein Übergangsprogramm. Ein Aktionsprogramm wäre ein aktuelles Kampagneprogramm einer revolutionären Organisation oder ein auf die wichtigsten Ziele beschränktes Programm einer breiteren Partei oder eines Bündnisses. Ein Übergangsprogramm bildet eine Brücke zwischen dem Bewusstsein der Arbeiterklasse und der Notwendigkeit einer Machteroberung durch die Arbeiterklasse. Es enthält zwar wichtige Aspekte eines marxistischen Programms, aber nicht alle.
Ein marxistisches Programm charakterisierte sie als die Verallgemeinerung der Erfahrung des Marxismus und Trotzkismus: es stützt sich auf die Beschlüsse der ersten vier Kongresse der Kommunistischen Internationale, der Linken Opposition, die Gründungsdokumente der Vierten Internationale und die Dokumente des CWI. Als Antwort auf neue Kämpfe und Entwicklungen wird das Programm ständig aktualisiert, diese Aktualisierungen demokratisch diskutiert und beschlossen. Es enthält grundlegende Ziele der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft, eine Strategie der Machteroberung durch die Arbeiterklasse.
Die SML-Führung verwischte den Unterschied zwischen einem Aktionsprogramm, wie es die SSA hatte und es für die SSP vorgesehen war, und einem marxistischen Programm. Sie erweckte auch den Eindruck, dass ein Programm, dessen Forderungen objektiv im Kapitalismus nicht zu verwirklichen sind, revolutionär sei. Aber ein revolutionäres Programm zielt bewusst auf die Überwindung des Kapitalismus ab. Und die formelle Unterstützung eines sozialistischen oder auch revolutionären Programms genügt nicht. In der Geschichte der Arbeiterbewegung hat es schon genug Kräfte gegeben, denen sozialistische und revolutionäre Sonntagsreden leicht von den Lippen gingen, die aber reformistische Politik betrieben, wenn es zu ernsthaften Kämpfen kam.
Als Ziel einer revolutionären Organisation bezeichnete die SP-Führung die Entwicklung von Unterstützung in breiteren Schichten der Arbeiterklasse und den Aufbau einer Kraft marxistischer Kader. Unter Kadern verstand sie Mitglieder, die die Ideen des Marxismus verstehen, auf der Basis seines Programms, seiner Strategie und Taktik selbständig am Klassenkampf teilnehmen, Mitglieder gewinnen und die Organisation aufbauen. Kader bilden den revolutionären Kern der Organisation, um den herum in Phasen von schnellem Wachstum eine größere Massenorganisation aufgebaut werden kann.
Das CWI hat die Gründung der SSP nicht abgelehnt, aber gewarnt, dass die SSP ohne eine starke, gut organisierte CWI-Sektion verschwinden oder sich in reformistische Richtung entwickeln werde. Die SSP hatte kurzfristige Erfolge, 2003 wurden sechs Abgeordnete ins schottische Parlament gewählt. Parallel dazu entfernten sich die Mehrheit der in ISM umbenannten SML immer mehr von den politischen Positionen des CWI, schürten Illusionen in die Umverteilung durch Steuerpolitik oder in die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit eines unabhängigen kapitalistischen Schottlands. Inzwischen hat sich die SSP gespalten und ihre Mitglieder und Wahlunterstützung weitgehend wieder verloren. Gemeinsam mit kämpferischen und auf die Arbeiterklasse orientierten Kräften haben die schottischen CWI-Mitglieder die breite Organisation „Solidarity“ gegründet. Die Warnungen haben sich mehr als bestätigt.
Doppelte Aufgabe und neue Arbeiterparteien
Schon Mitte der 1990er Jahre hatte das CWI aus der Verbürgerlichung der sozialdemokratischen Parteien und dem Rückgang im sozialistischen Bewusstsein in der Arbeiterklasse Schlussfolgerungen für die Aufgaben von MarxistInnen gezogen und das in dem Begriff der doppelten Aufgabe, des „dual task“, zusammengefasst: Neben dem Aufbau der revolutionären Partei ist auch die Rehabilitierung und Popularisierung sozialistischer Ideen notwendig und der Aufbau neuer Arbeiterparteien.
