Auszug aus: „Iran: Freiheit durch Sozialismus – Gechichte und Gegenwart des Iran“
von Lucy Redler (im März 2010)
Was für eine Bewegung: Im Februar 2009 feiert das Regime ungestört mit großen Umzügen den 30. Jahrestag der Islamischen Republik. Am Ende des Jahres 2009 lässt das Regime an Aschura, dem höchsten schiitischen Feiertag in die Menge schießen, weil sie einer Bewegung, die sich binnen sechs Monate entwickelt hat, nicht mehr Herr wird. Das Regime wankt. „Wo ist meine Stimme?“ skandieren am 13. Juni 2009 Zehntausende auf den Straßen Teherans. Sie protestieren, rufen Parolen gegen Präsident Ahmadinedschad und singen Lieder. Die Wut bricht sich Bahn angesichts des dreisten Wahlbetrugs des Regimes.
Wahlbetrug ist nichts Neues im Iran. Normalerweise dauert das Bekanntgeben von Wahlergebnissen mehrere Tage, die vermutlich auch zur Abstimmung und für Verhandlungen zwischen den verschiedenen Lagern genutzt werden. In diesem „theokratischen Regime unter der Maske einer Republik“1 dienten die Wahlen bisher vor allem dazu, die Kräfteverhältnisse und damit die Verteilung der Pfründe unter den verschiedenen Fraktionen der Herrschenden zu klären. Diesmal ist jedoch alles anders: Das Wahlergebnis des 12. Juni wird nur drei Stunden nach der Auszählung bekannt gegeben. Als verkündet wird, dass das Ergebnis Ahmadinedschads bei 62,6 Prozent und das des wichtigsten oppositionellen Kandidaten Mir Hussein Mussawi bei 32,3 Prozent liegt, sind die Massen nicht mehr aufzuhalten. Die während der ungewöhnlich offenen Debatten im Wahlkampf aufgekeimte Hoffnung auf eine friedliche Änderung der bestehenden Verhältnisse wird mit einem Mal widerlegt.
Eine regimetreue Zeitung titelt frech: „Ahmadinedschad: 24 Millionen Stimmen. Die Menschen stimmen für Erfolg, Ehrlichkeit und den Kampf gegen Korruption.“2 „Tod dem Diktator!“ rufen dagegen die Protestierenden am 13. Juni in der Dr. Fatimi-Straße. In der Empörung über den Wahlbetrug spiegeln sich dreißig Jahre voll aufgestauter tief sitzender Wut auf die politische Repression des Mullah-Regimes, über die soziale Lage der Mehrheit der Bevölkerung – vor allem der Jugend – und die Enttäuschung über Ahmadinedschad, der bei seiner letzten Wahl ein Ende der Korruption versprochen hatte.
Über die Hälfte der iranischen Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre. Besonders Jugendliche aus höher gebildeten Schichten begehren auf gegen das repressive Regime und die Vorschriften, die eine freie Wahl bei Kleidung, Musik und persönlichen Beziehungen enorm einschränken. Mit der Wahl von Ahmadinedschad in 2005 wurden die Kontrollen verschärft. Das Mullah-Regime hat darin versagt, der iranischen Jugend eine Zukunft zu bieten: Jeder vierte Jugendliche steht ohne Job da. Im Gegensatz zu Ahmadinedschads Wahlversprechen von 2005 gab es nach der Wahl für die Armen nur Almosen, während die Regierung dafür Sorge trug, den paramilitärischen Pasdaran (Revolutionswächtern) Milliardenaufträge zuzuschanzen. Heute kontrollieren die Pasdaran mit ihren Unternehmen und Stiftungen einen bedeutenden Teil der Ökonomie.3
Die Massenproteste gefährden das Regime. Bereits am ersten Tag der Proteste geht die Polizei brutal gegen Demonstrierende vor. Der britische Journalist Robert Fisk beschreibt Szenen, die sich in diesen Tagen in den Straßen Teherans abspielen:
„Die Polizisten waren von ihren Motorrädern abgestiegen und brachen das Pflaster auf, um Steine auf die Protestierenden zu werfen, von denen einige mit ihren eigenen Motorrädern mitten zwischen den Polizisten fuhren. Ich sah einen extrem großen Mann – gekleidet im Batman-Stil mit schwarzen Plastik-Arm- und Schienbeinschützern, der Pflastersteine mit Schlagstock und Stiefeln zerkleinerte und sie auf die Mussawi-Leute schleuderte. Eine Frau mittleren Alters ging zu ihm – die Frauen waren gestern viel mutiger dabei, der Polizei entgegen zu treten – und brüllte eine sehr nahe liegende Frage: ,Warum zerstörst du das Pflaster unserer Stadt?‘“.4
Fisk beschreibt, wie die Polizei nicht davon ablässt, Steine auf die Protestierenden zu schleudern und vergleicht die Geschehnisse mit dem Pariser Mai 1968, betont, dass es in Teheran nicht wie in Frankreich die Jugend sei, die Steine werfe, sondern die Polizisten. Am 14. Juni gießt Ahmadinedschad weiter Öl ins Feuer, als er verkündet, dass die Wahlen „wahr und frei“ seien und die DemonstrantInnen mit randalierenden Fußballfans vergleicht: „Manche dachten, sie würden gewinnen und dann sind sie ärgerlich geworden.“ Wieder brechen spontane Demonstrationen los. Basidschi-Milizen stürmen nachts die Wohnheime Studierender der Teheraner Universität. „persiankiwi“ twittert in dieser Nacht: „Es ist zwei Uhr früh, und die Menschen auf den Dächern rufen ,Tod für Khamenei‘. Vor einer Woche wäre das undenkbar gewesen, die Leute haben die Nase voll, wollen Freiheit.“5
Die Bewegung überrascht Mussawi
Die Bewegung entsteht spontan von unten und überrascht auch den Flügel um den oppositionellen Kandidaten Mussawi. Sein Sprecher gibt im Interview mit der tagesschau zu, dass sie mit dem Ausbruch der Bewegung nicht gerechnet haben:
„Wir haben diese Ereignisse nicht vorhergesehen und auch falsch eingeschätzt, da bin ich mit Ihnen einer Meinung. Sie müssen allerdings auch bedenken, dass es im Iran gar nicht die Strukturen gibt, die eine richtige Oppositionsbewegung braucht. Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir bei der Wahl so betrogen werden, und danach sind die Menschen in Massen auf die Straßen geströmt, nach langer Zeit mal wieder. Auch das hat uns überwältigt.“6
Am 13. Juni gibt Mussawi dann seine erste Erklärung ab:
„Das Ergebnis dieser Wahlen schockiert uns. Die Menschen, die vor den Wahllokalen in der Schlange standen, kennen die Situation, sie wissen, für wen sie gestimmt haben. Sie betrachten die magischen Spielereien der Behörden im Fernsehen und Radio mit Verwunderung. Diese Vorkommnisse erschüttern die Fundamente der Islamischen Republik Iran, diese wird jetzt auf der Grundlage von Lügen und einer Diktatur regiert.“7
Die Spaltung innerhalb des theokratischen Regimes ist nun offensichtlich: Auf der einen Seite Mussawi, Mohammed Khatami und Ali Akbar Haschemi Rafsandschani, der reichste Mann Irans. Sie stehen für eine stärkere Öffnung der iranischen Ökonomie zum Westen und weitere Privatisierungen.8 Sie lehnen die Zentralisierung der staatlichen Macht in den Händen der Militärs und der Pasdaran sowie deren Kontrolle über die Wirtschaft ab und wenden sich gegen Ahmadinedschads „populistische“ Politik von Almosen für die Ärmsten. Mit dieser Politik kann sich der Flügel auf einen Teil der Mittelschichten stützen. Mussawi fordert im Wahlkampf mehr politische Freiheiten und eine Reform des theokratischen wRegimes. Beide Lager vertreten prokapitalistische Positionen (siehe „Wirtschaft und Staat im Iran“).
