Zu den Hintergründen und der Entstehung des libyschen Regimes
Die revolutionäre Welle der arabischen Welt hat binnen weniger Wochen in Ägypten und Tunesien Diktatoren hinweggefegt, die mehrere Jahrzehnte fest im Sattel saßen. Durch das entschlossene Handeln der Massen wurde der Mehrheit der Bevölkerung im Westen bekannt, dass die Bündnis- und Handelspartner der US- und der EU-Imperialisten in dieser Region allesamt korrupte Despoten sind, die jahrzehntelang im Interesse der Profite mit eiserner Hand geherrscht haben.
von Sascha Wiesenmüller, Aachen
Inzwischen hat die Revolution auch das Land Gaddafis erreicht, den letzten an der Idee des arabischen Nationalismus beziehungsweise am „arabischen Sozialismus“ festhaltenden Staat.
Bürgerkrieg
Die Krise des Kapitalismus hat alle Länder des arabischen Raums in eine nahezu hoffnungslose Lage gestürzt und bestehende Probleme noch verschlimmert. Massenarmut, (Jugend-)Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit prägen überall das Bild. Das Libyen von „Revolutionsführer“ Muammar al Gaddafi sah während der Kämpfe in Tunesien und Ägypten zunächst stabiler aus (Libyen liegt geografisch genau zwischen diesen beiden nordafrikanischen Ländern und hat eine Bevölkerung von 6,5 Millionen Menschen). Das Regime versuchte mit sozialen Zugeständnissen, dem Unmut der Bevölkerung den Wind aus den Segeln zu nehmen. So verfügte Gaddafi die Abschaffung aller Steuern. Doch das konnte den Ausbruch der aufgestauten Wut nicht bremsen. Nachdem Gaddafis Freunde Ben Ali und Husni Mubarak gestürzt wurden, wankt auch die Macht des Despoten aus Tripolis.
Informationssperren und Verschleierungsversuche der libyschen Staatsmacht können nicht darüber hinwegtäuschen, dass mehrere Städte in die Hände der Aufständischen fielen, während die Schergen Gaddafis, verstärkt durch aus diversen afrikanischen Ländern angeheuerte Söldner, an ihnen wahre Blutbäder anrichten. Erinnerungen an den Sturz Nicolae Ceaucescus in Rumänien im Dezember 1989 werden wach. Die sich an der Macht klammernde herrschende Clique hat selbst den Weg des Bürgerkriegs gewählt.
Orwellsche Sprachverwirrung
Das Regime, das gegenwärtig wild um sich schlägt, wirkt beim ersten Hinsehen etwas verwirrend: Libyen bezeichnet sich auch heute noch als „sozialistisch“ und wird angeblich von einer „direkten Volksmacht“ auf „basisdemokratische“ Weise durch „Volkskomitees“ regiert. Der Despot nennt sich „Revolutionsführer“ und beansprucht, Gralshüter einer arabischen Sozialismus-Variante zu sein. Bürgerliche Medien greifen diese Selbstbezeichnungen natürlich gerne auf, um Revolution und Sozialismus erneut zu diskreditieren.
Doch tatsächlich ist die libysche Selbstdarstellung Sprachverwirrung á la George Orwells Roman „1984“: Die „Volksmacht“ ist getarnte Willkür einer kleinen Armee-Clique, der „Sozialismus“ bürgerlicher Nationalismus. Nun ist die Entstellung dessen, was Sozialismus ist, nicht neu. In der Sowjetunion seit Stalin und der DDR konnten wir ebenfalls bürokratische Diktaturen erleben, die sich selbst sozialistisch nannten. Doch im Gegensatz zu Libyen war dort der Kapitalismus tatsächlich abgeschafft – auch wenn man keineswegs von Sozialismus sprechen konnte.
Koloniale Revolution
Trotzki stellte in seiner Theorie der „Permanenten Revolution“ fest, dass die Bourgeoisie, die Kapitalistenklasse, in Ländern mit „verspäteter Entwicklung“ (das heißt da, wo die Aufgaben einer bürgerlichen Revolution wie Landreform, Beseitigung feudaler Verhältnisse, Industrialisierung Anfang des 20. Jahrhunderts – zurzeit der Herausbildung des Imperialismus – noch nicht erfüllt waren) unfähig ist, eine revolutionäre Rolle zu spielen. Sie ist zu schwach und zudem abhängig vom Imperialismus und aufs engste mit dem Großgrundbesitz verbunden.
