Ausgrenzung von Linken aus der LINKEn

Am 2. Februar titelt der Berliner Kurier: „Gysi tobt und droht. Kein Bock mehr auf linke Spinner!“. Am 3. Februar wird mir die schriftliche Begründung der Landesschiedskommission der Berliner LINKEn zugestellt, in der erklärt wird, weshalb ich nicht Mitglied der Partei werden darf. Lucy Redler erhält einen nahezu wortgleichen Brief. Nach der Lektüre des Briefes fragte ich mich: wer spinnt hier eigentlich?

[Dokumentiert: Ernst und Schiedskommission gegen Aufnahme]


 

von Sascha Stanicic, Berlin

In dem Kurier-Artikel wird Gysi mit den Worten zitiert: „Wir müssen nicht jeden Spinner akzeptieren.“ Und der Fraktionsgeschäftsführer im Bundestag und West-Beauftragte des Vorstands, Ulrich Maurer, soll gesagt haben: „Künftig wird man sich öfter vor der Schiedskommission treffen.“ Nun stellt Gysi auf der Webseite der Partei klar, dass es ihm nur um diejenigen geht, die der Partei bewusst und unmittelbar schaden wollen und verweist auf das hessische Parteimitglied, das vor der Landtagswahl dazu aufgerufen hat, nicht DIE LINKE zu wählen. Doch man muss nicht an Paranoia leiden, wenn man aus diesen Äußerungen eine Stellungnahme zu unserem Fall in Berlin und eine Drohung an alle linken KritikerInnen heraus liest. Denn es stellt sich immer die Frage, wer entscheidet, was parteischädigend ist. Und auch der Zeitpunkt von Gysis Äußerungen ist kein Zufall. Zur Zeit gibt es nur einen öffentlich bekannten und politisch bedeutsamen Fall, der vor einem Landesschiedsgericht verhandelt wird: die Aufnahme von elf SAV"lerInnen in Berlin, die durch den stellvertretenden Parteivorsitzenden Klaus Ernst zu verhindern versucht wird. Jeder und jede, der bzw. die Gregor Gysis Äußerungen hört, wird einen Zusammenhang zu diesem Fall ziehen, auch wenn Gysi unsere Namen nicht in den Mund nimmt. Der Zeitpunkt ist auch deshalb kein Zufall, weil die Solidarität mit uns in der Partei wächst. In den letzten Wochen haben unter anderem die Landesparteitage von Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg gegen die Ausgrenzung der Berliner SAV"lerInnen protestiert. Schon vorher hatte das unter anderem auch der Landesvorstand NRW, verschiedeneste Kreisverbände und Strukturen des Jugendverbandes getan. Auf dem bayrischen Landesparteitag wurde mit Franc Zega ein neuer Landessprecher gewählt, der sich explizit für die Aufnahme von Lucy Redler, mir und den anderen GenossInnen in Berlin ausgesprochen hat.

Politischer Zusammenhang

Zwischen diesen parteiinternen Auseinandersetzungen und der dramatischen politischen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland und der Welt besteht durchaus ein Zusammenhang. DIE LINKE war bis vor einigen Monaten die einzige Partei, die sich gegen den Neoliberalismus wendete und für eine staatliche Regulierung der Wirtschaft eintrat. Oskar Lafontaine hielt radikale Reden, in denen er den Kapitalismus geißelte und von der „Freiheit durch Sozialismus“ sprach. Mit der Weltwirtschaftskrise haben Bänker, Arbeitgeber und Regierung zu staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft Zuflucht gesucht, um einen Zusammenbruch des kapitalistischen Finanzsystems zu verhindern. Das neoliberale Dogma scheint der Vergangenheit anzugehören. Die Systemfrage wird von Anne Will bis Maischberger diskutiert, nur die Führung der LINKEn scheint Kreide gefressen zu haben. Weder das K-Wort noch das S-Wort vernimmt man in den öffentlichen Stellungnahmen Lafontaines und Gysis. Die Vergesellschaftung der Banken wird erst gefordert, nachdem die Regierung erste faktische Teilverstaatlichungen durchgeführt hat und nachdem verschiedene Landesparteitage die Verstaatlichung des gesamten Bankensektors unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung gefordert haben. Doch diese Forderung wird nicht in einen Zusammenhang zur Überwindung des kapitalistischen Profitsystems gestellt, sondern verharrt in einem staatskapitalistischen Rahmen, der keine Perspektive zur Lösung der katastrophalen Weltwirtschaftskrise weist. Aber wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, offensiv die Notwendigkeit einer sozialistischen Gesellschaftsveränderung zu propagieren und sich deutlich von dem kapitalistischen Krisenmangement, das zu einer weiteren Umverteilung von unten nach oben führt, abzusetzen? Stattdessen wurde das Bankenrettungspaket als „technisch korrekt“ gelobt, stimmte die Berliner LINKE im Bundesrat sogar dafür, unterstützte die hessische Landtagsfraktion der Partei den Schutzschirm für Opel und fordert die Bundestagsfraktion neuerdings eine Arbeitslosengeld II-Regelsatzerhöhung auf nur 435 Euro, was man nur als „Hartz IV light“ bezeichnen kann.