Der Ruf nach mehr politischen Rechten und Freiheit kommt aber besonders bei den Jugendlichen gut an. Die Bewegung baut sich anfangs um Mussawi auf, nutzt ihn als Symbol. Er wird als Held gefeiert, auch wenn er Teil des islamischen Regimes ist und eine zufällige Figur. Mussawi selbst hatte sich in den letzten Jahren politisch im Hintergrund gehalten und war vor allem als Maler und Leiter der Kunstakademie bekannt.
„Mussawi wurde zum Held einer Revolution, die er eigentlich gar nicht wollte.“, schreibt DER SPIEGEL treffend.
„Als konservativer Reformer ging er ins Rennen, als einer, der das System von innen zurecht rücken wollte, um es zu stabilisieren. In den zehn Tagen seit der Wahl ist Mussawi nun ein anderer geworden, unfreiwillig. Der von ihm angeschobene Protest wegen mutmaßlichen Wahlbetrugs hat sich verselbstständigt – und mit ihm die Rolle, die Mussawi von den Menschen zugedacht wird.“9
Vielen Jugendlichen ist Mussawis Rolle als Teil des Regimes nicht bewusst: Als erster Ministerpräsident der islamischen Diktatur ist er mitverantwortlich für die Massenhinrichtungen von Linken und Oppositionellen in den achtziger Jahren. Er war zudem beteiligt an der Unterstützung für die reaktionären Contras im Kampf gegen die Sandinisten in Nicaragua. Dass er kein Interesse an einer Revolte hat, die außer Kontrolle gerät und die Grundfesten der islamischen Republik erschüttert, wird bereits in seiner Erklärung vom 14. Juni deutlich, in der er sich zur Verfassung der Islamischen Republik bekennt und erklärt:
„Als jemand, der seinen Dienst tut, richte ich meine wiederholte eindringliche Bitte an Sie, Ihren zivilen und legalen Widerstand friedlich und unter Einhaltung des Grundsatzes der Vermeidung von Auseinandersetzungen landesweit fortzusetzen. (…) Ich möchte die Ordnungskräfte, die meine Sympathie haben, davor warnen, den spontanen Reaktionen der Menschen mit aggressiven Mitteln zu begegnen. Sie sollten nicht zulassen, dass das Vertrauen der Menschen in dieses wertvolle Organ beschädigt wird. Diese Menschen sind zur Durchsetzung ihrer und eurer Rechte auf die Bühne getreten. Sie sind eure Brüder und Schwestern. Die Stärke der militärischen Kräfte und der Ordnungskräfte lag immer in ihrer Verbundenheit mit den Menschen und dies wird auch in Zukunft so sein.“10
Aus Sorge vor Repression sagt Mussawi am 14. Juni die für Montag, den 15. Juni, geplante Großdemonstration ab. Die Veranstaltung sei verschoben worden, berichten die Nachrichtenagentur DPA und der britische Sender BBC übereinstimmend.
15. Juni: Der Sturm bricht los
Doch am 15. Juni bricht ein regelrechter Sturm los: Drei Millionen Menschen demonstrieren. Die Lage spitzt sich weiter zu. Es sind genau so viele auf der Straße wie 1979, als der Schah gestürzt wurde. 30 Jahre nach der Revolution gegen das Schahregime beginnt im Iran eine neue Revolte. Robert Fisk schreibt über die Zusammensetzung der Demonstrationen:
„Dies waren nicht bloß die schmucken, jungen Ladies aus dem Norden von Teheran mit ihren Sonnenbrillen. Die Armen waren auch da, die Straßenarbeiter und Frauen mittleren Alters im kompletten Tschador. Einige hatten ihre Kleinkinder auf den Schultern oder Kinder an der Hand und sprachen von Zeit zu Zeit mit ihnen, versuchten, ihnen die Bedeutung dieses Tages zu erklären, Kindern, die sich in den kommenden Jahren nicht daran erinnern würden, dass sie dort waren, am Tag der Tage.“11
Hervorstechend ist bei den Protesten außerdem die Beteiligung von Frauen, die teilweise unverschleiert auf Demonstrationen auftreten. Eine Ermutigung für Frauen ist die Rolle, die Sahra Rahnaward, Ehefrau von Mussawi, bei den Wahlkampfkundgebungen spielt. Der SPIEGEL beschreibt ihre Rolle:
„Seit der Revolution 1979 hat keine iranische Politiker-Gattin, keine iranische Frau derart in der Öffentlichkeit gestanden wie Sahra Rahnaward. Selbst auf Wahlkampfplakaten ist Rahnaward zu sehen: Hand in Hand steht die Kunstprofessorin neben ihrem Mann – im sittenstrengen Iran ist allein das spektakulär. Zudem trägt sie dabei den Tschador zurückgeschlagen, statt einem schlicht schwarzen bedeckt ein mit Blumen bedrucktes Tuch ihr Haar. Zigtausendfach ist dieses Bild in diesen Tagen in Teheran zu sehen.“12
Tag für Tag drückt sich in den Forderungen der Protestierenden ein steigendes Selbstbewusstsein aus: „Wartet nur, bis wir bewaffnet sind“ oder „Panzer – Gewehre – Basidschi – Ihr habt jetzt keine Wirkung mehr.“13
Mussawi selbst, der die Demo abgesagt hatte, solidarisiert sich im Nachhinein mit den Protestierenden, um Einfluss in der Bewegung zu behalten und tritt an diesem Tag zum ersten Mal öffentlich auf. Die Macht der Massen und die Radikalisierung spürend ruft er seine Anhänger zur Mäßigung auf.14 Doch während Mussawi versucht, die Massen auf legale Mittel des Protests einzuschwören, skandieren die DemonstrantInnen weiter „Tod dem Ahmadinedschad“. Mussawi hat die Bewegung weder organisiert, noch kann er sie kontrollieren. Er fungiert eher als Türöffner:
„Mussawi ist somit nicht – wie häufig fälschlicherweise dargestellt – der Kopf dieser Bewegung. Viel mehr benutzt dieses dezentrale, breite Bündnis ihn und andere sympathisierende Prominente aus dem politischen System als eine Art Legitimationsschild. Wenn Mussawi zu Demos aufruft, folgen die dann in Massen anwesenden ProtestlerInnen nicht dem Ruf des oft als ,Helden der Bewegung‘ Gepriesenen; viel mehr nutzen sie diese Gelegenheit einer laut angekündigten, offiziellen und somit nicht so einfach niederzuknüppelnden Versammlung zur Vernetzung untereinander.“15
In diesem Sinne verkörpert Mussawi einen gewissen Schutz für die Bewegung. Bereits an den Slogans der Bewegung wird jedoch deutlich, dass es keine tief sitzenden Illusionen in Mussawi gibt. Mussawi steht für eine Reform, nicht die Beseitigung des klerikalen Systems. Die Repression ist für jede und jeden gegenwärtig. Fünf Studierende an der Teheraner Universität werden getötet. Immer wieder geht die Basidschi-Miliz mit Schlagstöcken, Tränengas und scharfer Munition gegen die Großdemonstrationen vor. Auch Eisenstangen und Stahlkabel gehören zu ihrem Repertoire der Grausamkeit. Trotzdem strömen immer mehr auf die Straßen. Gemeinsam auf der Straße ist die Angst der Einzelnen auf einmal verschwunden. Irans Junitage sind wie viele andere Revolutionen oder Revolten ein Beleg, wie selbst ein bis an die Zähne bewaffnetes Regime durch Massenproteste ins Wanken geraten kann, wenn sich die unterdrückten Massen und Teile der Mittelschichten erst zusammen schließen.
„Seit 1979 hat es nicht mehr solche Proteste auf den Boulevards dieser glühenden, verzweifelten Stadt gegeben, weder zahlenmäßig noch bezüglich der überwältigenden Unterstützung. Sie drängelten und schubsten sich durch die engen Gassen, um die Hauptverkehrsadern zu erreichen und trafen dort auf die Polizei, behelmt und mit Schlagstöcken, beiderseits entlang der Straße aufgestellt. Die Leute ignorierten sie einfach. Die Polizisten, zahlenmäßig so hoffnungslos unterlegen, lächelten kleinlaut und nickten – zu unserer Überraschung – den Menschen zu, die nach Freiheit verlangten. Kaum zu glauben, dass die Regierung diese Demo verboten hatte (…) Während wir neben der ungeheuren Menschenmenge entlang liefen waren wir alle beherrscht von dem Gefühl, keine Angst haben zu müssen. Wer würde es jetzt wagen sie anzugreifen? Welche Regierung kann sich dem Willen dieser entschlossenen Volksmassen verschließen? Gefährliche Fragen.”16
In der Abenddämmerung werden die Basidschi von Protestierenden verfolgt und teilweise in die Flucht geschlagen. In der Nacht schlägt das Regime brutal zurück. Scharfschützen lauern auf den Dächern, Basidschi-Milizen fahren durch Motorrädern durch die Stadt. An diesem Tag verschwindet der 19-jährige Sohrab Arabi. Nur wenige der vielen grausamen Ereignisse schaffen es überhaupt in die internationalen Medien. Laut Voice of America wurde Sohrab Arabi am 15. Juni von einem Basidschi mit zwei Schüssen auf offener Straße gezielt ermordet. Drei Wochen lang wurde seine Familie im Unklaren gelassen. Im Interview sagt seine Mutter Parvin Fahimi:
„Er ist durch eine Kugel ins Herz gestorben, aber wer sie abgefeuert hat, wissen wir nicht. Nach dem Verschwinden meines Sohnes wurde ich von einer Stelle zur anderen verwiesen und bekam zu hören: ,Gehen sie ihn doch selber suchen.‘ Schließlich sagte ein hoher Beamter, mein Sohn sei im Gefängnis, es gehe ihm gut; dann durfte ich Tage später seine Leiche abholen. (…) Besonders berührt mich, dass nachts von vielen Dächern jetzt ein neuer Protestruf erschallt: „Nicht Sohrab ist tot, sondern die neue Regierung.“ 17
Die Bewegung beginnt ihre eigene Stärke zu spüren. Die Solidarität ist groß. Der Protest erfasst selbst die iranische Fußballnationalmannschaft. Karimi, Mahdavikia und vier weitere Spieler tragen am 18. Juni während eines WM-Qualifikationsspiels in Südkorea aus Protest grüne Bänder. Die Zentren der Revolte sind zu Beginn die Universitäten und verschiedene eher kleinbürgerlich-akademische Stadtteile Teherans. Nach und nach dehnt sich die Bewegung auf weitere Städte wie Isfahan, Schiras, Maschad und andere Schichten der Bevölkerung aus. Es kommt zu ersten staatlich organisierten Demonstrationen von Ahmadinedschad-Anhängern. Der Wächterrat kündigt eine neue Stimmauszählung eines Teils der Stimmen an. Die Regierung erteilt ausländischen JournalistInnen ein Verbot, über nicht genehmigte Demonstrationen zu berichten. Ein genaues Bild über die Lage zu bekommen, wird zunehmend schwer. Besonders iranische Jugendliche nutzen Facebook und Twitter, um genau zu berichten.