Daher können die Aufgaben dieser Revolution nur durch die Arbeiterklasse, unterstützt von den unterdrückten Landmassen, gelöst werden, die über den Rahmen der bürgerlichen Revolution hinausgeht und zu sozialistischen Aufgaben übergeht. Die bürgerliche Revolution würde danach direkt, „permanent“ in die proletarische übergehen. Die Machteroberung der Arbeiterklasse 1917 in Russland bestätigte die Richtigkeit dieser Theorie.
In der kolonialen Welt nach 1945 (am Ende des Zweiten Weltkriegs waren noch fast ganz Afrika, große Teile Asiens und Gebiete Lateinamerikas Kolonien) waren die Bourgeoisien extrem schwach. In diesen Ländern der so genannten „Dritten Welt“ zeigte sich deutlich, dass keine der nach der Unabhängigkeit von den Kolonialmächten an die Macht gekommenen pro-kapitalistischen Regierungscliquen fähig war, die drängendsten Probleme der Massen auch nur ansatzweise zu lösen. Die Schwäche der Bourgeoisie dieser Länder führte in einigen Staaten zu einer relativen Unabhängigkeit der Militärkaste.
Der Staat
Nicht nur in einer Diktatur, auch in der bürgerlichen Demokratie fungiert der Staat als Unterdrückungsinstrument in den Händen der Kapitalisten. Er dient dazu, dass die ökonomisch Herrschenden auch die politisch Herrschenden sind. Die bürgerlich-parlamentarische Demokratie ist für das Kapital die billigste Regierungsform. Aber sie ist nicht immer brauchbar. Wenn die gesellschaftlichen Konflikte zu groß sind, dann „brennen die Sicherungen“ der Demokratie durch. Die wirtschaftlich Herrschenden sehen sich gezwungen, die Macht zu konzentrieren, um sie gebündelt gegen die rebellierenden Massen einsetzen zu können. Oft treten sie dann die politische Herrschaft an einen verselbstständigten Staatsapparat ab – der in besonders turbulenten Zeiten kein allzu verlässliches Instrument der ökonomisch herrschenden Klasse ist. Ausdruck davon sind häufige Militärputsche oder Staatsstreiche.
Der Kampf der diversen Cliquen innerhalb der Armee repräsentiert und reflektiert in verzerrter Weise den Klassenwiderspruch in der Gesellschaft. Und dies kann auch gar nicht anders sein, da das Militär im Produktionsprozess keine unabhängige Rolle spielt. So muss jeder Teil der Militärkaste sich notwendigerweise in seinen persönlichen Machtkämpfen auf eine gesellschaftliche Klasse stützen.
Bonapartismus
Karl Marx nannte autoritäre Regime, die sich scheinbar über den Klassen erheben, um in einem bestimmten Kräftverhältnis – wenn sich die feindlich gegenüberstehenden Hauptklassen quasi neutralisieren – die Geschäfte der ökonomisch herrschenden Klasse zu erfüllen, „bonapartistisch“, nach Louis Bonaparte, dem späteren Kaiser Napoléon III. von Frankreich. Schließlich schwang sich Napoléon nach der Französischen Revolution von 1789 zum Alleinherrscher auf, machte viele Maßnahmen der Revolutionäre rückgängig – ohne dabei jedoch die alten feudalen Verhältnisse wieder zu restaurieren. Die durch die Revolution geschaffenen Grundlagen für eine kapitalistische Entwicklung blieben unter Napoléon bestehen.
Trotzki griff diese Bezeichnung später auf, um die stalinistische Sowjetunion als eine „proletarische“ Form von „Bonapartismus“ zu charakterisieren: Die ökonomische Grundlage war in Russland nach der Oktoberrevolution 1917 nicht mehr kapitalistisch, die Arbeiterklasse war die ökonomisch herrschende Klasse (in der Wirtschaft dominierten Staatseigentum, staatliches Außenhandelsmonopol und, mit Verzögerung, Fünf-Jahres-Pläne). Aber politisch wurde sie unter Stalin völlig unterdrückt und machtlos.
Bonapartistische Regime schweben nicht in der Luft, sondern schwanken zwischen den Klassen. In letzter Instanz aber repräsentieren sie die jeweils herrschende Klasse.