Der Grund für diese moderate Politik und die Entradikalisierung der öffentlichen Stellungnahmen der Parteiführer liegt auf der Hand: Lafontaine, Ramelow, Gysi, Bisky und Kollegen wollen mit aller Macht in diesem Jahr in verschiedene Landesregierungen einziehen. Also müssen sie ihr Verantwortungsbewusstsein – dem Kapital gegenüber – unter Beweis stellen. Sie sind Doktor am Krankenbett des Kapitalismus, wie es die Führer der deutschen Sozialdemokratie nach dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurden. Wir brauchen aber Totengräber des Kapitalismus, wie es Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren.

LINKE sozialistisch aufbauen!

Nach einer solchen Kritik werde ich oft gefragt, warum ich dann überhaupt in DIE LINKE will. Die Antwort lautet: weil die Partei mehr ist, als der Berliner Landesverband und die dominierenden Kräfte in Fraktion und Vorstand. Weil die Partei ein Werkzeug zur Interessenvertretung von ArbeiterInnen, Erwerbslosen und Jugendlichen sein kann. Weil tausende Partei-AktivistInnen mit einer Anpassung an die kapitalistischen Realitäten nicht einverstanden sind. Und auch, weil die Partei selbst so, wie sie zur Zeit aufgestellt ist, als Barriere gegen die Regierungsoffensive in Sachen Sozialabbau und Privatisierungen gewirkt hat und wirkt. Und das ist gut so.

Aber mit der Verdunklung der Zukunft des Kapitalismus – und damit der Lebensverhältnisse von Milliarden Menschen – ziehen auch dunkle Wolken über der LINKEn auf. Denn die Herausforderungen an linke und sozialistische Politik wachsen mit jedem weiteren Krisentag. Und neben den direkt politischen Herausforderungen gibt es auch die Aufgabe innerhalb der Partei eine Atmosphäre und Kultur zu haben, die ArbeiterInnen und Jugendliche, Aktive aus sozialen Bewegungen, kritisch denkende Menschen, Frauen und MigrantInnen dazu einlädt, aktives Mitglied zu werden. Die Ausgrenzungskampagne gegen die Berliner SAV-Mitglieder und die Äußerungen Gysis zu den „linken Spinnern“ sind Ausdruck der Tatsache, dass eine solche Atmosphäre zur Zeit in der Partei an vielen Stellen nicht existiert.

