S-21-Gegner diskutieren über Hochgeschwindigkeitsstrecke
Bahn und Landesregierung betrachten Stuttgart 21 und die ICE-Trasse zwischen Wendlingen (bei Stuttgart) und Ulm als eine Einheit. Die GegnerInnen von Stuttgart 21 betonen, dass die Gleise von S 21 ohne die ICE-Trasse „auf dem Acker enden“ würden, sich aber die ICE-Trasse ohne Stuttgart 21 verwirklichen ließe (also mit einem modernisierten Kopfbahnhof, K21, kombiniert werden könnte).
Ursprünglich wurde die ICE-Trasse fast einmütig befürwortet, in den letzten Monaten hat die Ablehnung der ICE-Trasse stark zugenommen, unter anderem wegen befürchteter hoher Kostensteigerungen. So erklärte Gangolf Stocker, Stuttgarter Stadtrat für SÖS (Stuttgart Ökologisch Sozial), in der Zeitung der Fraktionsgemeinschaft von SÖS und DIE LINKE, dass man „die Neubaustrecke wegen Unwirtschaftlichkeit ablehnen“ müsse („Stadt.Plan“).
Die Frage ist unter den GegnerInnen von Stuttgart 21 aber weiterhin kontrovers. Die Diskussion beschränkt sich auch nicht auf die „Wirtschaftlichkeit“, es geht unter anderem auch um Fragen des Energieverbrauchs und um die grundsätzliche Haltung zum Hochgeschwindigkeitsverkehr.
pro: Ralf Stolz, Regionalgeschäftsführer vom BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland), Ulm
Die Verbindung zwischen Stuttgart und Ulm zählt zu den wichtigsten und am stärksten befahrenen Bahnstrecken in Baden-Württemberg. Sie verbindet die bevölkerungs- und wirtschaftsstarke Landesmitte mit dem sehr dynamischen Raum Ulm/Oberschwaben, großräumig gesehen Rhein-Main- und Rhein-Neckar-Raum sowie den Raum Karlsruhe mit den Großräumen Augsburg und insbesondere München.
Wer im Sinne des Umwelt- und Klimaschutzes auf dieser Achse Personenverkehr in nennenswertem Umfang auf die Schiene verlagern will, kommt um den Bau von zwei weiteren Gleisen nicht herum. Und um eine attraktive Reisezeit zu erreichen, ist dabei eine Beschleunigung unumgänglich: Heute benötigen Fernzüge für die (Luftlinie) 75 Kilometer fast eine Stunde!
Verkehrsverlagerung durch kürzere Fahrzeiten
Bei einer kürzeren Fahrzeit ist nicht nur mit einer Zunahme von Fahrgästen aus dem südöstlichen Baden-Württemberg und Bayerisch-Schwaben in Richtung Stuttgart zu rechnen. Auch im weiträumigen Verkehr würde die Fahrzeitverkürzung auf diesem Abschnitt kürzere Reisezeiten mit sich bringen. Diese würden sich natürlich bei Realisierung weiterer geplanter Maßnahmen etwa zwischen Frankfurt und Mannheim oder Ulm und Augsburg verstärken. Damit ergibt sich die Chance, Verkehr auf die Schiene zu verlagern.
Der BUND und viele andere Organisationen sowie Gemeinden hatten sich im Raumordnungsverfahren Anfang der neunziger Jahre dafür ausgesprochen, die bestehende Bahnlinie im Filstal viergleisig auszubauen und diese durch einen Albaufstiegstunnel zu ergänzen – eine Variante, die angesichts des erforderlichen Abrisses mehrerer Gebäude sowie der Zunahme von Lärm im Filstal keineswegs frei von Problemen gewesen wäre. Mit großer Sicherheit wäre man aber, hätte man auf diese Trasse gesetzt, schon heute im Filstal rascher unterwegs, weil einige Abschnitte viergleisig ausgebaut wären. Lärmschutzwände, wie sie derzeit an der Strecke errichtet werden, wären ebenso längst Realität.
Die Landesregierung entschied jedoch ganz gezielt zugunsten der Trasse entlang der Autobahn, um die Flughafen-Anbindung und einen unterirdischen Durchgangsbahnhof in Stuttgart als untrennbare Einheit erscheinen zu lassen. Stuttgart 21 sollte so durch die Hintertür erzwungen werden, denn S 21 macht nur mit der Neubaustrecke Sinn, während diese auch ohne Tunnelbahnhof realisierbar ist.