Wo sich sowohl die Arbeiterklasse als auch die Bourgeoisie zu schwach erweist, die Macht zu ergreifen, können Militärs ins Vakuum stoßen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Sowjetunion gestärkt, in weiten Teilen Osteuropas, aber auch in China wurde der Kapitalismus abgeschafft. Die beachtlichen Erfolge dieser nicht-kapitalistischen Staaten, die hohe Wachstumsraten verzeichneten und das Gesundheits- und Bildungswesen auf Basis von Planwirtschaften, verglichen mit der vorherigen katastrophalen Lage unter kapitalistischen Verhältnissen, rasant entwickelten, war anziehend für viele bonapartistische Führer der „Dritten Welt“. Eine Planwirtschaft nach stalinistischem Vorbild erschien als ein attraktiver Weg zu nationaler Unabhängigkeit und Wohlstand.
Unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz, durch das Bestehen „deformierter Arbeiterstaaten“, wechselten viele Militärs und andere bonapartistische Führer zum „Sozialismus“ stalinistischer Prägung. Nach 1945 gab es mehrere Beispiele für solche Staaten: Nordkorea, Südjemen, erst Nord-, später auch Süd-Vietnam und einige andere. Es waren allesamt monströse Karikaturen auf den Sozialismus.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wandelten sich diese wieder in kapitalistische Staaten um. Die bürokratische, bonapartistische Kaste entpuppte sich dabei als treibende Kraft dieser Rückentwicklung.
Besondere Lage im arabischen Raum
In den arabischen Ländern gab es zwei Besonderheiten, die für das Verständnis des Verlaufs der kolonialen Revolution dort von Bedeutung sind:
Erstens stellte sich die nationale Frage dort in besonderer Form. Denn die arabische Nation, das heißt der arabischsprachige Raum war in 20 Staaten, deren Grenzen von den Kolonialmächten künstlich gezogen wurden, gespalten. Es kam darauf an, sie zu einen. Eine Aufgabe, die bis heute nicht gelöst worden ist.
Zweitens war der Stalinismus dort besonders diskreditiert. Die Kommunistischen Parteien, die zeitweise großen Einfluss im arabischen Raum hatten, galten als Saboteure des antikolonialen Befreiungskampfes. Da die Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs auf der Seite der Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien stand, wirkten sie auf ihre Parteien in Nordafrika und im Nahen Osten ein, die Verbündeten nicht zu schwächen (ein Großteil der dortigen Länder war in dieser Zeit von Großbritannien besetzt). Darum wurden viele der Befreiungsbewegungen dort nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von bürgerlichen Nationalisten geführt – die sich ebenfalls diskreditierten. Oft unterstützten die KPen auch vermeintlich „fortschrittliche“ bürgerliche Kräfte. Die Folge davon war, dass kleinbürgerliche panarabisch-nationalistische Ideologien ungemeine Popularität erlangten.
Vorbild Nasser
Ein Beispiel für ein solches kleinbürgerlich-nationalistisches Regime war das von Gamal Abdel Nasser in Ägypten. Der von ihm angeführte „Bund Freier Offiziere“ stürzte in den Fünfzigern den im Auftrag des britischen Imperialismus regierenden König und übernahm fortan die Macht. Nasser und seine AnhängerInnen nannten sich „arabische Sozialisten“. Ihr Ziel war es jedoch nicht, den Kapitalismus zu stürzen, sondern lediglich ihn radikal zu reformieren. Ihr Ziel war hauptsächlich nationale Unabhängigkeit und die staatliche Einheit aller AraberInnen. Verstaatlichungsmaßnahmen und eine Landreform gingen einher mit der Zerschlagung jeder unabhängigen Organisierung der Arbeiterklasse und armen BäuerInnen. Als Nasser 1952 an die Macht gelangte, ließ er zugleich Streiks niederschlagen und Streikführer hinrichten. Nasser verstaatlichte den Suez-Kanal und führte eine Landreform durch. Er verstaatlichte Banken, Versicherungen und Schlüsselindustrien. Diese Maßnahmen führten zum Konflikt mit dem Imperialismus und in die außenpolitische Nähe zur UdSSR. Dennoch ging das Regime Nassers den Weg nicht zu Ende und versuchte weiter, in typisch bonapartistischer Weise zwischen den Klassen und zwischen Arbeiterbewegung und reaktionären islamistischen Kräften wie der (1928 gegründeten) Muslimbruderschaft zu lavieren. Dabei ging Nasser sowohl gegen die herrschende Klasse als auch gegen die Arbeiterklasse vor, wenn diese ihm zu weit ging. Auf eine vollständige Beseitigung des Kapitalismus verzichtete er. Der Einfluss der Sowjetbürokratie, die die „Koexistenz“ mit dem Imperialismus nicht aufs Spiel setzen wollte, tat einiges dazu, dass der Nasserismus letztlich in einer Sackgasse endete. Als Nasser mit der Errichtung eines stalinistischen Staates liebäugelte, schickten die Kreml-Bürokratie ihren damaligen Staatspräsidenten Nikolai Podgorny, der Nasser von diesem Schritt abriet. Unter Nassers Nachfolgern Anwar as-Sadat und Mubarak schlug Ägypten einen neoliberalen Weg der Reprivatisierungen ein und orientierte sich wieder am „Westen“.
