Kuba – Castros Memoiren

Fidel Castros Memoiren sind in Form eines Interviews mit dem kubanischen Revolutionsführer veröffentlicht worden, das Ignacio Ramonet, Herausgeber der Le Monde Diplomatique und Gründer von Attac, in über einhundert Stunden führte.


 

von Sascha Stanicic, Berlin

Auf 700 Seiten gibt das Buch Einblicke in das Denken des commandante en jefe und enthüllt einiges bisher Unbekannte. Dabei wird das Potenzial, das diese Form der Literatur in sich birgt – eine kritische Auseinandersetzung mit dem Interviewten zu führen – durch Ramonet nicht ausgeschöpft. Er stellt Fragen, die nur selten kontroverse Themen behandeln. Er hinterfragt kaum, konfrontiert Castro weder mit Fakten, noch Argumenten. Er bietet Castro eine saubere Plattform – dementsprechend hat das Buch tatsächlich den Charakter einer Autobiographie und weniger den einer Auseinandersetzung zweier selbständiger Gesprächspartner. Die Interview-Form kann dazu dienen, ein Buch spannender zu machen, den Lesefluss zu erhöhen. Auch das gelingt Ramonet leider selten. Denn der Text hat Längen, nicht wenige unnötige Wiederholungen, logische Brüche und erweckt einerseits den Eindruck, als ob es eine Transkription des tatsächlichen Gesprächs wäre, ist aber so sehr mit Details und Fakten angereichert, die kein Mensch alle im Gedächtnis haben kann, dass es offensichtlich ist, dass der Text editiert wurde. Dies erscheint dem Leser jedoch als stilistischer Bruch und weckt Skepsis.

Die Form ist aber weniger interessant als der Inhalt – die politischen Ideen Castros und seine Interpretation der Geschichte Kubas, des Stalinismus, der aktuellen Weltlage und, vor allem, die politische Methode Castros. Denn viele ArbeiterInnen und Jugendlichen, nicht nur in Lateinamerika, orientieren sich an Kuba und seinem Führer in ihrem Wunsch, den Kapitalismus zu überwinden.

Errungenschaften der Revolution

Castro verteidigt selbstbewusst die Errungenschaften der kubanischen Revolution von 1959, ohne dabei mit Kritik und der Erwähnung von Unzulänglichkeiten hinterm Berg zu halten. Er spricht sich gegen einen Kult der Revolution und seiner Person aus, distanziert sich in dieser Frage vom Stalinismus und erweckt den Eindruck, seinen Optimismus für die Zukunft auf ein Vertrauen in das kubanische Volk zu stützen.

Er hat guten Grund sein Lebenswerk zu verteidigen. Kuba hat nicht nur 50 Jahre gegen vielfältige Versuche des US-Imperialismus und kubanischer Konterrevolutionäre, die Planwirtschaft und die politische Macht der Kommunistischen Partei zu stürzen, widerstanden, sondern auf dem Gebiet des Bildungs- und Gesundheitswesens geradezu Unvorstellbares geleistet. Die kleine Insel in der Karibik mit ihren heute 11 Millionen EinwohnerInnen gibt mit ihren sozialen und wissenschaftlichen Errungenschaften einen Hinweis darauf, was in einer weltweiten sozialistischen Demokratie möglich wäre.

Trotz US-Embargo, trotz Sabotage und Terror (Castro spricht von 3.500 Todesopfern aufgrund terroristischer Angriffe auf Kuba zwischen November 1961 und Januar 1963), trotz über 600 Attentatsversuchen gegen Fidel Castro selber, trotz der Emigration vieler Spezialisten und Akademiker (zum Beispiel von 50 Prozent der Ärzte) nach der Revolution in die USA, gelang es Kuba unter anderem die Kindersterblichkeitsrate auf sechs pro eintausend Neugeborenen zu senken (weniger als in den USA) und die Lebenserwartung von sechzig Jahren zum Zeitpunkt der Revolution auf 77,5 Jahre heute zu steigern. Kuba verfügt heute über 70.000 Ärzte, von denen 30.000 im Ausland im Einsatz sind. Castro sagt, dass kein Land der Welt so schnell Ärzte in Krisenregionen entsenden kann, wie Kuba – so geschehen zum Beispiel nach dem schweren Erdbeben in Pakistan und Kaschmir 2006. Mit einer gewissen Genugtuung stellt er fest, dass die USA Hubschrauber, aber keine Ärzte entsenden können und Kuba den USA nach den Verwüstungen durch Hurrikan Katrina den Einsatz von über 1.600 Ärzten anbieten konnte. Heute gibt es auf Kuba 90.000 Studierende im Bereich der Medizin, in einem Bildungswesen, dass kostenlos und für alle Menschen zugänglich ist.