Mittelstandskids und Arbeiterklasse
Verschiedene Linke sprechen der revolutionären Bewegung Irans ab, progressiv zu sein und verweisen dabei auf eine fehlende Beteiligung der Arbeiterklasse an den Protesten und bemängeln, dass die Bewegung hauptsächlich von Studierenden und Intellektuellen getragen werde. So beschwert sich Werner Pirker in der junge Welt:
„Die ,grüne‘ Agenda ist vielmehr eine liberale. Das die grüne Welle tragende Subjekt sind die städtischen Mittelschichten, die Intellektuellen und die Jugend. (…) Die iranische Revolution anno 2009 hat sich in postmoderner Verkehrung des Revolutionsbegriffs die soziale Deemanzipation auf ihre Fahnen geschrieben.“18
Leute wie Werner Pirker haben offenbar eine Vorstellung von perfekten Revolutionen, die fertig vom Himmel fallen. Ja, die Bewegung wurde zu Beginn vor allem von Studierenden getragen. Im Gegensatz zu Werner Pirkers Erklärung haben sich laut Robert Fisk und einer Vielzahl anderer Kommentatoren und Augenzeugen aber sehr wohl Arme, Arbeiter und vor allem Frauen an den Protesten beteiligt. Houshang Sepehr zu Folge waren es vor allem die erwerbslosen Jugendlichen und die Studierenden, die zuerst auf die Straße gingen, besonders die jungen Frauen.19 Bei der Kundgebung am 15. Juni mit mehreren Millionen Menschen spricht allein die Größe der Demonstration dafür, dass sich neben Jugendlichen auch Lohnabhängige und Erwerbslose an den Demos beteiligt haben.
Aber selbst wenn Werner Pirker Recht hätte und sich anfangs nur Studierende und Intellektuelle an der Revolution beteiligt hätten: Wer sich darüber aufregt, der vertritt eine äußerst krude Vorstellung von Revolutionen und Klassenkampf, versteht nicht den Zusammenhang zwischen dem Kampf für politisch-demokratische Forderungen in einem Land wie Iran, der Sprengkraft solcher Forderungen und der Lage der arbeitenden Bevölkerung. Angesichts der massiven Unterdrückung der iranischen Jugend ist es mehr als selbstverständlich, dass sie als Erstes in den Kampf für demokratische Rechte eintreten. Das war auch in Frankreich 1968 nicht anders: Im Mai kam es zu einem Generalstreik von zehn Millionen Menschen. Begonnen hatte die revolutionäre Bewegung mit dem Kampf der Studierenden an der Uni Nanterre gegen die Geschlechtertrennung in ihrem Wohnheim20. Nicht besonders klassenspezifisch, n‘est pas, Werner Pirker?
In dem Zusammenhang sei erinnert an das, was der russische Revolutionär Leo Trotzki im Vorwort der „Geschichte der Russischen Revolution“ schrieb:
„Die Massen gehen in die Revolution nicht mit einem fertigen Plan der gesellschaftlichen Neuordnung hinein, sondern mit dem scharfen Gefühl der Unmöglichkeit, die alte Gesellschaft länger zu erdulden.“21
Joachim Guilliard von der DKP und Autor von „Irak – ein belagertes Land“, wirft in seinem Blogeintrag vom 20. Juni 2009 die Frage auf, ob die iranische Revolution nicht die nächste „Farbenrevolution“ sei und sammelt dafür eifrig angebliche Belege. Er verweist unter anderem auf verschiedene Pläne des US-Imperialismus, eine Opposition im Iran aufzubauen, die einen regime change von innen herbei führen soll.22 Aus dem Wunsch des US-Imperialismus die Verhältnisse im Iran zu ändern, abzuleiten, dass die Masse der Bevölkerung genau nach der Pfeife des US-Imperialismus tanzt und ihre Interessen identisch mit denen der US-Konzerne und Obamas sind, ist allerdings mehr als banal. Zu solch einer Schlussfolgerung kann nur kommen, wer die Masse der Protestierenden als Marionette und nicht als eigenständig handelnde Akteure begreift.
Zu „Farbenrevolutionen“ kam es vor ein paar Jahren in ehemaligen Sowjetrepubliken wie der Ukraine und Kirgistan. In diesen und anderen Ländern hatte die bürgerliche Opposition die Kontrolle über die Massen und war in der Lage, diese in ihrem Interesse gegen einen anderen ebenfalls prokapitalistischen Block zu lenken. Diese Möglichkeiten hat Mussawi im Iran 2009 nach allem was bereits ausgeführt wurde nicht. Die Bewegung nimmt zwar Bezug auf Mussawi und nutzt seine Beteiligung an den Protesten, entwickelt sich aber unabhängig von ihm.
Am 18. Juni organisieren Beschäftigte von Iran Khodro, dem größten Autoproduzenten des Nahen Ostens, einen befristeten Streik zur Unterstützung der Massenproteste und bringen ihre Solidarität in einer Erklärung zum Ausdruck:
„Wir erklären uns solidarisch mit der Bewegung des iranischen Volkes. Wir sehen eine Beleidigung der Intelligenz des Volkes, eine Missachtung des Wählerwillens. Die Regierung trampelt auf den Prinzipien der Verfassung herum. Es ist unsere Pflicht, uns der Bewegung des Volkes anzuschließen. Am Donnerstag, den 18. Juni, werden wir, die Arbeiter von Iran Khodro, die Arbeit für eine halbe Stunde einstellen, um gegen die Unterdrückung der Studierenden, Arbeiter und Frauen zu protestieren. Wir erklären unsere Solidarität mit der Bewegung des Volkes im Iran. Tagesschicht: 10 bis 10.30 Uhr; Nachtschicht: von 3.00 bis 3.30 Uhr. Die Arbeiter von Iran Khodro.“23
Solidaritätsbekundungen mit den Massenprotesten gibt es auch aus anderen Teilen der Arbeiterklasse wie beispielsweise von der Gewerkschaft der Teheraner Busfahrern (Vahed), die bei der Wahl zum Wahlboykott aufgerufen hatte. Sie erklärt:
„Wir unterstützen diese Bewegung des iranischen Volkes, eine freie, unabhängige und zivile Gesellschaft aufzubauen – und wir verurteilen jede Art von Gewalt und Repression.“24
Andere Streiks für ökonomische Forderungen bekommen schneller einen politischen Charakter: Am 1. Juli streiken in der südwestlichen Provinz Khusistan Tausende Bergarbeiter. Als die Sicherheitskräfte anrücken und die Arbeiter auseinandertreiben wollen, rufen die Arbeiter die Parole der Opposition: „Tod dem Diktator!“
Aber noch sind die ArbeiterInnen nicht überwiegend in ihrer sozialen Funktion aktiv, agieren nicht als Klasse, sondern nehmen als BürgerInnen an den Protesten teil. Streiks zur Unterstützung der Proteste sind abgesehen vom Solidaritätsstreik der Khodro-Beschäftigten nicht bekannt, wenngleich es seit Juni eine weitere Zunahme von betrieblichen Kämpfen um ökonomische Forderungen gibt. Es gibt Berichte über Diskussionen über die Notwendigkeit eines Generalstreiks und erste Aufrufe von Gewerkschaften dazu, die im Untergrund agieren.
