Zur Bilanz des Bildungsstreiks am 17. November 2009
Über 85.000 SchülerInnen und Studierende protestierten am 17.11. in der ganzen Bundesrepublik für eine bessere Bildung und leiteten damit ganz offiziell den Beginn des „heißen Herbstes“ ein.
von Paula Rauch, Schülerin und Mitorganisatorin des Bildungsstreiks in Berlin
Ursprünglich als Auftakt für eine neue Bildungsstreik-Aktionszeit gedacht, ist der 17. November durch die Besetzungen von über 20 Hörsälen an Universitäten in den letzten Wochen eher zu einem vorläufigen Höhepunkt geworden. Nachdem vor drei Wochen Studierende das Audimax der Uni Wien besetzten um gegen den Bologna-Prozess und die Missstände an den Hochschulen zu protestieren war es in allen österreichischen Städten zu Besetzungen und Protestaktionen gekommen, die schließlich auch nach Deutschland „über-schwappten“. Am Aktionstag beteiligten sich bundesweit über 60 Städte, darunter Berlin (15.000), München (10.000), Wiesbaden (10.000), Freiburg (6.000), Köln (5.000) und viele Andere. Außerdem wurden weitere Hörsäle besetzt, teilweise ganze Unis, wie die Technische Universität (TU) in Berlin, komplett blockiert und vereinzelt kam es sogar zu Schulbesetzungen. In Berlin war die Demonstration trotz Regen überraschend groß, kämpferisch und mit vielen systemkritisch- bis antikapitalistischen Redebeiträgen aus verschiedenen Ländern sehr politisch, allerdings mangelte es an einer Perspektive für die Proteste, so dass sich der 17.11 für viele nur in die über zweijährige Halbjahresfolge von Aktionstagen einreihen wird.
Gemeinsam kämpfen?!
In Hessen streikten zeitgleich auch die LehrerInnen, und kamen zu einer gemeinsamen Demonstration mit SchülerInnen und StudentInnen nach Wiesbaden, während sich in Berlin die im Warnstreik befindlichen Beschäftigten des Studentenwerks und einige GebäudereinigerInnen am Protest beteiligt. In diesem Motto hieß es auch auf einem Transparent „Bildungsstreik – Putzstreik – Generalstreik“, und in vielen Redebeiträgen wurde zum gemeinsamen Kampf aufgerufen. In Hessen und Berlin ist dieser schon ein Stück weit wahr geworden, in den meisten anderen Orten geht er allerdings noch nicht über eine Solidaritätserklärung hinaus. Eine Veränderung kann da eventuell der 12. Juni 2010 bringen, an dem das „Wir zahlen nicht für eure Krise“-Bündnis gemeinsam mit dem Bildungsstreik-Bündnis zu einem Aktionstag aufrufen möchte. In seiner, auf der Demo in Berlin verlesenen Solidaritätserklärung heißt es unter Anderem: „nicht nur an der Bildung wird gespart – mit Lohnkürzungen, Stellen- und Sozialabbau sollen wir alle für die kapitalistische Krise zahlen – setzen wir dem Generalangriff unseren gemeinsamen Widerstand entgegen!“
Ver.di, der DGB, die LINKE und viele andere unterstützen den Protest der SchülerInnen und Studierenden. Doch der Solidarität in Worten muss eine Solidarität in Taten folgen. DIE LINKE, Linksjugend ["solid] und Linke.SDS müssen ihre Ressourcen nutzen, um die Bildungsstreikbewegung aufzubauen. Dafür brauchen sie auch ein unabhängiges Profil in der Bewegung und müssen ihr, zum Beispiel mit Vorschlägen, wie die Forderungen mit dem Geld der Reichen finanziert werden können, politisch eine Perspektive aufzeigen.
Ver.di und DGB könnten darüber hinaus wie die GEW in Hessen zu Streiks aufrufen. Die Tarifrunde Öffentlicher Dienst in Berlin und bundesweit läuft bzw. Steht bald an; mit einem gemeinsamen Streik könnte die Schlagkraft enorm erhöht werden.