In diesem Sinne hat das CWI ständig versucht, die konkrete Kampagnenarbeit und den Aufbau neuer linker Parteien mit der Vermittlung einer Vision von einer sozialistischen Gesellschaft zu verbinden. Das brachte es in Konflikt mit anderen trotzkistischen Strömungen, zum Beispiel in der WASG in Deutschland mit Linksruck, die es ablehnten für die WASG eine sozialistisches Programm vorzuschlagen, weil das aus ihrer Sicht nicht dem Bewusstsein der Arbeiterklasse entsprach. Ebenso hat die irische Socialist Workers" Party (SWP) in dem Vereinigten Linksbündnis darauf bestanden, dass dieses keinen sozialistischen Charakter erhielt.
Das CWI hat aus der Verbürgerlichung der Sozialdemokratie die Schlussfolgerung gezogen, dass der Aufbau neuer Arbeiterparteien notwendig ist. Darunter werden Parteien verstanden, die die Klasseninteressen der arbeitenden Bevölkerung vertreten, alle Maßnahmen des Sozial- und Lohnabbaus bekämpfen, verschiedene Schichten von AktivistInnen aus Gewerkschaften und linken Gruppen zusammen bringen und ein Forum zur Debatte über eine Strategie zur Abschaffung des Kapitalismus bieten.
Da fast keine andere trotzkistische Organisation diese Analyse teilte, hat niemand sonst so konsequent diese Idee propagiert. Unser Ziel ist dabei keine Neuauflage der Sozialdemokratie mit ihren Fehlern (die schließlich zu ihrer Verwandlung in neoliberale kapitalistische Parteien führte). Aber das Wiederentstehen von Parteien, die die grundlegenden Interessen der ArbeiterInnen (einschließlich, Arbeitslosen, RentnerInnen, Jugendlichen etc.) vertreten, in denen diese gemeinsam politische Fragen diskutieren und sich in diesen Diskussionen radikalisieren können, wäre ein Fortschritt.
Dabei wäre es beim aktuellen Bewusstseinsstand eine unnötige Hürde, für eine revolutionäre Partei einzutreten und auch falsch, ein Bekenntnis zum Sozialismus zur Bedingung für die Teilnahme von MarxistInnen an einer solchen Partei zu machen. Aber darauf zu verzichten für ein sozialistisches Programm zu argumentieren, ist ebenso falsch und bedeutet Verzicht darauf, das Bewusstsein weiter zu entwickeln.
Der Kampf für Reformen ist nicht gleichbedeutend mit Reformismus. Reformismus bedeutet die Vorstellung, dass entweder im Rahmen des Kapitalismus Reformen dauerhaft möglich sind, oder dass man mit Reformen schrittweise zum Sozialismus gelangen könne. Wie Rosa Luxemburg schon 1899 erklärte, sind RevolutionärInnen die besten KämpferInnen für Reformen, nicht weil diese die objektiven Voraussetzungen für den Sozialismus schaffen würden, sondern weil sie die subjektiven Voraussetzungen schaffen, indem sich im Kampf für Reformen das Bewusstsein, die Kampferfahrung, die Organisiertheit der ArbeiterInnen erhöht. Eine breite Partei mit einem Aktionsprogramm für Reformen, in der zugleich eine demokratische Diskussion über die Bedeutung dieser Reformen stattfindet, wäre keine reformistische Partei.
Illusionen in Reformen sind ein Durchgangsstadium im Bewusstsein der Massen, an deren Überwindung MarxistInnen arbeiten müssen, auch wenn sie keine materielle Grundlage mehr haben (da der Kapitalismus keine Spielräume für dauerhafte Reformen hat) und eine schwächere organisatorische Grundlage (in Gestalt reformistischer Parteien). Das macht die Überwindung des Reformismus vielleicht leichter, aber nicht überflüssig. Denn normalerweise versuchen Menschen erst den scheinbar leichteren Weg, versuchen ihre unmittelbaren Probleme zu lösen, durch Reformen grundsätzliche Verbesserungen zu erreichen, bevor sie zu revolutionären Schlussfolgerungen kommen. Revolutionäre müssen mithelfen, damit sich diese Hoffnungen in Reformen möglichst wenig zu einer reformistische Ideologie verfestigen und entsprechenden organisatorischen Niederschlag finden. Je mehr das passiert, desto mehr verfestigt sich ein Durchgangsstadium zu revolutionären Schlussfolgerungen zu einer Barriere.