Zweifellos vermittelt Fidel Castro in diesem Buch Meinungen, Werte und Prinzipien, wie es kaum ein anderer Staatschef auf der Welt tun würde. Er spricht von der Notwendigkeit universeller Bildung aller Menschen als Voraussetzung zu einer harmonischen Entwicklung der Gesellschaft, geißelt die kapitalistische Profitgier, die Verschwendung in der Werbeindustrie und drückt eine grundlegend internationalistische Haltung aus. Diese, so Castro, habe Kuba nicht nur durch die Entsendung von Ärzten in andere Länder praktisch umgesetzt, sondern auch durch die praktische Unterstützung anti-kolonialer Befreiungskämpfe in Afrika in der Vergangenheit. Mit offensichtlichem Stolz spricht Fidel von den 300.000 Kämpferinnen und Kämpfern, die über 15 Jahre in Angola am Krieg gegen die pro-imperialistischen Invasoren teilgenommen haben und einen Beitrag zum Sturz des Apartheid-Regimes geleistet haben (wenn Castro in diesem, wie in vielen anderen Fällen auch, die militärische Seite im Vergleich zur politischen Seite, vor allem zu den Massenbewegungen und der allgemeinen Veränderung der objektiven Weltlage, überschätzt).

Restauration des Kapitalismus?

Ebenso interessant und beeindruckend ist Castros Bilanz der kapitalistischen Restauration in der Sowjetunion und den anderen bürokratisch-diktatorisch regierten nicht-kapitalistischen Staaten, die er fälschlicherweise "das sozialistische Lager" nennt. Er führt aus, wie er von verschiedener Seite, unter anderem vom spanischen sozialdemokratischen Führer Felipe Gonzales, dazu gedrängt wurde ebenfalls den Weg der Privatisierung und Restauration kapitalistischer Verhältnisse einzuschlagen. Doch Castro widersetzte sich solchem Drängen und solchen Ratschlägen, und Kuba war in der Lage in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts trotz des plötzlichen Wegfalls der sowjetischen Wirtschaftshilfe und der daraus resultierenden völligen Iolierung und ökonomischen Schwierigkeiten den Zusammenbruch des kubanischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zu verhindern. In dieser Sonderperiode wurden gewisse Zugeständnisse und Öffnungen zum Markt durchgeführt, ohne jedoch die entscheidende Kontrolle über Wirtschaft und Staat aus der Hand der Kommunistishen Partei zu geben und das System grundlegend zu ändern. Mit dem Prozess der bolivarischen Revolution in Venezuela und der daraus resultierenden Wirtschaftshilfe durch Hugo Chávez konnte sich Kuba stabilisieren und sogar ein relativ hohes Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren erreichen.

Die Ablehnung einer Restauration des Kapitalismus wird von Castro mit den katastrophalen Erfahrungen in Nicaragua nach der Abwahl der Sandinisten und in Russland nach der Privatisierungswelle begründet. Ein weiterer materieller Faktor für diese ideologische Haltung war aber sicher auch die Tatsache, dass auf Kuba, anders als in Russland oder China, eine Umwandlung der KP-Eliten in eine neue kapitalistische Klasse aufgrund der Existenz der kubanischen Exil-Bourgeoisie (und – Mafia) schwerer möglich ist, denn diese würde jede Öffnung dazu nutzen verlorenes Eigentum und Macht zurück zu fordern und will die Köpfe der ehemaligen Guerilleros rollen sehen.