Die arbeitende Bevölkerung mit in den Kampf einzubeziehen, bleibt eine der wichtigsten Aufgaben. In der Revolution 1978/79 spielte die Arbeiterklasse durch einen monatelangen Generalstreik die entscheidende Rolle, das Land lahmzulegen und den Schah zu stürzen. Damals verhinderten BahnarbeiterInnen, dass die Militärführung reisen konnte. Beschäftigte der Handelsbranche blockierten die Einfuhr alle Waren außer solchen, die unerlässlich sind wie etwa Medikamente. Es war vor allem die Macht der Arbeiterbewegung, die den Schah stürzte. Durch den Aufbau der Schoras (Räte) in Betrieben wies die arbeitende Bevölkerung darüber hinaus einen Weg, wie eine alternative Organisierung von Gesellschaft und Produktion möglich wäre. Die ÖlarbeiterInnen von Khusistan forderten noch vor dem Zusammenbruch des Regimes „Arbeiterbeteiligung bei den politischen Angelegenheiten des Landes“ als einziger Weg für den „wahren Aufbau“ einer iranischen Republik. Solche Räte sind auch heute nötig, diesmal landesweit koordiniert.
Der Schulterschluss zu der arbeitenden Bevölkerung ist auch deshalb möglich und nötig, weil gerade die arbeitende Bevölkerung unter fehlenden gewerkschaftlichen und politischen Rechten leidet und sich die soziale Lage weiter verschlechtert. Die Inflation liegt zwischen 25 und 30 Prozent. Seit Frühjahr 2008 hat sich die Kaufkraft halbiert. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Lohnabhängige haben oftmals befristete Verträge oder verdienen so wenig, dass das Geld schwerlich zum Leben reicht. Löhne werden nicht rechtzeitig ausbezahlt und Betriebe schließen. Laut Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.9.2009 haben 500 Betriebe in den letzten Jahren keine Löhne ausgezahlt.25
Parisa Nasrabadi, Mitglied der Sozialistischen StudentInnen im Iran und des CWI, derzeit im Exil lebend, fasst die Lage zusammen:
„Als ArbeiterInnen im Iran größtenteils befristete Jobs hatten, entschieden sie sich in vielen Fällen gegen einen Streik. Nun haben wir eine völlig andere Situation, in der ArbeiterInnen über einen Zeitraum von mehreren Monaten nicht bezahlt wurden und deshalb spüren, dass sie keine andere Wahl haben, als zu kämpfen. SozialistInnen sind nicht die einzigen, wenn es darum geht, zu verstehen, dass die Arbeiterklasse diejenige ist, die die Macht hat, die Gesellschaft grundlegend zu verändern. Das Regime selbst weiß das und das ist der Grund für die brutalen Repressionen gegen ArbeiterInnen, die sich im Kampf befinden. Heute mangelt es ArbeiterInnen an einer selbstständigen Klassenorganisation. Sie haben keine Massenpartei und keine wirklichen Gewerkschaften. Darum kam die Bewegung nicht weiter voran.26
Bereits seit 2003 haben betriebliche Kämpfen und Proteste zugenommen. So kam es zu Streiks in den Zuckerfabriken in Südiran, bei Khodro, bei Lehrerinnen und Lehrern, TextilarbeiterInnen und bei den Teheraner Busfahrern. Pedram Shayar, Mitglied des attac-Koordinierungskreises, berichtet:
„Kaum ein Tag verging in den letzten Jahren ohne spontane Streiks und Arbeiterdemonstrationen. Zwar wurde jeder Ansatz zur Organisierung brutal bekämpft, aber die Aktionen wurden radikaler, und erste unabhängige Gewerkschaften, etwa der Teheraner Busfahrer oder der Lehrer, waren nicht mehr zu verhindern.“27
20. Juni: Der erste Wendepunkt
Der Anfang vom Ende der ersten Welle der Proteste beginnt am Freitag, den 19. Juni. Der oberste religiöse Führer Ajatollah Khamenei äußert sich das erste Mal öffentlich seit Ausbruch der Massenproteste und stellt sich hinter Ahmadinedschad. In seiner Rede nach dem Freitagsgebet verkündet er, dass Ahmadinedschad die Wahl gewonnen habe und er weitere Demonstrationen verbiete.
Vor diesem Hintergrund kommt es am Samstag, 20. Juni zu den bis dahin blutigsten Zusammenstößen seit dem Wahltag. Der Tod der jungen Frau Neda Agha Soltan wird zu einem Symbol für den Widerstand und die Grausamkeit des Regimes. Das 44 Sekunden lange Video von ihrer Ermordung geht binnen Stunden um die ganze Welt. Die Zeitung The Times kürt Neda zur „Person des Jahres“ 2009. Am 20. Juni werden mindestens zwölf Menschen getötet, Hunderte verletzt und festgenommen. In den Tagen darauf kommt es erneut zu Protesten. Doch es sind weniger Menschen als zuvor und die Teilnahme an Demonstrationen wird für jede/n Einzelne/n gefährlicher. Die Basidschi haben es leichter, einzelne in Seitenstraßen abzudrängen und anzugreifen. Mussawi ruft am 21. Juni weiterhin zu Protesten auf, gleichfalls appelliert er an die Protestierenden Zurückhaltung zu üben:
„Es ist euer Recht, gegen Lügen und Betrug zu protestieren, aber ihr solltet immer Zurückhaltung üben.“28
Was nach der Wende am 20. Juni geschieht, berichten Augenzeugen:
„Als wir am 22. Juni von den Dächern ,Allahu Akbar‘ riefen, rückten die Basidschi in unser Viertel ein und begannen scharf in die Luft zu schießen, und zwar Richtung der Gebäude, von denen sie dachten, dass von dort die Rufe kommen.“
Eine andere Teilnehmerin der Proteste erzählt:
„Sie drangen in die Häuser ein und schlugen die Bewohner. Als Nachbarn sie mit Flüchen eindeckten und Steine auf sie warfen, um sie von den Schlägen abzubringen, griffen sie die Häuser der Nachbarn an und versuchten, dort einzudringen.“29
Der 20. Juni stellt nur einen vorläufigen Wendepunkt der Bewegung dar. Auch wenn das Ausmaß der Repression 2009 nicht an das gewaltsame Eingreifen des Staatsapparats 1978/1979 heran reicht, kommt es mit der Zunahme der Repression zu einem vorläufigen Abebben der Bewegung. Für viele stellt die Repression und das Fehlen von politischen und gewerkschaftlichen Rechten und Arbeiterorganisationen im Iran heute nachvollziehbar eine große Hürde dar, um sich an Protesten zu beteiligen. Die iranische Revolution 1978/1979 ist jedoch ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass die Massen, wenn sie fest entschlossen sind, ein Regime mit einer der weltweit stärksten Armeen stürzen können.
