Bündnis von Gewerkschaftern und Sozialisten tritt an. Interview mit Hannah Sell
Hannah Sell ist stellvertretende Generalsekretärin der Socialist Party (Schwesterorganisation der SAV in England und Wales). Mit ihr sprach Sascha Stanicic
Die Wahlen am 6. Mai scheinen sehr offen zu sein. Was ist das wahrscheinlichste Ergebnis?
Egal, welches Wahlergebnis es geben wird, die neue Regierung wird schwach sein und wenig Unterstützung in der Gesellschaft genießen. Die letzten Umfragen weisen auf die Wahrscheinlichkeit einer Minderheitsregierung der konservativen Tories hin, aber es ist unmöglich eine Vorhersage zu treffen. Die drei größten kapitalistischen Parteien – die Tories, New Labour und die Liberaldemokraten – liegen in den Umfragen nah beieinander. Einige Umfragen sehen die Liberaldemokraten vor New Labour. Sollte das der Fall sein, wäre das ein einmaliges Ereignis in der Nachkriegsgeschichte. Das würde den Kollaps der letzten Reste historischer Verbindungen der Arbeiterklasse mit Labour repräsentieren. Die Liberaldemokraten sind, wie die Tories und New Labour, eine kapitalistische Partei, die sich für "harte Kürzungen" bei den öffentlichen Ausgaben ausspricht. Trotzdem haben sie sich in den erstmals in Großbritannien stattfindenden Fernsehdebatten so präsentiert, als seien sie anders als die "zwei großen" Parteien.
Viele Arbeiterinnen und Arbeiter erinnern sich noch an die Tory-Regierung unter Thatcher und ziehen in Erwägung Labour zu wählen, um eine Wiederholung davon zu verhindern. Was denkst Du darüber?
Wir verstehen, warum einige Arbeiter mit der Faust in der Tasche Labour wählen werden, um eine Rückkehr der Tories zu verhindern. Der brutale Klassenkrieg, den Thatcher gegen die Arbeiterklasse führte, ist in das Gedächtnis von Arbeiterinnen und Arbeitern eingebrannt. Und es ist wahr, dass die Tories schneller Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben durchsetzen wollen, als New Labour oder die Liberaldemokraten. Die Tories wollen sechs Milliarden Pfund im ersten Haushaltsjahr kürzen, während New Labour ein Jahr damit warten will. Aber da alle Parteien übereinstimmen, dass innerhalb von vier Jahren sechzig Milliarden Pfund gekürzt werden müssen, ist der Unterschied nicht bedeutend. Alistair Darling, der Finanzminister von New Labour, hat gesagt, dass seine Partei „tiefere und härtere Kürzungen als Thatcher“ umsetzen werde. Egal welche Partei an die Macht kommt, wir werden Kürzungen im öffentlichen Dienst in einem Ausmaß sehen, wie es sie seit den 1920er Jahren nicht mehr gab.
Die Socialist Party tritt mit anderen Kräften gemeinsam in der TUSC (Gewerkschaftlich- und sozialistisches Bündnis) an. Kannst Du uns erklären, was TUSC repräsentiert und was das Ziel des Bündnisses ist?
Die Trade Union and Socialist Coalition (TUSC) hat sich zusammengefunden um in 42 Wahlkreisen in Schottland, England und Wales Kandidatinnen und Kandidaten aufzustellen. TUSC tritt gegen alle Kürzungen im öffentlichen Dienst ein. Das Bündnis argumentiert auch für eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft. TUSC-Kandidaten haben finanzielle und aktive Unterstützung von Orts- und Regionalverbänden der Eisenbahnergewerkschaft (RMT), der Gewerkschaft der feuerwehrleute (FBU), der Gewerkschaft der Kommunikationsbeschäftigten (CWU) und anderen erhalten. Außerdem hat der nationale Vorstand der RMT zwanzig TUSC-Kandidaten offiziell unterstützt.
TUSC ist ein bescheidener Schritt, aber dieser hat ein wichtiges Potenzial, in Richtung des Aufbaus einer politischen Interessenvertretung der Arbeiterklasse. Außerdem hilft das Bündnis den Boden zu bereiten für die massiven Kämpfe gegen Kürzungen, die nach den Wahlen nötig werden.
Welche Ergebnisse erwartete Ihr und was würdet Ihr als einen Erfolg bezeichnen? Und welche Auswirkungen hat die Sorge von manchen Arbeitern vor einer Tory-Regierung auf das Wahlergebnis von TUSC und auch der Socialist Party bei den gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen?