Projekt für hundert Jahre
Die in den letzten Monaten heftig diskutierten Nachteile der Neubaustrecke sind im Grunde seit vielen Jahren bekannt: Aufgrund der hohen Steigungen können auf ihr nur einige der heute zur Verfügung stehenden ICEs fahren. Für Güterzüge heutiger Bauart ist die Strecke gänzlich unbenutzbar.
In der aktuellen Diskussion wird gelegentlich übersehen, dass die Neubaustrecke ein Projekt für die nächsten hundert Jahre und länger ist. Vor hundert Jahren hat es vermutlich kein Mensch für möglich gehalten, dass über das damals vorhandene Schienennetz einmal Hochgeschwindigkeitszüge fahren werden.
Für die Zukunft ist im Güterverkehr mit einem erheblichen Zuwachs zu rechnen, zudem ist unstrittig, dass der aktuelle Güterverkehr so weit als möglich auf die Schiene verlagert werden soll. Es ist daher absehbar, dass auch die alternativen Güterzugstrecken eines Tages ihre Kapazitätsgrenze erreichen. Man wird dann dankbar sein, mit der Neubaustrecke noch Reserven zur Verfügung zu haben. Für Entwicklung und Bau leichter Güterzüge, die auch steilere Strecken nutzen können, bleibt bis dahin noch Zeit.
Während die Eignung der Neubaustrecke für schnelle Nahverkehrszüge heutiger Bauart strittig ist, werden nach deren Fertigstellung in jedem Fall auf der Bestandsstrecke Fahrplantrassen für den Nahverkehr frei. Im Raum Ulm ist erst dann an einen Halbstundentakt, im Filstal an eine Taktverdichtung im Nahverkehr zu denken.
Begleitende Maßnahmen unabdingbar
Um die Wirtschaftlichkeit der Strecke zu erhöhen, ist freilich eine aktive Politik der Verkehrsverlagerung notwendig. Hierzu zählen ein Verzicht auf den weiteren sechsspurigen Ausbau der parallel zur Neubaustrecke verlaufenden A 8 sowie Beschränkungen für den Güterverkehr auf der Straße.
Die im Zusammenhang mit der Neubaustrecke geführte Debatte um die Wirtschaftlichkeit zeigt, dass im Bundeshaushalt dringend mehr Geld für den Ausbau des Schienenverkehrs bereitgestellt werden muss. Denn bei gleichbleibend geringen Haushaltsmitteln des Bundes für den Aus- und Neubau von Schienenwegen wird das Projekt Wendlingen-Ulm zu überlangen Bauzeiten bei vielen Bauprojekten im Schienenbereich führen.
Im Übrigen würden weder das Land noch die Region Ulm vom schnellen Fernverkehr abgehängt, sollte die Strecke – aus welchen Gründen auch immer – nicht gebaut werden. Auch die Anbindung an den Flughafen Stuttgart wird in ihrer Bedeutung maßlos überschätzt. Vielmehr ist zu befürchten, dass diese vor allem den klimaschädlichen Flugverkehr stärken und damit ein wesentliches Ziel der Strecke ad absurdum führen würde.
contra: Alexander Brandner, Mitglied im Vorstand der Stuttgarter SAV-Ortsgruppe Bad Cannstatt
„Der Vorteil der hohen Geschwindigkeiten für die Reisenden ist begrenzt. Je größer die Geschwindigkeit, desto größer sinnvolle Abstände zwischen den Bahnhöfen, desto länger die Reise von der Haustür zum Bahnhof und vom Bahnhof zur Haustür, die wichtiger ist als die Zeit Bahnhof – Bahnhof.“ Das hatten wir in unserer SAV-Broschüre „Stoppt Stuttgart 21“ 1996 geschrieben.
Als Anfang der Achtziger der European Round Table (ERT) sein „Verkehrsströmekonzept“ bekannt gab, in welchem seitens dieser Lobbyorganisation führender Konzerne ein europäisches Hochgeschwindigkeitsnetz gefordert wurde – das heute nur marginal vom Original abweicht, trotz der damalig noch herrschenden Systemkonkurrenz Ost-West – konnte man ahnen, um was es ging: die schnellstmögliche Verbindung von Ballungsräumen und Metropolregionen, ohne Rücksicht auf Mensch, Natur und Umwelt, allein zu Gunsten von Profit und möglichen flexiblen Produktionsstättenverlagerungen.
Schattenseite des Hochgeschwindigkeitsverkehrs
Will man solche, meist mit dem Lineal gezogenen, Trassen verwirklichen, benötigt man reichlich monetären Vorschuss, der an anderer Stelle eingespart wird, so zum Beispiel beim Rückzug der Bahn aus der Fläche, aber auch bei der Wartung an Zügen, Strecken, Stellwerken und Weichen – jetzt im Winter täglich wieder neu anzusehen. Denn Gewinn und Dividendeerwartungen von immerhin 500 Millionen Euro jährlich fallen nicht so wie der Schnee vom Himmel.