Doch die Unterbrechung der Proteste ist nicht von langer Dauer. Immer wieder kommt es im Herbst 2009 zu massenhaftem Protest. Die Bewegung nutzt dazu vor allem offizielle Feiertage, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. So kommt es zu großen Protesten am Jahrestag der Geiselnahme in der US-Botschaft am 4. November. Am Tag, den das Regime üblicherweise für seine eigene Propaganda nutzt, rufen Demonstranten lautstark Slogans wie „Nieder mit der Diktatur“ und „Tod dem Khamenei“ und verbrennen Bilder von Khamenei. Parisa Nasrabadi berichtet:
„Der unterlegende Präsidentschaftskandidat Mussawi hat begonnen, sich zurückzuziehen. Es ist bedeutend, dass die Massenbewegung beginnt sich vom ,Reformerflügel‘ zu entfernen und unabhängiger wird.“
Gleichzeitig gibt es Kräfte, die zur Bildung einer nationalen „Grünen Regierung“ aufrufen, nachdem sie „Tod für Khamenei“ gefordert haben. Parisa Nasrabadi kommentiert weiter:
„Die Arbeiter akzeptieren die reformistischen Führer nicht, aber haben keine anderen. Mit einer revolutionären Führung würde sich die Situation schnell verändern.“30
Auch am Tag der Studenten am 7. Dezember kommt es zu Großdemonstrationen.
Gegenwehr zum Aschura-Fest
Im Dezember erreicht die Bewegung einen weiteren Höhepunkt. Die Beisetzung von Großayatollah Hossein-Ali Montazeri, der der bürgerlichen Opposition angehört, bringt am 21. Dezember Hunderttausende bis zu einer Million Menschen in der heiligen Stadt Qom auf die Straße. An den darauf folgenden Tagen kommt es immer wieder zu Protesten.
Ihren zweiten Höhepunkt im Jahr 2009 erlangt die Bewegung am 27. Dezember. Sie nutzt die offiziellen Feierlichkeiten des schiitischen Aschura-Festes. In Teheran, Isfahan, Qom, Ahvaz, Nadschaf und anderen Städten kommt es zu Großdemonstrationen von Zehntausenden und zu einem harten Durchgreifen des Staatsapparats. Eine Radikalisierung der Bewegung wird an den Slogans sichtbar und daran, dass Protestierende beginnen, Sicherheitskräfte anzugreifen. Tausende rufen „Wir werden kämpfen, wir werden sterben, wir werden unser Land zurückerobern.“ Oder: „Es ist der Monat des Bluts, die Basidschi werden fallen.“31
Als Reaktion auf Morddrohungen gegen Mussawi erklärt dieser, dass auch er bereit sei, für die Rechte des iranischen Volkes zu sterben. Die Offensive gegen das Regime bricht wie schon am 15. Juni unabhängig von Mussawi los. Mussawi selbst dazu:
„Aber weder Herr Karrubi noch ich haben irgendwelche Stellungnahmen veröffentlicht, und trotzdem gehen die protestierenden Menschen auf die Straße.“32
Tränengas, Schlagstöcke und die konzentrierte Brutalität des Regimes prasseln auf die Demonstranten nieder. In Teheran eröffnet das Militär das Feuer auf Demonstranten und erschießt acht bis fünfzehn Menschen – darunter auch den Neffen des Oppositionsführers Mussawi.
SPIEGEL Online berichtet am 28.12.2009:
„Die Bilder und Amateurvideos, die per Internet aus Iran in die Welt geschickt wurden, zeigten viele Szenen, die den über Monate entstandenen Sehgewohnheiten widersprechen: Diesmal waren es die Demonstranten, die Polizisten jagten, zusammen schlugen, festsetzten. Diesmal waren es Sicherheitskräfte, die Blut überströmt an den Straßenrändern saßen. Und: Es gab Bilder von Uniformierten, die die Seiten gewechselt hatten, die von Demonstranten auf Schultern getragen wurden und die grünen Bänder der Protestbewegung schwenkten.“33
Etliche Motorräder der Basidschi werden an diesem Tag in Teheran in Brand gesetzt. Oppositionskräfte behaupten laut SPIEGEL, dass Religionsführer Khamenei zwischenzeitlich aus seiner Residenz im Teheraner Norden per Regierungsflugzeug in Sicherheit gebracht wurde.
Der Anfang vom Ende
Die Legitimität des Regimes ist erschüttert: Noch nicht einmal der Schah hatte sich 1978 getraut, am heiligen Aschura-Fest in die Menge schießen zu lassen. Dass sich Ahmadinedschad dazu gezwungen sieht, drückt die ernste Lage aus, in der sich das Regime befindet. Die Erschießung und Verhaftung von Oppositionellen einschließlich von Geistlichen am höchsten schiitischen Feiertag kommt einer schweren Erschütterung der ideologischen Basis des klerikalen Regimes gleich.
