Amtsgericht verhängt Verwarnung gegen S21 Gegner und gibt ihren Argumenten recht
Am Donnerstag, den 27.1. fand eine öffentliche Verhandlung vor dem Amtsgericht Bad Cannstatt gegen Eberhard Boeck und Ursel Beck vom Cannstatter Aktionskreis gegen Stuttgart 21 statt. Sie hatten gegen einen Strafbefehl in Höhe von 100 bzw. 300 Euro Widerspruch eingelegt.
von Aktivisten der Initiative „Cannstatter gegen Stuttgart 21“
Die Staatsanwaltschaft warf ihnen Sachbeschädigung an zwei im Cannstatter Bahnhof aufgehängten Plakatwänden vor. Sie hatten im Juni des Jahres 2010 zwei Werbeplakate für Stuttgart 21, die im Auftrag der S21-Betreiber auf Kosten der Steuerzahler sattsam bekannte Halbwahrheiten und offensichtliche Lügen zum Projekt Stuttgart 21 verbreitet hatten, im Sinne der Aufklärung einer notwendigen öffentlichen Ergänzung und Korrektur unterzogen.
Die Verhandlung fand im Saal 2 des Cannstatter Amtsgerichtes statt, der wohl nicht zu häufig einen so großen Besucherzuspruch erlebt. 57 Menschen besetzten den Saal bis auf den letzten Stuhl; die große Masse davon war eindeutig gekommen, um den Angeklagten ihre öffentliche Sympathie und Unterstützung zu bekunden.
Ein erstes Raunen ging durch den Saal als Staatsanwalt Eisel die Anklage verlas und von einem besonderen öffentlichen Interesse sprach, das eine Strafverfolgung notwendig mache. Eine Begründung hierfür lieferte er nicht. Im weiteren Verlauf der Verhandlung wurde jedoch deutlich, dass das öffentliche Interesse einen Namen hat: Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler. Letzterer hatte zuletzt dadurch öffentlich auf sich aufmerksam gemacht, dass er beim Polizeieinsatz vom 30. September keine Anhaltspunkte erkennen konnte, „dass der Einsatz insgesamt offensichtlich unrechtmäßig war“. In seinen Zuständigkeitsbereich fiel übrigens auch einige Jahre zuvor die Verfolgung engagierter Antifaschisten, die er mit dem Vorwurf verfolgte, Nazi-Symbole (worunter er durchgestrichene oder zerschlagene Hakenkreuze verstand) zu verbreiten.
Verlauf der Verfahrens
Doch zurück zu unserem Verfahren: Während der Staatsanwalt einsilbig und nuschelnd die bekannte Anklage vortrug, nahmen die angeklagten Aktivisten der Bewegung gegen Stuttgart 21 eloquent und mit überzeugenden Argumenten Stellung zu dem Vorwurf der Sachbeschädigung. Im Mittelpunkt ihrer Argumentation: Die Bahn und das S21-Kartell habe in dieser Zeit eine Dialog-Initiative gestartet und flächendeckend Stuttgart mit ihrer Propaganda zugekleistert. Die Stuttgarter Zeitung titelte damals: „Das Herz Europas argumentiert jetzt“. Sie hätten sich auf Grund dieser Kampagne aufgefordert gesehen, sich an diesem Dialog öffentlich zu beteiligen. Da die Befürworter ihre Kampagne in der Öffentlichkeit damit begründeten, „über kursierende Halbwahrheiten aufzuklären“, hätte sie es ihrerseits als ihre Aufgabe begriffen, die auf den Plakaten behaupteten Halbwahrheiten und Lügen mit notwendigen Korrekturen und „argumentativen Ergänzungen“ zu versehen.
Mit Verweis auf mittlerweile bekannte öffentliche Gutachten und die Ergebnisse des Fakten-Checks bei der „Schlichtung“ belegte Eberhard Boeck, einer der Angeklagten, dass die von Ihnen auf den Plakaten angebrachten Korrekturen dem heute bekannten Sach- und Wissensstand zum Projekt S21 und seinen Auswirkungen entsprechen. Er führte auch Beispiele an, dass wegen der Ausgaben für Stuttgart 21 Kommunen wie Stuttgart notwendige und sinnvolle Ausgaben vernachlässigen.