Landesschiedskommission gegen Satzung

Die schriftliche Begründung der Landesschiedskommission zu ihrer Entscheidung Lucy Redler und mir die Mitgliedschaft zu verweigern, unterstreicht diese Einschätzung. Die Berliner Landesschiedskommission legt sich darin auf ein zentralistisches Parteikonzept fest, in dem Mitglieder verpflichtet werden, jeden Parteibeschluss umzusetzen, auch wenn sie nicht davon überzeugt sind. Das erinnert an ein Partei- und Demokratieverständnis der Vorgängerorganisation der PDS, steht aber im Widerspruch zur Satzung der LINKEn. Tatsächlich kann man nur zu dem Schluss kommen, dass hier eine Landesschiedskommission satzungswidrig argumentiert, um unliebsame KritikerInnen loszuwerden. Der Begründungstext wimmelt von faktischen Fehlern und Unterstellungen. Gleichzeitg geht die Landesschiedskommission auf so gut wie keines der von den elf Berliner SAV"lerInnen vorgebrachten Argumente ein. Während viele der von Klaus Ernst genannten Anschuldigungen gegen unsere Mitgliedschaft von der Kommission nicht einmal mehr erwähnt werden, konzentriert sich ihre Entscheidung auf die Annahme, dass wir Parteibeschlüsse nicht einhalten werden. Das basiert darauf, dass die Berliner WASG im Jahr 2006 zu den Abgeordnetenhauswahlen antrat, obwohl ein Bundesparteitag sie dazu aufgefordert hatte, dies nicht zu tun. Wir hatten erklärt, dass bei dieser landespolitischen Entscheidung die demokratischen Beschlüsse des Landesverbands Berlin für uns maßgeblich waren, da auch sonst landespolitische Entscheidungen auf Landesebene gefällt werden. Wir haben außerdem deutlich gemacht, dass wir Beschlüsse, wie es die Satzung verlangt, respektieren, aber nicht bereit sind Beschlüsse mit umzusetzen oder auf öffentliche Kritik zu verzichten, wenn diese zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen, Jugendlichen und Benachteiligten führen, wie es in Berlin leider oftmals der Fall war und noch ist. Aus dieser Fragestellung heraus entwickelt die Landesschiedskommission ein zentralistisches Organisationskonzept, was aus folgenden Zitaten deutlich wird:

„Der Beigeladene (damit bin ich gemeint, S.St.) habe auch noch im Oktober 2008, nach seinem Beitritt in die Partei DIE LINKE angekündigt, dass er auch weiterhin nicht nur innerhalb der Partei für eine Änderung von Parteitagsbeschlüssen kämpfen würde, sondern zwar mit dem Parteibuch in der Tasche, aber außerhalb der Partei nicht nur Parteitagsbeschlüsse nicht vertreten, sondern aktiv dagegen handeln würde, die außerparlamentarische Opposition dazu organisieren würde.“ (aus dem Teil des Begründungstextes, der die Arguente von Klaus Ernst wieder gibt)

„ Ein wichtiger Satzungsgrundsatz der Satzung der Partei DIE LINKE sind die in §4 verankerten Rechte und Pflichten der Mitglieder. Unter anderem ist hier in §4 Abs. 2 normiert, dass jedes Mitglied die Pflicht hat, die satzungsgemäß gefassten Beschlüsse der Parteiorgane zu respektieren. Nach diesseitiger Ansicht bedeutet Respektieren von Beschlüssen nicht nur ein zur Kenntnis nehmen, sondern auch ein Handeln im Sinne dieser Beschlüsse. Es ist für die demokratische Willensbildung in der Partei DIE LINKE unabdingbar, dass auf demokratischem Wege gefasste Beschlüsse nicht nur passiv hingenommen werden, sondern auch durchgesetzt werden. Dies bedeutet zumindest, dass auch bei einer jeweiligen Beschlussfassung unterlegene Mitglieder der Partei gehalten sind, nicht aktiv nach einer Beschlussfassung gegen diese Ergebnisse der demokratischen Willensbildung aufzutreten.

Der Beigeladene hat jedoch zum Ausdruck gebracht, dass er aktiv gegen gefasste Beschlüsse des Landesverbandes Berlin, insbesondere die der Landesparteitage zur Regierungsbeteiligung im Land Berlin, auftreten will.“

„Die Linkspartei kann und muss von ihren Mitgliedern auch eine Loyalität gegenüber demokratisch zustande gekommenen Entscheidungen verlangen. Dies gilt auch, wenn das jenige Mitglied, welches in einem Entscheidungsprozeß mit seiner Meinung unterlegen war, sehr wohl auch gehalten ist, die demokratisch zustande gekommenen Mehrheitsbeschlüsse nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch mit durchzusetzen.“

Was bedeuten diese Aussagen konkret? Sie bedeuten zum Beispiel, dass ein Mitglied der Partei DIE LINKE sich nicht nur nicht öffentlich gegen Landesparteitagsbeschlüsse äußern darf, sondern von ihm erwartet wird, diese „mit durchzusetzen“. Wenn also der Landesparteitag der Berliner LINKEn, die Politik des Berliner Senats per Beschluss unterstützt (was ja grundsätzlich der Fall ist), so muss jedes Mitglied der Partei in Berlin darauf verzichten die Umsetzung von Ein-Euro-Jobs in Berliner Bezirken, die Privatisierung von Wohnraum, Arbeitsplatzvernichtung und Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst, Kürzung des Blindengelds, Abschaffung der Lehrmittelfreiheit etc. öffentlich zu kritisieren und dürfte auch an keiner Demonstration dagegen teilnehmen.