Statt für die letzte Möglichkeit einer politischen Lösung unter Einbeziehung der bürgerlichen Opposition hat sich das Regime für eine weitere Eskalation und den Einsatz brutaler Gewalt entschieden. Dahinter scheint die Annahme zu stecken, dass jedes Zugeständnis an die Bewegung, der Stein sein könnte, der das ganze Gebäude des Regimes zum Einsturz bringen wird. Auf einmal geht es für Khamenei und Ahmadinedschad nicht mehr nur um Macht, Privilegien und die Unterdrückung der Opposition: Jetzt geht es auch um den eigenen Kopf und das eigene Überleben. Aber auch die Bewegung entwickelt sich weiter. Martin Gehlen von der Frankfurter Rundschau kommentiert treffend:
„Längst geht es nicht mehr um eine Reform des bestehenden Systems, wie sie dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Mir Hussein Mussawi und seinen grünen Beratern vorschwebte. (…) Kurz: Der iranische Nachwuchs will ein Ende der Diktatur im Namen Gottes.“34
In Anlehnung an den Slogan von 1979 „Unabhängigkeit, Freiheit, Islamische Republik“ skandieren die Massen im Dezember 2009 abgewandelt: „Freiheit, Unabhängigkeit, Iranische Republik“.35 Der Gegensatz zwischen den Zielen der Massen und Mussawi ist seit den Protesten im Juni noch größer geworden. Während immer mehr Menschen das islamische Regime stürzen wollen, setzt Mussawi auf Verhandlungen mit dem Regime: „Es ist noch nicht zu spät“, sagt Mussawi in den Tagen nach den Dezemberprotesten und betont, die Krise könne noch überwunden werden. Wichtig sei vor allem, ein neues Wahlrecht zu verabschieden, eine Amnestie für alle politischen Gefangenen und die Durchsetzung der Pressefreiheit.36
Auch bürgerliche Kommentatoren beginnen, einen revolutionären Umsturz im Iran für wahrscheinlicher zu halten. Das herrschende Regime ist gespalten, die Mittelschichten schlagen sich auf die Seite der Revolution, der Protest gewinnt an Breite und Schlagkraft. Der Einsatz von Gewalt vermag im Dezember immer weniger die Massen zu stoppen. Immer mehr Menschen trauen sich, den Staatsapparat herauszufordern. Verschiedenen Berichten zufolge weigern sich Sicherheitskräfte vereinzelt, auf Demonstranten zu schießen. Die Bewegung umfasst zunehmend breitere Teile der Bevölkerung:
„Die Lesart, den Protest trügen vor allem die verwestlichten und privilegierten Jugendlichen aus den reichen nördlichen Stadtteilen Teherans, erweist sich als grotesker Irrtum. Es ist eine Volksbewegung. Sie hat auch solche eher konservativen Millionenstädte wie Isfahan und Mesched erfasst. Sie reicht über das ganze Land.“37
Arbeitslose, Basaris und ArbeiterInnen schließen sich zunehmend den Protesten an. In Isfahan bekommt die Bewegung vor allem aus dem Arbeiterviertel Hossein Abad Unterstützung. In Teheran sind mehr und mehr Menschen aus dem ärmeren Süden der Millionenstadt an Protesten beteiligt.38 Die Dezembertage markieren den Anfang vom Ende des Regimes. Ein Hauch von 1979 weht durch die Straßen. Die Route, die die Großdemonstration am 27. Dezember nimmt, ist von hoher Symbolkraft. Dieselbe Route hatte auch die größte Massendemonstration bei der Revolution 1979 genommen. Doch am Ende ist das Regime noch nicht. Durch gezielte Tötungen und Hunderte von Festnahmen kann das Regime Anfang 2010 vorerst wieder die Oberhand gewinnen. Nach den Protesten an Aschura schlägt das Regime zu. Tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle werden nachts aus ihren Häusern geholt, monatelang festgehalten, ohne Gerichtsverhandlung, ohne die Chance einen Anwalt zu sehen. Andere werden nach kurzen Schauprozessen hingerichtet.
Die Aktionen zum Jahrestag des Sturzes des Schah-Regimes im Februar fallen weit schwächer aus als im Dezember. Während im Dezember der Opposition die Straße zu gehören scheint, schafft es die Regierung am Tag der Revolutionsfeier große Aufmärsche und Proteste zu unterbinden und eine große Kundgebung am Azadi-Platz in Teheran zu organisieren. Laut Medienberichten nehmen lediglich einige Tausende an den Protesten der Opposition teil. Viele Oppositionelle sind enttäuscht. Ein starkes Aufgebot der Basidschi-Miliz und Drohungen im Vorfeld haben zum Ziel, die Opposition von den offiziellen Feierlichkeiten fern zu halten:
„Bereits vor dem Jahrestag am Donnerstag hatte der Polizeichef Esmail Ahmadi Moghaddam mit einem hartes Durchgreifen der Miliz und der Revolutionsgarde gegen Gegendemonstranten gedroht. Moghaddam gab auch bekannt, dass bereits im Vorfeld der Demonstrationen Oppositionelle festgenommen wurden.“39
Nur wenige Tage und Wochen vor den offiziellen Feierlichkeiten nimmt die iranische Justiz Hunderte von RegierungskritikerInnen fest, lässt zwei junge Männer hinrichten und kündigt weitere Exekutionen an. Die Frankfurter Rundschau berichtet am 12. Februar vom Ablauf der Proteste:
„In vielen anderen Teilen der Hauptstadt kam es dagegen zu Straßenschlachten zwischen Mitgliedern der grünen Bewegung und Revolutionären Garden. Dabei wurden nach Angaben mehrerer Websites alle drei Oppositionsführer, Mir Hussein Mussawi, Mehdi Karrubi und Mohammed Khatami, persönlich angegriffen und mit gezückten Messern bedroht. Mussawi, der eine eigene Kundgebung abhalten wollte, musste vor Tränengasgranaten in Deckung gehen. Am Sadeghieh-Platz griffen Schläger in Zivil die Autos von Karrubi und Khatami an und zertrümmerten ihre Scheiben. (…) An vielen Plätzen schlugen Sicherheitskräfte mit Stöcken und Eisenketten auf die Menschen ein, setzten Tränengas und Farbgeschosse ein, um Demonstranten für Verhaftungen zu markieren. Die Menge antwortete mit Rufen wie ,Tod dem Diktator‘ und ,Tod Khamenei‘. Augenzeugen berichteten von brennenden Polizeiwagen und Motorrädern. Mit vor Ort waren auch kürzlich aus China gelieferte gepanzerte Wasserwerfer, die heißes Wasser auf Demonstranten spritzen können. Wie in Teheran kam es auch in Städten wie Täbris, Schiras, Maschad und Isfahan zu Unruhen.“40
Der Terror des Regimes spielt neben den organisatorischen und politischen Schwächen der Bewegung eine zentrale Rolle, um große oppositionelle Proteste im Februar zu verhindern.
„Viele haben schlicht Angst, der Terror der letzten Monate wirkt“, so eine junge Iranerin auf einer Demonstration in Köln.