Castros Außenpolitik

Eine wirkliche Aufarbeitung der Außenpolitik Kubas leistet das Buch jedoch nicht. Es wird weder kritisch hinterfragt, warum Castro 1968 zum Massaker an mexikanischen Studierenden schwieg (weil Mexiko zu den wenigen Staaten gehörte, die Kubas Regierung anerkannten) oder warum er den Sandinisten nach ihrer erfolgreichen Machtübernahme nicht riet, einen "kubanischen Weg" einzuschlagen und den Kapitalismus vollständig abzuschaffen. Dass die ökonomische Abhängigkeit von der Sowjetunion auch zu einer an deren Interessen orientierten Außenpolitik führte, wird nur angedeutet. Im Fall des "Prager Frühlings" bezeichnet Castro die Bewegung für eine Demokratisierung des Systems und einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" als reaktionär und konterrevolutionär und rechtfertigt die militärische Niederschlagung der Massenbewegung durch sowjetische Panzer. Und der herausragende Fall, in dem Castro nicht mit der Politik Chrustschows, dem sowjetischen Staats- und Parteichef der 1960er Jahre, überein stimmte, spricht nicht gerade für Fidel. In der Krise, die der US-Invasion in der Schweinebucht auf Kuba und der Stationierung sowjetischer Nuklearwaffen auf der Insel folgte, schlug Castro der sowjetischen Führung unter Chrustschow faktisch einen nuklearen Erstschlag gegen die Vereinigten Staaten im Falle einer Offensive derselben gegen Kuba vor. Chrustschow, die internationalen Konsequenzen einer solchen Aktion verstehend, lehnte diesen Vorschlag ab. Castro distanziert sich in seinen Memoiren nicht von seiner damaligen Haltung. So wirkt die Aussage, dass Kuba nicht nach Atomwaffen strebe, da der Einsatz von Atomwaffen einem Selbstmord gleich komme, zumindest widersprüchlich, wenn nicht gar unglaubwürdig.

Castro behauptet, er sei schon zu einem frühen Zeitpunkt Marxist-Leninist geworden. Seine Politik vor und in der ersten Phase nach der Revolution ließ darauf jedoch nicht schließen. Auch in der Literatur über die kubanische Revolution werden Ché Guevara und Raúl Castro in der Regel als die Kommunisten in der Guerilla dargestellt, die radikalere Positionen als Castro vertraten. So gibt der damalige sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chrustschow in seinen Memoiren einen Witz wieder, der viel über die Einschätzung Castros sagt: "Die Führer der kubanischen Revolution kommen in den Himmel. Petrus als offizieller Vertreter Gottes empfängt sie draußen und befiehlt ihnen, sich alle in einer Reihe aufzustellen. Dann sagt er: "Alle Kommunisten drei Schritte vortreten!" Guevara tritt vor, Raúl tritt vor und noch irgend jemand anders. Aber alle übrigen, einschließlich Fidel, bleiben in der Reihe stehen. Petrus blitzt Fidel an und ruft: "He, du da. Der lange mit dem Bart! Was ist los, hast Du nicht gehört, was ich gesagt habe? Alle Kommunisten drei Schritte vortreten!"" Chrustschow fügt hinzu: "Die Pointe der Geschichte ist, dass während Petrus und alle anderen Fidel als Kommunisten betrachteten, Fidel selbst das nicht tat."

Ob Castro hier an einer Legende bastelt oder seine marxistischen Überzeugungen nur nicht zum Ausdruck brachte, ist zweitrangig. Fest steht, dass die Revolution von 1959 nicht als eine sozialistische konzipiert war. Es ging der "Bewegung des 26.Juli" um den Sturz der Batista-Diktatur und die Errichtung eines demokratschen Kuba. Dies passte auch in die, in der kommunistischen ( also stalinistischen) Bewegung vorherrschende Etappentheorie (die einen Übergang zum Sozialismus in halbkolonialen Staaten wie Kuba nur nach einer langen Phase demokratisch-kapitalistischer Entwicklung als möglich betrachtete). Schritte zur Verstaatlichung der gesamten Wirtschaft und zur Abschaffung des Kapitalismus ergriffen die neuen Machthaber erst, nachdem sich die USA eindeutig gegen das neue Regime stellten und die Öllieferungen einstellten, die Sowjetunion sich als einziger starker Bündnispartner anbot und die Erwartungen und der Druck der Massen zu Maßnahmen zwang, die weiter gingen als es Castro und seine Mitstreiter ursprünglich wollten.