Allerdings hat die Arbeiterbewegung zur Zeit eher das umgekehrte Problem: Formationen wie die PRC in Italien, Syriza in Griechenland, die Sozialistische Partei in den Niederlanden oder die NPA in Frankreich sind sehr instabil. Die ArbeiterInnen sind ihnen gegenüber viel unnachsichtiger als gegenüber den ehemaligen traditionellen Arbeiterparteien und kehren ihnen bei (im Vergleich zu dem gigantischen Sündenregister dieser traditionellen Parteien) kleinen Fehlern den Rücken. Der oben beschriebene Kollaps der schottischen SSP war zwar besonders dramatisch, aber auch andere linke Parteien haben sich nach Rechts entwickelt oder sind in Krisen geraten (zum Beispiel die Sozialistische Partei in den Niederlanden oder Syriza in Griechenland). Die Euphorie, die das VSVI oder die IST gegenüber solchen Organisationen zeigten, hat sich als voreilig erwiesen. Das zeigt die Dringlichkeit, innerhalb solcher breiter Parteien revolutionäre Organisationen aufzubauen, die dafür kämpfen, dass diese Parteien opportunistische Fehler möglichst vermeiden.
Was für eine Internationale?
Das VSVI gab ausdrücklich den Anspruch auf, eine „Weltpartei der sozialistischen Revolution“ aufzubauen. Das CWI hält an der Idee fest, eine international handlungsfähige und auf Übereinstimmung in grundsätzlichen programmatischen und methodischen Fragen agierende internationale Organisation aufzubauen. Wichtige Diskussionen, Schlüsselfragen in einzelnen Sektionen gehen die ganze Internationale an. Von diesem Erfahrungsaustausch profitieren alle Seiten. Meinungsverschiedenheiten werden international und demokratisch diskutiert. Dabei werden keine bürokratischen Maßnahmen gegen Mitglieder angewendet, die Minderheitsmeinungen vertreten, aber die Position der Internationale wird beschlossen und deutlich gemacht. So ist das CWI zum Beispiel in der angesprochenen Auseinandersetzung in Schottland verfahren, wo die Mehrheit der schottischen CWI-Mitglieder nach der Gründung der SSP sich der Fortsetzung der Debatte durch ihren Austritt aus dem CWI entzogen haben.
Das Vorgehen des CWI in Schottland unterscheidet sich deutlich von den Verhältnissen im VSVI: Als 2002 in Braslien Lula zum Präsidenten gewählt wurde, nahmen führende Vertreter der brasilianischen VSVI-Sektion an seiner Regierung teil und setzten sich zusammen mit bürgerlichen Politikern an den Kabinettstisch. Auf dem 15. VSVI-Weltkongress 2003 soll es leidenschaftliche Debatten über die Lage in Brasilien gegeben haben, die veröffentlichten Resolutionen des Kongresses waren aber in dieser Frage nichtssagend. Nachdem die brasilianischen Delegierten versprochen hatten, dass das Eingreifen der Massenbewegung im Zentrum ihres Kurses stehe und sie gemeinsam mit der übrigen PT-Linken die Anpassung an den Imperialismus bekämpfen wollten, spalteten sie sich: ein Teil wurde aus der PT ausgeschlossen und gründete (gemeinsam mit der CWI-Sektion und anderen Linken die P-SOL), ein Teil blieb in der PT und der Regierung. Das VSVI erkannte beide Gruppen als Sektionen an. Nachdem die internationale Führung es jahrelang abgelehnt hatte zu führen und politisch Position zu beziehen, distanzierten sie sich schließlich von der in der Lula-Regierung verbliebenen Gruppe und schloss sie inzwischen aus. Nach eigenen Angaben haben sie auf diese Weise rund 3.000 Mitglieder in Brasilien verloren.
Zusammenfassend kann man sagen, dass das CWI die neue Weltlage nach 1989 besser und mit weniger politischen Fehlern verarbeitet hat, als andere trotzkistische Strömungen und das Erbe der Ideen Trotzkis und der Vierten Internationale verteidigt. Der Aufbau einer revolutionären, marxistischen Masseninternationale wird zweifelsfrei auch Umgruppierungen und Zusammenschlüsse verschiedener trotzkistischer und anderer sozialistischer Strömungen beinhalten. Das CWI hat in den 1990er Jahren mit allen relevanten trotzkistischen Strömungen Debatten geführt und geprüft, ob ein Zusammengehen möglich war. Dies scheiterte in den meisten Fällen an gewichtigen politischen und methodischen Differenzen, wovon einige in diesem Artikel dargestellt sind. Vor allem aber werden ArbeiterInnen und Jugendliche den Weg zum revolutionären Marxismus finden, die neu in den Kampf eintreten. Das CWI ist gut positioniert, um diese für den Marxismus zu gewinnen und in den kommenden Jahren quantitativ und qualitativ zu wachsen.