Wir wissen, dass bei diesen Wahlen viele Arbeiter mit uns inhaltlich übereinstimmen, aber trotzdem Labour wählen, um die Tories zu stoppen. Das wird wahrscheinlich auch Auswirkungen auf die Kommunalwahlen haben, die ja am selben Tag wie die Parlamentswahlen stattfinden werden. Bei diesen kämpft die SP darum vier ihrer fünf Stadtratssitze zu verteidigen.
Wir erwarten keine großen Stimmergebnisse. Trotzdem ist TUSC jetzt schon ein Erfolg, weil es eine wichtige Schicht von Gewerkschaftern aktiviert hat. Außerdem wurden Hunderttausende mit sozialistischen Ideen erreicht.
Wie sieht es mit der Bedrohung durch die Britische Nationalpartei (BNP) aus?
Die rechtsextreme und rassistische BNP hat bei den Europawahlen fast eine Million Stimmen gewonnen und ihre zwei ersten Europaabgeordneten erreicht. Diesmal wollen sie ihren ersten Parlamentsabgeordneten und die Kontrolle über den Stadtrat von Barking in Ost-London erreichen. Selbst wenn sie das nicht erreichen, sind sie eine wachsende Gefahr bei Wahlen. Die Gebiete, in denen die BNP-Ergebnisse am meisten gestiegen sind, waren früher Hochburgen von Labour. Wir hatten dreizehn Jahre eine Labour-Regierung, die im Interesse der Superreichen gehandelt hat. Zum Beispiel besitzen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung heute 237 mal so viel, wie die ärmsten zehn Prozent. Das ist der höchste Anteil aller industrialisierten Städte weltweit. Da ist es kein Wunder, dass ein Teil von Arbeitern aus Wut und Verzweiflung seinen Protest mit einer Stimme für die BNP ausdrückt. Um die BNP zu schlagen, brauchen wir Demonstrationen und Proteste – aber auch eine positive politische Alternative, eine wirkliche Arbeiterpartei, die die Interessen aller Arbeiterinnen und Arbeiter vertritt, unabhängig von ihrer Nationalität. TUSC ist ein Schritt zur Bildung einer solchen Partei.
Es gab eine Welle von Streiks und betrieblichen Kämpfen von britischen Arbeiterinnen und Arbeitern in den letzten ein, zwei Jahren. Warum konzentriert Ihr Eure Aktivitäten zum Aufbau von Widerstand in der Arbeiterklasse nicht darauf?
Die Streikaktionen sind sehr wichtig und sie repräsentieren das Wiedererwachen der industriellen Arbeiterklasse zum ersten mal nach zwanzig Jahren. Ein Anzeichen für die existierende Wut zeigte sich auch daran, dass die Streikaktionen der Regierungsangestellten und der British Airways Beschäftigten bis zur Ausrufung der Parlamentswahl anhielten. Die RMT wollte während des Wahlkampfes einen Streik durchführen, aber die Anti-Gewerkschaftsgesetze wurden genutzt, um den Streik zu verbieten. Die Anti-Gewerkschaftsgesetze wurden in den letzten Jahren wiederholt zu diesem Zweck genutzt und der Kampf für ihre Rücknahme bzw. sie in bestimmten Situationen auch zu brechen wird immer wichtiger. Der Verlauf der Ereignisse nach den Wahlen ist nicht genau vorherzusehen, aber es ist klar, dass es zu Kämpfen und Bewegungen, vor allem im öffentlichen Dienst, kommen wird, die alles bisherige in den Schatten stellen werden. Sogar Dave Prentis, der rechte Vorsitzende von UNISON (Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes), sagte, dass es zu eine Welle von Kämpfen nach den Parlamentswahlen geben wird. Wir führen eine Kampagne für eine gewerkschaftliche Massendemonstration gegen alle Kürzungen bei öffentlichen Ausgaben als einem ersten Schritt zu einem eintägigen Streik im öffentlichen Dienst.
Aber, so wichtig die betrieblichen Kämpfe auch sind, so werden Arbeiterinnen und Arbeiter doch nur eingeschränkt kämpfen können, wenn sie keine politische Interessenvertretung haben. Das haben alle Aktivistinnen und Aktivisten der kürzlich stattfindenden Kämpfe verstanden, denn sie alle unterstützen die TUSC.