Die Einschnitte in die Natur sind ebenfalls beträchtlich: Die Strecken bestehen zum überwiegenden Teil aus Tunneln, Brücken und Dämmen. Nur wenige Kilometer sind in die natürliche Landschaft eingebettet.
Um diese Verbindungen attraktiv und wirtschaftlich zu machen, muss zudem ein Bedarf geschaffen werden, der durch den Rückbau in der Fläche erreicht wird. Als Beispiel dazu dient der 1988 eingeführte und 2002 zu Gunsten der ICE-Ausweitung wieder eingestellte, im Fernverkehr äußerst erfolgreiche und relativ preiswerte, Interregio. Bis heute kommen die schnelleren ICEs an die damals erreichten Fahrgastzahlen nicht heran.
Es dürfte somit klar sein, wem eigentlich das Konzept der Hochgeschwindigkeitsstrecken dient: denjenigen, die es sich mal eben leisten können, von einer Metropolregion in die andere zu reisen, und Geschäftsleuten, um möglichst wenig Zeit liegen zu lassen. Denn in einigen Ballungsräumen wäre eine weitere Zunahme des Autoverkehrs wegen des hohen Straßenverkehrsaufkommens schlicht nicht mehr möglich, und hier wird dann doch noch der ÖPNV als Lückenbüßer von Auto und Flugzeug benötigt.
Nachteile der Neubaustrecke und Alternativen
So wurden im letzten Jahrhundert die „21er-Projekte“ konzipiert, von denen allein das in Stuttgart übrig blieb. Ein neuer Bahnhof wurde mit einer Hochgeschwindigkeitsstrecke entworfen, um sich mittels dieses Mixes aus den verschiedenen Bereichen der öffentlichen Hand Gelder vorschießen lassen zu können, welche die auf dem Weg an die Börse befindliche Bahn AG alleine nie hätte stemmen können.
Nur mit S 21 macht die Neubaustrecke (NBS) Wendlingen – Ulm „Sinn“, denn die bereits vorhandene Trasse könnte durch einige Veränderungen, zum Beispiel Begradigungen in den Ebenen (so Professor Klaus-Dieter Bodack, jahrelang bei der Bahn beschäftigt), verbessert werden. Zumal die Instandhaltung von mehr als 30 Kilometer Tunnel mindestens 250 Millionen Euro im Jahr verschlingen würde.
Deshalb macht der geplante Albaufstieg mit einem um circa 160 Meter höheren Scheitelpunkt und einer 17 Kilometer langen und 2,7 bis 3,3 prozentigen Steigung (die Geislinger Steige ist fünf Kilometer lang und hat eine Steigung von 2,4 Prozent) keinen Sinn, sondern verursacht eigentlich nur Schäden für die Umwelt, da zusammen mit den hohen Geschwindigkeiten eine immense Menge an Strom (sieben Millionen Kilowatt pro Jahr) verbraucht werden würde.
Zu alledem kommt, dass nur wenige Güter in Hochgeschwindigkeit transportieren werden müssen. Für das Gros ist es vielmehr Energievergeudung (erst Recht über die Schwäbische Alb). Außerdem existiert zwischen Stuttgart und Augsburg bereits die nur halb ausgelastete Trasse über Aalen und Donauwörth.
Konsequente Wartung der Schienen und Anlagen sowie eine Erneuerung der vorhandenen Strecke würden die behauptete Zeitersparnis der NBS um fünf bis zehn Minuten, im Vergleich zu 1995, so gut wie wieder Wett machen.
Profitinteressen
An diesem Megaprojekt wollen viele mitverdienen: Herrenknecht bohrt die Tunnel, Siemens liefert die Technik und Signalanlagen, so wie vielleicht auch die neuen 220 Fernzüge. Zudem rechnet der Flughafen Stuttgart mit einer Million zusätzlicher Fluggäste, so dass eine zweite Landebahn doch noch fällig werden würde.
Darum wird uns der Vorteil des Konzeptes „Hochgeschwindigkeitsstrecke“ versucht so schmackhaft und „plausibel“ zu machen. Jeder von uns kann sich ja vorstellen, dass es toll ist, so schnell wie möglich von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Dass die Mehrheit aber nur zur Befriedigung der Gier einer Minderheit benutzt wird, wird leider noch zu selten benannt, denn ein intakter Personen- und Güterbahnverkehr bringt für diese nicht genügend Profit ein.