Libyen nach der „Unabhängigkeit“
Wie weit kleinbürgerlich-bonapartistische Regime arabisch-nationalistischer Richtung gehen können, zeigt das Beispiel Libyens unter Gaddafi.
Libyen war bis Ende des Zweiten Weltkriegs italienische Kolonie, stand dann bis 1953 unter britischer und französischer Verwaltung und wurde erst danach formal unabhängig. Doch diese Unabhängigkeit bestand nur auf dem Papier. Faktisch wurde Libyen von den Banken und Konzernen der ehemaligen Kolonialmächte beherrscht.
Regiert wurde Libyen von einem absoluten Monarchen, König Idris. Feudale Strukturen (Großgrundbesitzer, Stammesscheichs) herrschten vor. Die knapp fünf Millionen Menschen lebten in den wenigen, nicht von Wüste eingenommenen Abschnitten. Eine nationale Bourgeoisie war kaum vorhanden – ausländisches Kapital bestimmte die Wirtschaft.
Die Fünfziger Jahre aber brachten Libyen einen enormen Wirtschaftsaufschwung. Durch die ab 1959 einsetzende Erdölförderung wurde es von einem der ärmsten Länder schnell zu einem wohlhabenden Staat der OPEC (die Organisation erdölexportierender Länder). Verdiente der libysche Staat 1962 noch 86 Millionen Dollar durch den Rohölexport, so waren es 1969 bereits 126 Millionen Dollar.
Doch davon profitierten neben den europäischen Ölkonzernen nur einige wenige Angehörige der kleinen reichen Oberschicht. Für die Mehrheit der LibyerInnen blieb die soziale Lage katastrophal: In den sechziger Jahren waren noch 90 Prozent der Bevölkerung AnalphabetInnen. Armut und Unterentwicklung beherrschten den Alltag der libyschen Massen. Der entstehende Unmut entlud sich in Streiks, sozialen Unruhen und Studentenprotesten. Doch es fehlte eine revolutionäre Führung mit einem sozialistischen Programm.
In der Armee (vor allem in den unteren und mittleren Offiziersrängen) gab es massive Unzufriedenheit. Dort gewannen panarabisch-nationalistische, an Nasser orientierte Vorstellungen an Einfluss.
Gaddafis „Revolution“
In dieser Atmosphäre brachte 1969 ein Putsch eine Gruppe von Offizieren unter der Führung von Gaddafi an die Macht. Ein zwölf-köpfiger „Revolutionärer Kommandorat“ aus Offizieren regierte von da an. Ihre Losung „Freiheit, Einheit, Sozialismus“ ließ viele Linke glauben, dass dort tatsächlich ein „sozialistisches“ System errichtet wurde. Tatsächlich orientierte sich Gaddafis „islamischer Sozialismus“ an der Idee Nassers, einen nationalistischen „dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu finden . Gaddafi grenzte seine Ideen streng vom Marxismus ab.
Gaddafis Ideologie, die er Mitte der siebziger Jahre im sogenannten „Grünen Buch“ niederschrieb, lehnte eine bewusste Orientierung auf die Arbeiterklasse ab. Das Volk („jamahir“) wird nämlich in ihr als eine Einheit verstanden. Klassen gibt es in ihm angeblich nicht. So bezeichnet Gaddafi den Klassenkampf und eine Orientierung darauf folgerichtig als „künstliche Spaltung“. Ausgehend davon wurden Parteien und Gewerkschaften verboten. Streiks wurden, wo sie vorkamen, vom Gaddafi-Regime unterdrückt.