Bildungsstreik international
Neben der teilweise besseren Vernetzung mit anderen sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Gruppen, gibt es auch eine verstärkte internationale Kooperation zwischen verschiedenen Bewegungen: In Italien gingen am 17.11. 150.000 in 50 Städten in die Straßen, in Frankreich riefen die SchülerInnen zum Streik, in Österreich gab es einen großen Aktionstag und in weiteren 30 Ländern soll es zu verschiedenen Aktionen gekommen sein. Mit dieser Ausbreitung der Proteste auf europäischer Ebene zeigt sich das Potenzial, dass der Bildungsstreik an Qualität gewinnt und es zeigt sich, dass Probleme wie der steigende Einfluss der Wirtschaft in Schulen und Unis, höherer Zeit-, Leistungs- und Konkurrenzdruck, Bildungsgebühren, mangelnde Mit- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten, überfüllte Klassen und Hörsäle und soziale Selektion im Bildungssystem kein rein deutsches Problem sind, sonder im Moment in ganz Europa für großen Unmut sorgen.
„Wir wollen nicht kuscheln!“
Das Potenzial dieses Unmuts haben die Verantwortlichen Politiker anhand des österreichischen Beispiels jetzt wahrscheinlich auch erkannt und Angst bekommen. Denn anstatt die Proteste wie im Juni mehr oder weniger totzuschweigen, bekennen sie nun auf einmal Sympathie für die Protestierenden und tun sogar so, als ob sie einen Teil der Forderungen unterstützen. Bildungsministerin Schavan geht sogar soweit, zu unterstellen, die Proteste gebe es nur, um die Kultusministerkonferenz an die Umsetzung ihrer bisherigen Entschlüsse zu erinnern.
Es scheint fast unheimlich, das die Junge Union (JU), die im Juni die Polizei noch zu einem besonders harten Vorgehen gegen Schulstreiker aufgerufen hatte, den Protest jetzt gutheißt. In dieser „Umarmungstaktik“, liegt aber auch die Gefahr, dass die Bewegung „tot-gelobt“ wird, das heißt von allen Seiten gut gefunden wird, sodass die eigentlichen Forderungen nicht mehr richtig transportiert werden.
Forderungen durchkämpfen!
Eine Schwäche der Bewegung war, dass sie die Forderungen nach außen nicht genug zugespitzt hat und sie an einer vagen Kritik am Bachelor- und Mastersystem stehen blieb. Wenn sich Schavan, die Kultusminister oder die Junge Union sich den Forderungskatalog aus dem Juni nochmal anschauen, würde sie das ganz sicher nicht unterstützen. Es geht nämlich nicht nur um die verkorkste Umsetzung einer Hochschulreform. Es geht darum, dass diese Reform von vornherein schon ein falscher Ansatz war und darum, das Bildungssystem, die Schulen und Universitäten grundlegend zu verändern. Geld muss für Bildung statt für Banken ausgegeben werden und von den Reichen zur Bildung für alle umverteilt werden. Genau darum geht es aber beim Bildungsstreik – und um diese Forderungen durchzusetzen ist mehr nötig als halbjährlich einen Aktionstag zu veranstalten, so groß er auch sei.
Mit ungenauen, breiten Forderungen, wird vielleicht auch gleichzeitig ein komplett neues Bildungssystem gefordert, mit zugespitzten und konkretisierten Forderungen lässt es sich aber sehr viel leichter mobilisieren und sie sind auch nicht so leicht zu vereinnahmen. Die Forderung nach zum Beispiel 100.000 LehrerInnen bundesweit mehr, kann nicht so leicht von der Politik abgehakt werden, wie die unbestimmtere Forderung „mehr LehrerInnen“. Außerdem muss die Vernetzung mit Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen, wie sie in Hessen und Berlin schon begonnen hat, weiter vorangetrieben werden.
Und die von allen geforderte Demokratisierung der Bewegung muss wirklich umgesetzt werden und eng vernetzte, demokratische Strukturen geschaffen werden. Das würde die Selbstorganisation der SchülerInnen und Studierenden befördern und mehr AktivistInnen einbeziehen und politisieren. Das wäre die Voraussetzung eine Schlagkraft zu entwickeln, die über einen Aktionstag hinaus eine Streikbewegung lostritt, die erst endet, wenn die Forderungen durchgesetzt sind.