Fidel und Ché

Fidel fehlt eine klare Analyse des Stalinismus. Wie könnte es auch anders sein, entspricht das System auf Kuba doch im Prinzip der Struktur der Sowjetunion. Dementsprechend weist Castro zwar auf Fehler Stalins und Unzulänglichkeiten in der UdSSR hin, ohne diese jedoch einer tiefgreifenden Analyse zu unterziehen. Vor diesem Hintergrund ist es auch kein Zufall, dass es auf 700 Seiten keine ernsthafte Auseinandersetzung mit Trotzki und dem Trotzkismus gibt. Castro bezeichnet an einer Stelle Trotzki zwar als den im Vergleich zu Stalin "intellektuelleren", ohne jedoch auf die politischen Differenzen im Fraktionskampf in der KPdSU der 1920er Jahre einzugehen. Nebenbei schreibt er sogar Lenin fälschlicherweise die Haltung des "Aufbaus des Sozialismus in einem Land" zu. Wer eine fundierte Auseinandersetzung mit den viel diskutierten und strittigen Fragen der marxistischen und revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts in Castros Memoiren sucht, wird enttäuscht. Ebenso enttäuschend sind Castros Aussagen über Ché Guevara. Er ignoriert völlig die kritische Sichtweise, die sich bei Ché hinsichtlich der bürokratischen Verhältnisse in der UdSSR und dem anderen stalinistischen Staaten (auch nach Stalins Tod und nicht an die Person Stalin geknüpft) und auch auf Kuba selbst entwickelte. Auf Chés Haltung zu Trotzki angesprochen antwortet Fidel: "Nein, nein, lassen sie mich Ihnen sagen, wie Ché wirklich war. Ché besaß bereits eine politische Kultur. Natürlich hatte er eine Menge Bücher über die Theorien von Marx, Engels und Lenin gelesen. Er war Marxist. Ich habe ihn nie über Trotzki sprechen hören. Er verteidigte Marx, er verteidigte Lenin, und er kritisierte Stalin. Sagen wir mal, er kritisierte damals den Personenkult und die Fehler Stalins; aber über Trotzki habe ich ihn nie sprechen hören. Er war Leninist, und in gewisser Weise erkannte er auch einige Verdienste Stalins an. Die Industrialisierung und andere Dinge zum Beispiel. Ich selbst war tief in meinem Inneren wegen einiger seiner Fehler kritischer."

Unabhängig davon, ob Ché gegenüber Castro über Trotzki sprach oder nicht (in seinen letzten Lebensjahren haben sich beide wahrscheinlich relativ selten getroffen, da Ché auf internationalen Missionen war), ist es belegt, dass sich Guevara mit den Ideen Trotzkis auseinander setzte. So fand man in seinem Rucksack nach seiner Ermordung in Bolivien ein Buch Trotzkis. Ebenso ist bekannt, dass Ché eine kritische Einstellung zum Bürokratismus in den sogenannten "sozialistischen Staaten" entwickelte. Er war zu dem Zeitpunkt, als er erschossen wurde, ein Revolutionär, der sich ideologisch noch nicht endgültig ausgeformt hatte und sich noch in einem Denkprozess befand. Wenn Castro ein einfaches und einseitiges Bild von Ché malt, dann wahrscheinlich auch, um seine eigene Position zu Bürokratismus, Ein-Parteien-Herrschaft, Trotzki usw. mit mehr Autorität auszustatten.

Charakter des kubanischen Staats

Denn von überragendem Interesse ist die Frage nach dem Charakter des kubanischen Staates. Ist Kuba sozialistisch bzw. auf dem Weg zum Sozialismus? Castro beantwortet diese Frage überzeugt mit Ja. Ignacio Ramonet stellt diese Antwort nicht in Frage. Er stellt Fragen zur Menschenrechtslage, zum Umgang mit Dissidenten und dem Ein-Parteien-System, geht aber der Natur des kubanischen Staates nicht auf den Grund.