Eine von Gaddafi geschaffene Einheitspartei ASU (Arabische Soziale Union) bildete mit ihrer Bürokratie zusammen mit der Armee die eigentliche Stütze von Gaddafis Herrschaft. Ab 1979 trug Gaddafi den Titel „Revolutionsführer“. Er hat formal kein richtiges Amt, ist also weder Präsident, noch Minister oder etwas dergleichen. Seine Rolle im Staat ist nur die eines „weisen Beraters“ und die eines „ideologischen Wegweisers“, was praktisch nichts anderes bedeutet, als dass er außerhalb aller Gesetze und fernab von jeglicher Kontrolle und Wählbarkeit des Volkes („jamahir“) und ohne Rechenschaftspflicht handeln kann. Er ist somit unabsetzbar. Unter anderem gegen diese selbstherrliche Machtfülle richtet sich gegenwärtig die Aufstandsbewegung.
„Islamischer Sozialismus“
Die ersten Maßnahmen des Gaddafi-Regimes waren „national-revolutionär“ und entsprachen im Wesentlichen denen des kleinbürgerlichen Nasser-Regimes in Ägypten: Man schloss die Militärbasen der Imperialisten, der ehemaligen Kolonialmächte, wies 1970 die letzten noch aus der Kolonialzeit stammenden italienischen Siedler aus und begann im selben Jahr mit der Verstaatlichung der ausländischen Unternehmen und Banken. Die Verstaatlichung der Ölindustrie 1973 erwies sich dabei als bedeutendster Schritt: Libyen wurde dadurch in kürzester Zeit wohlhabend und die Maßnahmen waren entsprechend populär. Der Lebenstandard der LibyerInnen war der höchste in Afrika und entsprach dem anderer arabischer Ölstaaten. Betrug das Pro-Kopf-Einkommen 1961 noch 50 Dollar, waren es 1971 1.700 Dollar. Durch die staatliche Verfügung über die Ölquellen gelang es dem Regime in der Folgezeit, eine für diese Region außergewöhnliches Sozialsystem aufzubauen, welches kostenlose Bildung ebenso umfasste wie ein kostenloses Gesundheitssystem. Die Analphabetenrate sank allein im Laufe der siebziger Jahre von 90 auf 20 Prozent. Zudem investierte der Staat viel Geld in den öffentlichen Wohnungsbau. Gaddafis erklärtes Ziel war es, alle LibyerInnen zu EigentümerInnen ihres Hauses und ihrer Wohnung zu machen. Zeitweise kam Libyen dem sehr nahe.
Der „islamische Sozialismus“ auf arabisch-nationalistischer Grundlage führte aber auch zu einer reaktionären Kulturpolitik und zur Unterdrückung nationaler Minderheiten. Gaddafi forderte eine Rückkehr zur traditionellen arabischen Lebensweise. Die staatliche Förderung traditioneller arabischer Musik und Kleidung waren da noch der harmlosere Teil. Einher gingen diese Maßnahmen mit einer rigorosen Arabisierungspolitik (worunter besonders die Minderheiten der Berber und Tuareg zu leiden hatten) und mit der Verfolgung „unarabischer“ Lebensweisen. Homosexuellen wurden verfolgt und inhaftiert. Gaddafi erklärte den Islam zur „Grundlage aller Gesetze“, was später zur Einführung der Scharia führte.
Andererseits beschäftigte das Regime vermehrt Frauen auf den Gebieten des Bildungswesens, in der Wirtschaft und in der Armee.
Das libysche Regime, welches sich mal als „panarabisch“, mal als „panafrikanisch“ verstand, verfolgte – seinem nationalistischen Charakter entsprechend – nie eine internationalistische außenpolitische Linie und eine Orientierung auf die Kämpfe der Arbeiterklasse. Vor dem Hintergrund mag es auch nicht verwundern, dass Gaddafi im Jahre 1978 – also als er sich noch als „Sozialist“ und „Anti-Imperialist“ gab – vom Bundesnachrichtendienst (BND) Hilfe bei der Ausbildung von Elitesoldaten bekam.