Er betonte dabei, sie hätten bewusst die Argumentation der Befürworter nicht unlesbar gemacht oder überschrieben, sondern ergänzt, damit beide Texte im Zusammenhang gelesen werden können. Eine Sachbeschädigung sei schon insoweit nicht ersichtlich, weil der Betreiber der Plakatwände über mehrere Wochen die veränderten Werbeplakate hängen ließ.
Sein Verteidiger beantragte deshalb die Einstellung des Verfahrens. Dieses Ansinnen wies der Staatsanwalt umgehend zurück, wieder ohne Argumente, allerdings mit Hinweis auf den erwähnten Oberstaatsanwalt Häußler, der eine weitere Verfolgung der Straftat als im öffentlich Interesse gegeben sieht. Die Richterin führte daraufhin aus, dass auch ihr ohne Zustimmung des Oberstaatsanwalts eine Einstellung des Verfahrens nicht möglich sei. Wo kämen wir auch hin, wenn die Unabhängigkeit der Justiz so weit ginge, dass eine kleine Richterin am Amtsgericht einfach über das Verfolgungsinteresse des Oberstaatsanwalts hinweggehen könnte.
Eingeschränkte Unbefangenheit der Richterin
In einem anderen Punkt zeigte die Richterin jedoch eine erstaunliche Unbefangenheit in der Bewertung der vorgetragenen Sachverhalte: Obwohl sie eine Sachbeschädigung als gegeben ansah, weil hierfür aus juristischer Sicht lediglich der Nachweis erbracht werden muss, dass eine fremde Sache erheblich und dauerhaft verändert wurde, gab sie zwei Beweisanträgen der Angeklagten, die der Rechtsanwalt des Angeklagten Eberhard Boeck vortrug, ohne Hinzuziehung weiterer Beweismittel in der Sache recht: Die auf dem Werbeplakat des S21-Kartells angegeben Kosten entsprechen nicht der Wahrheit. Ebenso wenig seinen die ökologischen Auswirkungen der Veränderungen im Schlosspark richtig beschrieben. „Eine Beweiserhebung hierzu wird nicht als erforderlich betrachtet“.
Auch die Tatsache, dass die Firma Ströer die übermalten Plakate nicht vorzeitig erneuerte und ihr deshalb keine entsprechenden Kosten entstanden, sah die Richterin ohne weitere Beweiserhebung als erwiesen an. Ein vom Staatsanwalt in der Anklageverlesung erwähnter Sachschaden von 250,- Euro dürfte damit vom Tisch sein.
Nach Abschluss der Beweiserhebung hatte der Staatsanwalt wieder das Wort. Er sah sich genötigt zu bemerken, dass dies hier kein Tribunal zu Stuttgart 21 sei. In seinem Plädoyer billigte er den beiden Angeklagten dabei ein ehrliches Anliegen zu, sah sie aber vom „richtigen Weg“ abgekommen, der ihrer Sache nicht förderlich sein. Die Gegner von S21 müssten den „Hauch eines Rechtsbruchs“ bei ihren Aktionen vermeiden. Obwohl auch er eine gewisse Kritik an der „plakativen Propaganda“ und „Persil-Werbung“ der S21-Befürworter erkennen ließ, hätten sich die beiden Angeklagten unzweifelhaft der Sachbeschädigung schuldig gemacht. Der Strafbefehl sei in der ausgesprochenen Höhe berechtigt.
In ihren Schlussworten betonten die Aktivisten nochmals, dass sie auch aus einer Empörung über die mit öffentlichen Mitteln finanzierte Propaganda des S21-Kartells gehandelt hätten. Deren unsachliche und mit Halbwahrheiten plakatierte Werbung hätten sie als Verhöhnung sachlich begründeter Einwände der S21-Gegner begriffen. Der Rechtsanwalt von Eberhard Boeck betonte, dass die Verhandlung für alle deutlich gezeigt habe, dass hier keine kriminellen Handlungen vorlägen. Das bürgerschaftliche Engagement der Angeklagten sei nicht strafwürdig und dürfte deshalb auch nicht kriminalisiert werden. Ursel Beck kritisierte, dass sie bei ihrer Malaktion fast wie Schwerverbrecher behandelt worden seien. Schließlich seien elf Polizisten im Einsatz gewesen, um ihre Personalien festzustellen und den Tatbestand aufzunehmen. Sie verwies auf Medienberichte, wonach die Polizei zu wenig Personal habe, um Autobahnraser zu verfolgen, die Menschenleben gefährden, während gleichzeitig große Polizeieinsätze gegen friedliche Stuttgart-21-Gegner stattfinden. Sie gab in ihrem Schlusswort der Hoffnung Ausdruck, dass das Urteil im Namen des Volkes und nicht im Namen der Landesregierung oder des S21-Kartells gesprochen werde.