Die spezifische Entwicklung der kubanischen Revolution führte zum spezifischen Charakter des Staates unter Fidel Castro. Ein entscheidendes Merkmal der Revolution und des Staates ist das Fehlen einer unabhängigen, führenden und demokratisch organisierten Rolle der Arbeiterklasse. Die kubanische Revolution genoss zweifelsfrei die Unterstützung der breiten Massen inklusive der städtischen Bevölkerung und der Arbeiterklasse, wie sich auch in dem Generalstreik am 1. Januar 1959 zeigte. Doch die Arbeiterklasse drückte den Ereignissen nicht ihren Stempel auf. Der neue Staat erwuchs nicht aus den selbständigen Organen der organisierten Arbeiterschaft, wie den Räten (Sowjets) in der Russischen Revolution, sondern aus den Strukturen der siegreichen Guerilla-Armee. Dies führte nicht zu einem demokratischen Arbeiterstaat, in dem – wie in Russland der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution und vor der Stalinisierung – demokratisch gewählte VertreterInnen aus den Betrieben in stadt- und landesweit zusammen gefassten Räten die politische Macht direkt ausübten. Stattdessen entstand auf Kuba ein Staat, der in seinen Strukturen sehr dem bürokratisch-diktatorischen Regime der damaligen Sowjetunion glich, wenn er auch eine weitaus größere Massenbasis in der Bevölkerung genoss. Dementsprechend war Kuba nicht von den Exzessen stalinistischer Herrschaft geprägt, wie wir sie unter Stalin selber oder bei verschiedensten Repressionsmaßnahmen nach seinem Tod (Ungarn 1956, Prag 1968, Polen 1981 etc.) sahen, aber die grundlegende bürokratische Struktur entsprach doch der des "großen Bruders".

Grundlegende Prinzipien der Pariser Kommune und der jungen Sowjetunion für einen demokratischen Arbeiterstaat und zur Verhinderung der Entwicklung einer abgehobenen Kaste, die Macht und Privilegien in ihren Händen konzentrieren kann, wurden in Kuba nicht umgesetzt. Dazu gehören die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit von Funktionären, die Begrenzung von Funktionärsgehältern auf einen durchschnittlichen Arbeiterlohn und das Verbot von Privilegien für Funktionäre, die Rotation von Ämtern und die Ersetzung des stehenden Heeres durch eine demokratisch organisierte, allgemeine Volksbewaffnung. Nach den Erfahrungen mit dem Ein-Parteien-System in der Sowjetunion, Osteuropa und China fügen MarxistInnen heute grundsätzlich das Recht zur freien Bildung von Parteien hinzu, solange diese nicht für eine bewaffnete Konterrevolution eintreten. Angesichts der besonderen Lage des isolierten und vom US-Imperialismus bedrängten Kuba mag es diskutabel sein, dieses Recht vorübergehend auf solche Parteien zu beschränken, die das System der verstaatlichten und geplanten Wirtschaft nicht in ein kapitalistisches System ändern wollen (denn für Kuba gibt es nicht nur die Gefahr einer mit Gewehren und Raketen bewaffneten Konterrevolution, sondern auch die Gefahr einer mit US-Dollar, billigen Waren und Touristenfluten "bewaffneten" Konterrevolution). Das würde aber die Freiheit zur Bildung verschiedener Arbeiterparteien, inklusive trotzkistischer Organisationen beinhalten müssen. Solche oder ähnliche Regelungen gab und gibt es auf Kuba nicht (wenn es auch direkt nach der Revolution Elemente von betrieblicher Arbeiterkontrolle durch Belegschaften gab, was sich aber nicht auf das Staatswesen ausdehnte). Wenn auch für die Wahl der Nationalversammlung Elemente dieser Prinzipien vorgesehen sind (Möglichkeit für jedeN BürgerIn in den lokalen Volksversammlungen zu kandidieren, Rechenschaftspflicht, jederzeitige Abwählbarkeit, keine überhöhten Diäten), so ist das System doch so indirekt aufgebaut, dass letztlich die KandidatInnen zur Nationalversammlung von den Bezirksregierungen bestimmt werden. Dies führte dazu, dass es bei der letzten Wahl für 614 Sitze in der Nationalversammlung ganze 614 KandidatInnen gab und diese mit einem Kreuz, dem sogenannten "Voto Unido" kollektiv gewählt wurden. Wenn auch formell an den Wahlen zu den lokalen Körperschaften die Kommunistische Partei nicht als solche antritt, sondern Individuen, so hat die KP als einzige legal organisierte Partei logischerweise den entscheidenden Einflus auf die politischen Prozesse im Land. Castros Behauptung, dass die "Feinde der Revolution" ganz legal durch die Wahlen zur Nationalversammlung eine Mehrheit erringen könnten ist angesichts der realen Machtverhältnise daher nur eine theoretische Möglichkeit, die praktisch kaum vorstellbar ist.