„Produzentenrevolution“ und „Volksmacht“
Mitte der siebziger Jahre verschwand Gaddafi für eine Zeit aus der Öffentlichkeit. Es sieht so aus, als wäre ein Machtkampf in der Regierungsclique ausgebrochen. Nach seiner erfolgreichen Rückkehr in die Öffentlichkeit verkündete er die sogenannte „Produzentenrevolution“. Nach dieser sollte der „sozialistische“ Teil seiner Ideologie verwirklicht werden.
Die Verstaatlichung der libyschen Wirtschaft wurde vorangetrieben. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung befanden sich 90 Prozent der Volkswirtschaft in Staatseigentum. Das bis heute noch vorherrschende Staatseigentum erweist sich aber beim näheren Hinsehen vor allem als Selbstbedienungsladen für den Gaddafi-Clan und andere mit ihm verfilzte Familien. Einige glaubhaften Schätzungen zufolge beträgt das Privatvermögen des „Revolutionsführers“ bis zu 150 Milliarden Euro.
Im ganzen Land wurden sogenannte „Volkskomitees“ gegründet, in die 1976 auch die Einheitspartei ASU eingegliedert wurde. Diese sollten – der Theorie nach – Organe zur direkten demokratischen Machtausübung der Massen sein. In Schulen, Unis, Wohnbezirken und Betrieben wurden diese „Volkskomitees“ einberufen. Dies verleitete viele Linke dazu, sie irrtümlich mit Räten gleichzusetzen.
Doch tatsächlich sind die Massen innerhalb dieser (bis heute existierenden) „Volkskomitees“ völlig atomisiert. Die ArbeiterInnen dürfen sich nicht gewerkschaftlich organisieren und auch keine eigenen Parteien bilden. Entscheidungen stehen ausschließlich der Führung zu – und das ist der „Revolutionsführer“ Gaddafi selbst beziehungsweise einer seiner Söhne und Familienangehörigen!
Um auch ganz auf Nummer sicher zu gehen, dass aus den „Volkskomitees“ nicht doch eine Art der Selbstorganisation der Arbeiterklasse wird, gibt es daneben noch die elitären „Revolutionskomitees“, die aus besonders treuen Gaddafi-Anhänger gebildet werden und den Staat vor „Feinden“ schützen sollen. Diese spielen mit ihren bewaffneten Milizen momentan eine Hauptrolle bei der militärischen Repression gegen die Aufstandsbewegung.
Gaddafi verkündete, dass mit der „Produzentenrevolution“ und der „Volksmacht“ Lohnarbeit, Ausbeutung und Unterdrückung beseitigt würden. Doch tatsächlich entstand nur ein diktatorisches bonapartistisches Regime, welches zwischen den Klassen lavierte, ein Kapitalismus mit weitgehender Verstaatlichung. Die kleine einheimische Bourgeoisie, die traditionell unbedeutend war, blieb weiterhin bestehen und sicherte sich Führungspositionen im Staat.
Auf Grund seiner Gewinne aus dem Ölexport konnte sich Libyen einen gut ausgebauten Wohlfahrtsstaat leisten. Dieser galt aber längst nicht für alle im Land lebenden Menschen. Während Libyens ökonomischer Blütezeit wurden zehntausende Arbeitsmigranten aus Afrika und dem arabischen Raum ins Land geholt, die die schweren und schlecht bezahlten Arbeiten machen mussten und völlig rechtlos waren.
Trotz der weitgehenden Verstaatlichungen wurde der Kapitalismus nicht beseitigt. Einen gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftsplan gab es nicht. Dies zeigt, dass man einen (deformierten) Arbeiterstaat nicht am Grad der Verstaatlichung ausmachen kann. Selbst in einem kapitalistischen Land wie Israel befanden sich zeitweise 70-80 Prozent der Rohstoffförderung und der Großbetriebe in staatlicher Hand.
Neoliberale Wende
90 Prozent der Staatseinnahmen Libyens hingen (und hängen noch) vom Erdöl ab. Entsprechend abhängig von den weltweiten Rohölpreisen war die libysche Wirtschaft. Dies machte sich schon Anfang der Achtziger negativ bemerkbar. Mit dem Beginn des ersten Golfkriegs, zwischen Iran und Irak, kam es zu einem Einbruch bei den Rohölpreisen. Libyens Einnahmen aus dem Ölhandel sanken ins Bodenlose: Lagen sie 1980 noch bei 23 Milliarden Dollar im Jahr, so lagen sie schon 1983 bei nur noch 14 Milliarden. 1985 war mit neun Milliarden Dollar der absolute Tiefpunkt.