Damit wird Pluralismus zu einem Lippenbekenntnis, verschließt sich die Partei der offenen Auseinandersetzung und Debatte mit Aktiven aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen und werden Maulkörbe verteilt und Handlungsdirektiven gegeben. Das ist so unfassbar, dass man denken müsste: die spinnen doch!

Wehret den Anfängen!

Wenn sich ein solches Parteiverständnis in der LINKEn durchsetzt, werden die Führungen und Schiedskommissionen die Möglichkeit haben, jedem Kritiker und jeder Kritikerin parteischädigendes Verhalten nachzuweisen, wenn man nur einmal laut in der Öffentlichkeit nachgedacht hat oder sich geweigert hat Flugblätter zu verteilen, in denen die Berliner Senatspolitik verteidigt wird.

Das zeigt, unsere Warnung war berechtigt, dass es bei dieser Auseinandersetzung nicht „nur“ um die SAV geht, sondern mit der Ausgrenzung kritischer MarxistInnen ein Wendepunkt erreicht sein kann, der die Partei insgesamt qualitativ bürokratisiert und zentralisiert und dass solche Methoden in Zukunft auch gegen andere KritikerInnen angewendet werden können.

Jedoch hat die Landesschiedskommission eines übersehen: die Satzung der Partei! Denn diese deckt die Aussagen des Begründungstextes nicht. Sie verlangt Respekt vor Parteibeschlüssen, aber keinen Zwang zur Umsetzung oder Verzicht auf öffentliche Kritik. Im Gegenteil sieht §4 Abs.2 der Satzung vor, dass jedes Mitglied das Recht hat „an der Meinungs- und Willensbildung mitzuwirken, sich über alle Parteiangelegenheiten zu informieren und zu diesen ungehindert Stellung zu nehmen“.

Hier ist nicht die Rede davon, dass diese Stellungnahmen nur vor Beschlussfassungen oder nur parteiintern möglich sind. Im selben Paragraphen wird außerdem unterschieden zwischen der Pflicht die Grundsätze der Partei zu vertreten und der Pflicht die gefassten Beschlüsse zu respektieren. Nun mag man sich über die Definition des Wortes „respektieren“ streiten können. Es bedeutet aber ganz sicher nicht „umsetzen“, „öffentlich vertreten“ oder „nicht kritisieren“. Respekt bedeutet aus unserer Sicht gefasste Beschlüsse anzuerkennen und sich politisch (und das beinhaltet die Fortsetzung der Debatte, auch öffentlich, und ggf. auch die Teilnahme an außerparlamentarischer Opposition gegen Beschlüsse, die einen unsozialen Charakter haben) damit auseinanderzusetzen, aber zum Beispiel darauf zu verzichten, die Umsetzung durch Störung, Sabotage oder ähnlichem zu verhindern. Das haben wir auch vor der Landesschiedskommission erklärt.

Wir werden vor der Bundesschiedskommission gegen diesen Beschluss Widerspruch einlegen. Doch jedem Genossen und jeder Genossin sollte klar sein, dass es hier um mehr als um Lucy Redler und zehn weitere renitente MarxistInnen geht. Es geht auch um das Selbstverständnis und die Demokratie der Partei. Und dieses wurde auch in der Geschichte der Arbeiterbewegung immer Schritt für Schritt verändert, niemals mit dem ganz großen Knall. Aber es gibt immer den ersten Schritt in die falsche Richtung. Dieser muss verhindert werden.

Sascha Stanicic ist Bundessprecher der SAV und gehört zu den elf Berliner MarxistInnen, denen der Eintritt in DIE LINKE verwehrt wird. Er war aktives Mitglied der WASG Berlin und vertrat diese im WASG-Länderrat.