Das Fehlen von demokratischer Kontrolle und Selbstverwaltung durch die Arbeiterklasse führt zwangsläufig zu Einschränkungen der Initiative der Massen und zu Bürokratisierung, Misswirtschaft, Korruption etc. Eine sozialistische Gesellschaft kann nicht durch eine Person oder eine kleine Gruppe von Personen sinnvoll geleitet werden. Castro widerspricht sich in seinen Äußerungen zu seiner eigenen Rolle und der Frage der Demokratie auf Kuba. Während er zweifellos in der Bevölkerung eine enorm hohe Autorität aufgrund seiner Leistungen für die Revolution genießt, so hat sich bis zu seinem Rücktritt ein großes Maß der Entscheidungsgewalt offensichtlich in seinen Händen konzentriert. Auch wenn er versucht einen anderen Eindruck zu erwecken, fällt in seinen Aussagen auf, wie oft er davon spricht, dass er persönlich diese oder jene Entscheidung getroffen habe, diese oder jene Instruktion erteilt habe. Ignacio Ramonet fasst das in seinem Vorwort zum Buch treffend zusammen: "Wo er ist, hört man nur eine Stimme: seine. Er ist es, der alle Entscheidungen trifft, ob kleine oder große. Auch wenn er sich mit den politischen Entscheidungsträgern der Partei- und Staatsführung berät und die kollektive Entscheidungsfindung respektiert, so bleibt er doch stets die letzte Instanz."

Wenn Castro selber auch bescheiden lebt, er behauptet im Monat dreißig Dollar zu verdienen, so genießt er zweifellos gewisse Privilegien. Castro selber weist in seinem Buch auf Fälle von Korruption und Bereicherung durch Staats- und Parteifunktionäre hin.

Castro behauptet, auf Kuba herrsche das sozialistische Prinzip"von jedem nach seinen Fähigkeiten, an jeden nach seinen Bedürfnissen" und weist gleichzeitig auf seine eigenen bescheidenen Bedürfnisse hin. Das mag für ihn gelten, aber sicher nicht für die Masse der einfachen Bevölkeung, deren Lebensgrundlagen zwar gesichert sind, die aber auf viele Verbrauchsgüter verzichten müssen. Castros wiederholte Kritik an der kapitalistischen Konsumgesellschaft ist in diesem Zusammenhang zwar sehr sympathisch, aber auch undifferenziert. Denn es ist eine Sache, die profitgetriebene Erweckung künstlicher Bedürfnisse durch Werbekampagnen und die Produktion unsinniger Produkte und stumpfsinniger Filme oder Fernsehserien zu kritisieren. Eine andere Sache ist es, die Produktion von sinnvollen Verbrauchsgütern, die das Leben erleichtern und bereichern, damit in einen Topf zu werfen, um von den Unzulänglichkeiten der kubanischen Wirtschaft abzulenken.

Rolle der Arbeiterklasse

In Castros Ausführungen fehlt jeder Bezug zur Rolle der Arbeiterklasse in der sozialistischen Revolution und beim Aufbau des Sozialismus. In seinen Kommentaren zur internationalen Lage fehlt ebenso ein Hinweis auf die Notwendigkeit des Wiederaufbaus der Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern oder ein Bezug zu Arbeiterkämpfen. Selbst in seinen Äußerungen zum Mai 1968 in Frankreich gibt Castro dem größten Generalstreik in der französischen Geschichte nicht das ihm zustehende Gewicht. Stattdessen wundert man sich als Leser über die vielen positiven Kommentare von Castro über bürgerliche, pro-kapitalistische Politiker von John F. Kennedy bis Charles de Gaulle. Hier wird Castros Selbstverständnis als Staatsführer deutlich, der sein Verhältnis zu anderen Staatsführern darlegt.