Das Gaddafi-Regime reagierte darauf mit einem Abbau der sozialen Leistungen. So wurden 1984 (vorübergehend) die Elementarschulen geschlossen, was als „revolutionäre Maßnahme“ bezeichnet wurde. Mütter mussten ihre Kinder somit selbst unterrichten. Die Bedeutung der Familie im Islam und nach der Ideologie des „Grünen Buches“ wurde dabei vom Regime im besonderen Maße beschworen. Gaddafis bonapartistische Diktatur erwies sich in theoretischen Fragen immer als sehr pragmatisch und flexibel.
Darüber hinaus versuchte Gaddafi mit außenpolitischen Abenteuern von der inneren Krise abzulenken. Man stürzte sich in einen Krieg mit Frankreich um die Kontrolle über Libyens südliches Nachbarland Tschad (1983-87), begann islamische Missionare in zahlreiche afrikanische Länder zu schicken und unterstützte die unterschiedlichsten und diffusesten politischen Bewegungen und einige terroristische Gruppen. Gleichzeitig pflegte das Regime gute Beziehungen zu westlichen Investoren, vor allem aus Deutschland. Deutsche Konzerne spielten eine große Rolle beim Aufbau der libyschen Giftgasproduktion.
Die wirtschaftliche Krise verschärfte sich ab 1986 durch die Verhängung eines UNO-Embargos, das im Gefolge der Bombardierung der Hauptstadt Libyens auf Druck des US-Imperialismus zustande kam. Doch die sich wieder stabilisierenden Ölpreise federten die ökonomischen und sozialen Folgen ab. Dennoch ging der pro-marktwirtschaftliche und neoliberale Kurs weiter.
Seit Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger wurden zahlreiche Bereiche der Wirtschaft privatisiert. Eine neoliberale Reform nach der anderen wurde gestartet. Die völlig atomisierte und durch Pseudo-„Volksmacht“ und „Revolutionskomitees“ ins System eingebundene und in Schach gehaltene Arbeiterklasse musste diese zähneknirschend hinnehmen. Die privatisierten Betriebe und Handelsgesellschaften verwandelten sich dabei vielfach in Privatbesitz des Gaddafi-Clans und bedeutender regimetreuer Familien.
Die Islamisten begannen sich als einzige Opposition zu profilieren und wurden mit massiver staatlicher Repression bekämpft. Um der in den Neunzigern immer stärker werdenden Opposition von Rechts durch die Islamisten das Wasser abzugraben, vollzog Gaddafi selbst eine Wende hin zu islamistischen Positionen. 1994 führte er die uneingeschränkte Scharia ein. So wird heute jemandem, der ein Brot klaut, die Hand abgehackt und wegen Ehebruchs wird man in Libyen öffentlich mit 100 Peitschenhieben bestraft. 1997 wurde ein „Ehrenkodex“-Gesetz eingeführt. Kinder können demnach für die Vergehen ihrer Eltern bestraft werden und es gibt eine Art „Sippenhaft“.
Für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme machte das libysche Regime zunehmend die im Land lebenden MigrantInnen verantwortlich. 1993-95 wurden Zehntausende von ihnen aus Libyen ausgewiesen. Im 21. Jahrhundert verhandelte Gaddafi mit den Ministern der EU über die Errichtung von Lagern für Flüchtlinge auf libyschem Territorium. Mit rechten Politikern wie Silvio Berlusconi pflegt(e) der „Revolutionsführer“ eine enge Freundschaft.
Libyen heute
Libyens Ölreichtum bringt dem Land immer noch einen relativen Wohlstand. Doch der Mehrheit geht es sozial und wirtschaftlich immer schlechter.
