20 Jahre danach
Das Jahr 1989 war ein Wendepunkt der Geschichte. Die Spaltung der Welt in zwei antagonistische soziale Systeme – Kapitalismus (auf Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz und Profitproduktion basierende Gesellschaft) und Stalinismus (auf Staatseigentum an Produktionsmitteln, staatlichem Außenhandelsmonopol, bürokratisch gelenkter wirtschaftlicher Planung basierende Gesellschaft)– wurde durch den Zusammenbruch der stalinistischen Regimes in der Sowjetunion und Osteuropa aufgehoben und der Kapitalismus war in der Lage den Teil der Welt, den er 1917 und nach dem Zweiten Weltkrieg verloren hatte, sich wieder einzuverleiben.
von Sascha Stanicic
Damit bestätigte sich die historische Alternative, die der russische Revolutionär und Kämpfer gegen die Stalinisierung der Sowjetunion Leo Trotzki, in den dreißiger Jahren auf warf: entweder würde die parasitäre herrschende Clique privilegierter Parteibürokraten in der UdSSR durch eine politische Revolution der Arbeiterklasse gestürzt und eine sozialistische Demokratie errichtet oder der Kapitalismus würde wieder eingeführt werden. Der Stalinismus war nur eine Übergangsgesellschaft, keine notwendige neue Stufe der Entwicklungsgeschichte der Menschheit.
Beide von Trotzki aufgezeigten Entwicklungsvarianten bestätigten sich, denn die Ereignisse des Jahres 1989 (wie schon andere Ereignisse wie der Arbeiteraufstand in Ungarn 1956 oder die Massenstreikbewegung um die Gründung von Solidarnosc in Polen 1980/81) enthielten starke Elemente der politischen Revolution und entwickelten sich dann in Richtung kapitalistischer Konterrevolution.
Diese Konterrevolution hatte weitreichende Folgen für die Entwicklung der Welt in den letzten zwanzig Jahren und für die Lage der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung weltweit. Stalinismus war kein Sozialismus. Aber die Existenz der stalinistischen, nicht-kapitalistischen Staaten brachte zum Ausdruck, dass ein anderes System als der Kapitalismus möglich war. Die enormen wirtschaftlichen Fortschritte, die in der Sowjetunion und anderen Staaten ihres Modells bis in die siebziger Jahre hinein erreicht wurden, waren vor allem für die unterdrückten und verarmten Massen auf der Südhalbkugel von großer Anziehungskraft. In vielen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens gab es Kommunistische Parteien mit Hunderttausenden und Millionen Anhängern, wie im Sudan oder dem Irak. Die stalinistischen Kommunistischen Parteien waren in vielen Ländern ein wichtiger Teil der organisierten Arbeiterbewegung. Gleichzeitig war der Stalinismus und die KPen ein enormes Hindernis für den Aufbau authentischer marxistischer Parteien und für die sozialistische Veränderung der Welt. Aus zwei Gründen: erstens weil ein großer Teil der Arbeiterklasse, vor allem in den imperialistischen Metropolen, von den gesellschaftlichen Verhältnissen in der Sowjetunion und Osteuropa abgeschreckt war und sich nicht für eine Ein-Parteien-Herrschaft und die Abschaffung demokratischer und gewerkschaftlicher Rechte begeistern konnte. Zweitens weil es nicht im Interesse der herrschenden Eliten der stalinistischen Staaten war, den weltweit bestehenden status quo zu verändern. Sie fürchteten weitere sozialistische Revolutionen geradezu, weil in diesen eine demokratische Arbeitermacht sich hätte entwickeln können und das wiederum die Massen in der UdSSR und ihren Satellitenstaaten auf die Idee hätte bringen können, dass eine staatliche Planwirtschaft gar keine abgehobene Bürokratie braucht, um zu funktionieren.
Auswirkungen des Zusammenbruchs
Der Zusammenbruch des Stalinismus hatte dementsprechend zwei Wirkungen: erstens eine Stärkung der Kapitalseite im internationalen Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Zweitens wurde aber auch ein riesiges Hindernis für die Arbeiterklasse auf dem Weg zum Aufbau tatsächlich sozialistischer Parteien hinweggefegt.
In den letzten zwanzig Jahren wirkte der erste Punkt jedoch deutlich stärker. Der Sieg der Kapitalisten über den vermeintlichen Sozialismus war vor allem ein ideologischer Sieg. Die Idee einer Alternative zum Kapitalismus war in den Augen der Mehrheit diskreditiert. Die Bürgerlichen gingen in die ideologische Offensive und propagierten bei jeder Gelegenheit den freien Markt, das Privateigentum, Flexibilität, Deregulierung und Globalisierung. Diese Ideen drangen auch wie nie zuvor in die Arbeiterbewegung ein. Sozialdemokratische Parteien, die bis in die achtziger Jahre trotz ihrer pro-kapitalistischen Führung über eine aktive Arbeiterbasis verfügten und zumindest eine gewisse Bremse für die Angriffe des Kapitals darstellten, verwandelten sich in durch und durch bürgerliche, pro-kapitalistische Parteien. In vielen Ländern brachen die Kommunistischen Parteien weitgehend zusammen oder machten eine qualitativen Rechtsruck in ihrer Politik. Die Gewerkschaftsführungen übernahmen die neoliberale Logik und predigten Verzicht statt Gegenwehr. So führte der Zusammenbruch des Stalinismus zu einer allgemeinen Schwächung der Arbeiterbewegung und ermöglichte den Kapitalisten durch neoliberale Maßnahmen die Ausbeutung der Arbeiterklasse international zu intensivieren und ihre Profitraten zu steigern.