Ohne eine Perspektive, Durchbrüche durch die Demos zu erzielen, wollen sich offensichtlich viele nicht dem großen Risiko aussetzen, Repressalien zu erleiden. Im Dezember sieht es so aus, als könnte es auch schnell zu einem Sturz des Regimes kommen. Es gibt aber auch gegenläufige Faktoren, die darauf hindeuten, dass der revolutionäre Prozess sich auch noch über eine längere Zeit erstrecken kann. Das Regime Ahmadinedschad wankt zwar, hängt aber nicht wie das Schah-Regime vor 30 Jahren völlig in der Luft. Ahmadinedschad und Khamenei gelingt es zumindest immer noch Zehntausende bis Hunderttausende zu regierungstreuen Kundgebungen zu mobilisieren, wie im Dezember 2009 oder im Februar 2010 geschehen. Inwiefern es sich bei diesen Kundgebungen um aktive Unterstützer von Ahmadinedschad handelt, ist schwer abzuschätzen. Das ZDF berichtet, dass die Behörden im Dezember die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zusammen mit Tausenden Schulkindern in Bussen zu den zentralen Kundgebungen transportiert hatten.41 In jedem Fall sind die Ereignisse des Februar nur vordergründig ein Hinweis auf Stärke und Stabilität des Regimes. In Wirklichkeit ist ein Staat, der mit solch minutiös geplanter, geballter und vorauseilender Repression gegen Proteste vorgeht, schwach und instabil. Eine Regierung, die ihre Macht immer mehr aus den Knüppeln und Gewehrläufen ihrer Schergen bezieht, verliert in Wirklichkeit mehr und mehr ihre soziale Basis in der Gesellschaft.
Ferner hat das Regime zumindest in Teilen der ländlichen Bevölkerung und der ärmsten Schichten aufgrund der staatlichen Almosen noch eine größere Basis. Es ist gerade von außen unmöglich zu beziffern, wie groß diese Unterstützung noch ist und ob sie aktiv oder passiv ist. Diese kann ins Wanken geraten, wenn die Regierung aufgrund der Wirtschaftskrise zu einer weiteren Streichung von Subventionen u.a. für Lebensmittel gezwungen wird, wie bereits für das erste Halbjahr 2010 angekündigt. Auch die tief sitzende Religiosität in Teilen der Bevölkerung kann eine Rolle dabei spielen, den revolutionären Prozess in der Länge zu ziehen.
Die Weltwirtschaftskrise trifft den Iran
Ein Faktor, der die Bewegung dagegen beschleunigen könnte, ist die ökonomische Entwicklung, die immer mehr Lohnabhängige in den Kampf zwingt und die Basis des Regimes untergräbt. Die weltweite kapitalistische Krise verstärkt den Druck auf ArbeiterInnen und Erwerbslose. Der Fall des Ölpreises – Öl macht einen Großteil des iranischen Exports aus – gibt den Herrschenden weniger Spielraum für Zugeständnisse.
Die Krise zeigt aber auch jetzt schon ihre Wirkung: So hat die Hälfte der Hersteller von Haushaltsgeräten die Produktion eingestellt und die Hälfte der Zuckerproduzenten ihre Betriebe geschlossen. Die restlichen Zuckerfabriken produzieren mit Verlust. Die Textilindustrie ist aufgrund der Krise und des chinesischen Preisdumpings bankrott. Bedeutend ist die weitere Zunahme von Arbeitskämpfen wie der Kampf der Öl-Pipelinearbeiter in Ahvaz, die in den Streik getreten sind, weil sie fünf Monate keinen Lohn erhalten haben. Die FAZ kommentiert:
„Betriebe schließen, oder zahlen keine Gehälter aus, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, Kredite werden nicht zurück bezahlt. Als sehr kritisch bezeichnet Ahmad Tavakkoli, einer der wirtschaftspolitischen Sprecher im iranischen Parlament, daher die Lage, und er warnt besorgt vor einer Revolte der Arbeiter, die gefährlicher werde als die Proteste seit der Wahl vom 12. Juni.“42
Die Bewegung in den Betrieben gibt Anlass zur Hoffnung, dass Tavakkoli Recht behält. Die iranische Revolution hat als eine Revolte gegen die diktatorischen Maßnahmen eines Flügels der herrschenden Klasse begonnen. Im Vordergrund stehen zunächst demokratische Forderungen und das drängende Gefühl vor allem der Jugend und der Frauen, das Hineinregieren der klerikalen Diktatur bis in alle Aspekte des Privatlebens zu beenden.
Die Kämpfenden verknüpfen ihren Kampf noch nicht mehrheitlich mit der Notwendigkeit, den Kapitalismus zu beenden, es handelt sich vorerst um eine politische Revolution im Rahmen eines kapitalistischen Staates. Dies sollte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die tieferen Ursachen der iranischen Revolution sozial sind, zumal vor dem Hintergrund der sozialen Lage der Mehrheit der Bevölkerung und der schweren wirtschaftlichen Krise.
Die Revolte hat das Potenzial, in eine soziale Revolution zur Abschaffung des Kapitalismus hinüber zu wachsen. Eine Abschaffung des Kapitalismus und eine sozialistische Umwälzung der Gesellschaft sind nötig, um demokratische Rechte, politische Freiheit, soziale Absicherung und eine Zukunftsperspektive für Alle überhaupt zu ermöglichen. Mussawi bietet mit seinem Programm für eine stärkere Abhängigkeit vom Westen und eine neoliberale Wirtschaftspolitik keine Alternative zu Ahmadinedschad. Mit ihm wird es kein Ende der islamischen Republik, von Ausbeutung und Unterdrückung geben.
Iran ist zudem kein autarkes Land, sondern Teil des kapitalistischen Weltmarkts. Warum die Entwicklung einer starken iranischen Ökonomie unabhängig von Imperialismus und Weltmarkt eine Illusion bleiben muss, wird in den Texten „Wirtschaft und Staat“ und „Perspektiven und Aufgaben der iranischen Revolution“ untersucht. Eine wichtige Aufgabe der Jugendlichen und Beschäftigten ist es, die Lehren aus der Revolution 1978/79 zu ziehen, in deren Folge sich die Möglichkeit ergab, nicht nur das politische System, sondern den Kapitalismus zu stürzen, sich aus den Reihen der revolutionären ArbeiterInnen und Jugendlichen aber keine politische Kraft herausbildete, die in der Lage war, auf Grundlage eines sozialistisches Programms einen Weg zur Machtübernahme aufzuzeigen. Stattdessen konnten die Mullahs in das Machtvakuum stoßen und den Menschen auf kapitalistischer Grundlage das Leben buchstäblich zur Hölle machen. 2009 war der Beginn einer revolutionären Entwicklung. Mit den Erfahrungen aus 2009 kann die Bewegung 2010 eine neue Qualität gewinnen und zum Sturz des Regimes führen.
Bisher finden die Streiks der Arbeiter noch vereinzelt und isoliert voneinander statt. Eine sozialistische Partei könnte dabei helfen, Streiks der Arbeiter und die politischen Proteste gegen das Regime zu vereinen. Der Aufbau von unabhängigen demokratischen Massenorganisationen der Lohnabhängigen, Jugendlichen und Erwerbslosen ist der erste Schritt zur Selbstorganisation und würde es der Bewegung ermöglichen, sich politisch unabhängig vom Mussawi-Flügel zu organisieren.