Bleibt noch über das Urteil zu berichten: Die Richterin sprach die beiden Aktivisten gegen S21 der gemeinsam begangenen Sachbeschädigung schuldig. Entgegen dem ursprünglichen Strafbefehl verhängte sie jedoch keine Geldstrafe, sondern sprach nur eine Verwarnung mit Strafvorbehalt aus. Sollten die Angeklagten in den nächsten 2 Jahren nicht straffällig werden, wird keine Geldstrafe fällig. Die Höhe der Strafe wurde auf 10 Tagessätze festgesetzt. Zusätzlich müssen die Angeklagten die Gerichts- und Anwaltskosten tragen.
Noch im Gerichtssaal wurde Geld gesammelt, damit die Angeklagten nicht auf diesen Kosten hängen bleiben. Ergebnis: 175 Euro Spenden, die für den überwiegenden Teil der entstandenen Kosten reichen sollten. (Wenn das die Kosten übertrifft, soll der Überschuss an den Rechtshilfefonds gehen.)
Von Angeklagten zu Anklägern
Zur Bewertung: Das Verfahren war eine kleine öffentliche Lehrstunde für alle Beteiligten. Allen Aktiven gegen S21 wurde deutlich, mit welch massiven Verfolgungsinteresse die Staatsanwaltschaft gegen harmlose Aktionen vorgeht. Die Kriminalisierung der Gegner von S21 steht dabei in einem krassen Missverhältnis zum Wegschauen bei der Gewalt, die von Staats wegen durch Polizeibeamte ausgeführt wird. Auf der inhaltlichen Ebene zeigte die Verhandlung die Sprachlosigkeit und Nicht-Bereitschaft der Gegenseite zum Dialog. Es ist schon ein Armutszeugnis, wenn ein Staatsanwalt keinerlei Argumente für das angebliche „öffentliche Interesse“ ins Feld führen kann, außer den Vorgaben seines Vorgesetzten. Dieses Verhalten macht einem Obrigkeitsstaat alle Ehre.
Die beiden Angeklagten haben vorgemacht, wie sich Angeklagte in politischen Prozessen zu Anklägern machen und den Prozess als Tribunal gegen Stuttgart 21 nutzen können (wie der Herr Staatsanwalt beklagte). Ihr selbstbewusstes und politisch offensives Auftreten wurde von vielen Prozessbesuchern gelobt. Einer sagte während einer Sitzungsunterbrechung: „Die beiden Angeklagten sind gut. So wünscht man sich politische Prozesse.“
Das Ergebnis zeigte, dass es den Angeklagten keineswegs schadete, dass sie keinerlei „Schuldeinsicht“ oder „Reue“ erkennen ließen. Im Gegenteil bestätigten sowohl Staatsanwalt als auch Richterin betonten die „ehrlichen Anliegen“ der Angeklagten.
Der Prozess ist auch ein Beispiel für die Macht einer solidarischen Öffentlichkeit. Die zahlreiche Teilnahme am Prozess, die Beifallsbekundungen während der Verhandlung und die abschließende Spenden-Sammlung machen deutlich: die Angeklagten stehen nicht allein, sie haben ein großes Sympathisantenumfeld und sie müssen sich mit ihren Argumenten nicht verstecken. Der Prozess sollte Ansporn sein, weitere Prozesse gegen Gegner von Stuttgart 21 zahlreich zu besuchen.
Wenn man das Urteil und die Vorgaben von Oberstaatsanwalt Häußler zusammen liest, ergibt sich folgende „Logik“: Es besteht ein öffentliches Interesse, finanziert durch Steuergelder Halb- und Unwahrheiten zu verbreiten, ohne fürchten zu müssen, dass diese Halb- und Unwahrheiten durch richtige Aussagen „argumentativ ergänzt“ werden. Diese „Logik“ ist Stuttgart 21 würdig.