Auch das internationale Kräfteverhältnis wurde nachhaltig verändert. Die Weltlage war über Jahrzehnte von einem relativen Kräftegleichgewicht zwischen dem stalinistischen und kapitalistischen Block gekennzeichnet. Die Systemkonkurrenz schweißte die imperialistischen Staaten zusammen und dämpfte deren Spannungen. Mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz haben auch die Konflikte zwischen den verschiedenen imperialistischen Staaten zugenommen und eine neue Qualität von militärischen Auseinandersetzungen und Kriegen hat sich entwickelt. Gerade für das wiedervereinigte kapitalistische Deutschland bedeutete der Zusammenbruch des Stalinismus auch die Möglichkeit auf dem internationalen Parkett wieder eine größere politische und militärische Rolle zu spielen. Nur neun Jahre nach der Vereinigung von BRD und DDR führte Deutschland wieder Krieg als Teil des Nato-Angriffs auf Serbien. „Von deutschem Boden darf kein Krieg mehr ausgehen“ wurde zu „Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch“.
Kapitalismus nur übrig geblieben
Diese Stärkung des Kapitalismus war aber keine nachhaltige. Der Satz „der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist nur übrig geblieben“ bestätigt sich spätestens mit der aktuellen Weltwirtschaftskrise, die tatsächlich eine weltweite Systemkrise des Kapitalismus ist. Die Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse in den ehemaligen bürokratischen Planwirtschaften hat weder zu einer Stabilisierung des kapitalistischen Systems noch zu einem Wirtschaftsaufschwung neuer Qualität oder Dauer geführt, wie er in der Nachkriegsperiode bis zur ersten weltweiten Rezession 1973-75 stattfand. Tatsächlich ist die Welt heute instabiler, unsicherer und krisenhafter – der ‚normale‘, ungebremste Kapitalismus ist wieder zurück.
Die ideologische Verwirrung, die in weiten Teilen der Arbeiterklasse nach 1989 um sich griff, ist noch nicht gänzlich aufgehoben. Der Kapitalismus ist zweifellos weltweit in einer Legitimations- und Vertrauenskrise, antikapitalistisches Bewusstsein wächst und Sozialismus ist nicht mehr in der selben Art und Weise diskreditiert, wie unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Aber ein sozialistisches Bewusstsein hat sich noch nicht auf breiter Front heraus gebildet, wenn es auch eine wachsende Offenheit für sozialistische Ideen und einen positiven Bezug bei vielen ArbeiterInnen und Jugendliche zum Beispiel auf Marx gibt. Doch die Vorstellung einer Alternative zum bestehenden kapitalistischen System und die Überzeugung, dass eine solche erreichbar ist, fehlen heute im Denken der Massen. Es bedarf weiterer Ereignisse und Erfahrungen, vor allem größere Klassenkämpfe und das bewusste Eingreifen von MarxistInnen mit einem sozialistischen Programm in solche Kämpfe, um ein massenhaftes sozialistisches Bewusstsein wieder zu entwickeln. Aber, und das ist eine positive Folge des Zusammenbruchs des Stalinismus, die erst jetzt und in der Zukunft wirklich zur Geltung kommen wird: der Weg für die Arbeiterklasse sich authentische Ideen der sozialistischen Demokratie und des revolutionären Marxismus anzueignen ist nicht mehr mit den stalinistisch-reformistischen Karikaturen auf Sozialismus gepflastert und dementsprechend ‚frei‘.
Es besteht kein Anlass der DDR oder den anderen so genannten ‚realsozialistischen‘ Staaten nach zu trauern. Sie sind untergegangen, weil sie unfähig waren die Gesellschaft harmonisch weiter zu entwickeln. Sie sind gescheitert an ihren diktatorisch-bürokratischen Charakter, daran, dass sie eben nicht sozialistisch waren. Die Auflehnung der Massen gegen die Parteidiktaturen war gerechtfertigt und barg den Kern einer sozialistischen Entwicklung in sich, die sich nicht entfalten konnte, weil es keine starke marxistische Kraft gab, die Programm, Strategie und Führung anbieten konnte. Und weil viele der vormals ‚kommunistischen‘ Bürokraten schnell das Hemd wechselten und sich zu ‚roten‘ Kapitalisten verwandelten, als sie die Chance dazu sahen. In der DDR war das wegen der Existenz der westdeutschen Kapitalistenklasse weniger der Fall, da diese den Osten einfach übernahm (wobei es auch hier genug ‚Wendehälse‘ gab). Die Wiedereinführung des Kapitalismus in den vormals stalinistischen Staaten war nicht zwangsläufig. Aber die Entfremdung der Massen, vor allem der jungen Generation, mit dem, was sie als Sozialismus präsentiert bekamen zusammen mit dem reichhaltigeren Warenangebot und den demokratischen Freiheiten in Westeuropa führte zu massiven Illusionen in den Kapitalismus. Die Verantwortung dafür tragen aber die Stalinisten. ν