Gefahr für die Revolution

Castro ist aufgrund seiner Erkrankung mittlerweile von den wichtigsten Staats- und Parteiposten zurück getreten und diese wurden von seinem Bruder Raúl übernommen. Dieser Wechsel ging scheinbar relativ problemlos vonstatten und die Hoffnungen des US-Imperialismus auf einen schnellen Zusammenbruch der kubanischen Revolution nach Fidel Castros Rückzug platzten wie eine Seifenblase. Raúl hat sich öffentlich für eine Fortsetzung des bisherigen Kurses zur Verteidigung der Revolution und Planwirtschaft ausgesprochen, gleichzeitig aber einige Reformen zur Öffnung des Landes in Richtung marktwirtschaftlicher Elemente umgesetzt. Offensichtlich gibt es in der kubanischen bürokratischen Führungselite Kräfte, die einen "chinesischen Weg" in Richtung kapitalistischer Verhältnisse unter Führung der Kommunistischen Partei einschlagen wollen, während es ebenso Kräfte gibt, die die verstaatlichte Planwirtschaft gegen eine kapitalistische Konterrevlution, egal in welcher Form, verteidigen wollen. MarxistInnen und TrotzkistInnen müssten, angesichts der realen Gefahr einer Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse, mit solchen Kräften in KP, Gewerkschaften und Staat einen prinzipienfesten, kritischen Block zur Verteidigung der staatlich geplanten Wirtschaft bilden, ohne auf die Propagierung eines Programms für sozialistische Arbeiterdemokratie zu verzichten.

Die Obama-Präsidentschaft in den USA wird möglicherweise einen Politikwechsel des US-Imperialismus gegenüber Kuba zur Folge haben. Sollte Obama auf Diplomatie und den Aufbau direkter, ggf. auch wirtschaftlicher Beziehungen setzen, könnte das eine größere Gefahr für die Revolution auf Kuba sein, als alle konterrevolutionären Aktionen der exil-kubanischen Bourgeoisie in Miami in den letzten 50 Jahren zusammen. Insbesondere, wenn zusätzlich die Unterstützung durch Venezuela aufgrund fallender Ölpreise zurück gehen sollte, kann dies zu einer kritischen Situation für Kuba führen und es ist nicht ausgeschlossen, dass dann eine Mehrheit der kubanischen Staatsführung, trotz der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise, den einzigen Ausweg in einer schrittweisen Öffnung hin zum Kapitalismus sieht. Dies kann zu Polarisierungen in der Gesellschaft und einer Zunahme gesellschaftlicher Auseinandersetzungen führen. In dieser Situation ist es von zentraler Bedeutung, dass eine tatsächlich marxistische Kraft aufgebaut wird, die überzeugend erklären kann, dass nur die Einführung einer sozialistischen Arbeiterdemokratie nach den oben ausgeführten Prinzipien die kubanische Revolution dauerhaft retten und eine Perspektive für ein sozialistisches Lateinamerika eröffnen kann.

Fidel Castro wird sehr wahrscheinlich aufgrund seines Gesundheitszustandes auf diese Entwicklungen keinen entscheidenden Einfluss mehr nehmen können. Dies erhöht die Gefahr, dass sich in der kubanischen Führung pro-kapitalistische Kräfte durchsetzen. Andererseits mag das Abtreten Castros von der politischen Bühne auch eine offenere Debatte über Marxismus und Trotzkismus, die nicht zuletzt durch die Veröffentlichungen der kürzlich bei einem Autounfall verstorbenen Celia Hart schon begonnen hat, intensivieren.

Castro ist sein Platz in den Geschichtsbüchern sicher. Ohne den Personenkult, den er selber ablehnt. Er wird geehrt werden als standhafter, anti-imperialistischer Kämpfer, der sein Leben in den Dienst der kubanischen Revolution gestellt hat. Und auf sein Lebenswerk wird ein kritischer Blick fallen, aufgrund seiner vielen politischen Fehler, der Anpassung an die stalinistische Sowjetunion und der Schaffung bürokratischer Strukturen im Kuba nach der Revolution von 1959.

Fidel Castro: Mein Leben. Mit Ignacio Ramonet, 812 Seiten, gebunden, 29.90 EUR im Rotbuch-Verlag