Vom „islamischen Sozialismus“, der ohnehin nie ein Sozialismus war, ist heute nichts mehr zu spüren. Mittlerweile sind nur noch das Transportwesen, die Öl- und die Stahlindustrie staatlich. Neoliberale Stiftungen und Think Tanks feiern das erfolgreiche libysche Modell der wirtschaftlichen Reformen und Transformation als „positives Beispiel“. Der einstige „Antiimperialist“ und „Revolutionär“ Gaddafi setzt auf Einvernehmen mit dem Imperialismus. Bei George Bushs „Krieg gegen den Terror“ hat Gaddafi nicht nur geschwiegen, sondern ihn auch gutgeheißen. Der einstige politische „bad guy“ Gaddafi strebte nach Anerkennung und Akzeptanz durch den Imperialismus auf der internationalen Bühne, die ihm bis vor einigen Wochen auch noch uneingeschränkt zuteil wurde. Die Aufständischen, die Gaddafi niedermetzeln lässt, beziehen ihre Waffen bis heute vorwiegend aus Europa, besonders aus deutscher Produktion. Seit 2008 wurden – mit dem Segen der Merkel-Regierung – für mehr als 80 Millionen Euro Waffen aus Deutschland nach Libyen exportiert. Deutsche Exporte aller Art sind 2009 allein um beinahe ein Viertel gestiegen.
Seit dem EU-Afrika-Gipfeltreffen vom Jahr 2000 besteht ein offizielles Kooperationsabkommen zwischen Libyen und der EU. Gaddafi bemühte sich seitdem um eine Intensivierung der wirtschaftlichen Kooperation mit dem Westen. Zum Dank hat George W. Bush Libyen 2006 von der Liste der „Schurkenstaaten“ gestrichen. Er hat auch dem „Barcelona-Abkommen“ zugestimmt, welches ein Bekenntnis zur Marktwirtschaft beinhaltet. Der „islamische Sozialist“ Gaddafi hatte in der Folge selbst verkündet, dass „sozialer Kapitalismus womöglich doch die bessere Alternative“ sei. In diesem Sinne handelte er auch. Bis Ende 2008 wurde ein Großteil der noch staatlichen Betriebe privatisiert.
Die sozialen Auswirkungen des kapitalistischen Kurses – zu dem die Weltwirtschaftskrise ab 2008 das ihrige beigetragen hat – sind verheerend. Heute sind Schätzungen internationaler Organisationen zu Folge 35 Prozent der Bevölkerung arm und die Arbeitslosigkeit liegt bei circa 30 Prozent. Die Korruption ist enorm. Während es den libyschen Massen – besonders der Jugend – immer schlechter geht, schwelgt die herrschende Clique, die mit der neuen Bourgeoisie verfilzt ist, in Luxus.
Als in Tunesien im Januar 2011 die Protestbewegung begann, tat Gaddafi noch selbstsicher und riet seinem Freund Ben Ali, den libyschen „Sozialismus“ einzuführen, während er die für eine Zukunft kämpfenden arbeitslosen Jugendlichen übelst verhöhnte und beschimpfte.
Rolle der Arbeiterklasse
Stalinismus und arabischer Nationalismus á la Nasser und Gaddafi haben eins gemeinsam. Sie beruhen auf der politischen Unterdrückung der Arbeiterklasse und der Unterordnung aller unabhängigen Bestrebungen der arbeitenden Menschen unter den Interessen einer nationalistisch beschränkten privilegierten Clique. In der besonderen Situation des Nachkriegsaufschwungs und in Zeiten der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West konnten Länder wie Libyen – gestützt auf Ölreichtum – einen gewissen Sonderweg gehen und bestimmte soziale Errungenschaften zugestehen. Doch ohne Sturz von Feudalstrukturen und Kapitalismus, ohne Selbstbestimmung der Arbeiterklasse und ohne eine internationalistische Orientierung erwies sich der arabische Nationalismus, wie alle bürgerlichen Ideologien und Strategien, als Sackgasse. Als zu Beginn der Revolte aufgebrachte Massen in Bengasi ein überdimensionales Monument für Gaddafis „Grünes Buch“ zerstörten, wurde dies symbolisch vor der Weltöffentlichkeit demonstriert.
Der arabische „Sozialismus“ Libyens ist nur eine Propagandafassade, hinter der sich kapitalistische Ausbeutung unter einer besonders korrupten und repressiven Diktatur verbirgt. In Libyen wie in allen Ländern des arabischen Raums stellt sich daher dringend die Frage der unabhängigen Organisierung der Arbeiterklasse, der Jugend und armen BäuerInnen auf der Grundlage eines internationalistischen, sozialistischen Programms. Nur so können die brennenden sozialen Probleme gelöst werden und nur so kann sicher gestellt werden, dass der Beginn der Revolution nicht in der Ablösung einer Herrscherclique durch eine andere endet.