Mit 45 Prozent hält einer aktuellen Emnid-Umfrage zufolge fast die Hälfte der Befragten das deutsche Bildungssystem für ungerecht. Unter den Eltern sind es 48 Prozent und in Ostdeutschland liegt der Anteil gar bei 60 Prozent. Drei Viertel aller Befragten bezweifeln zudem, dass Jugendliche aller Schichten nach der Schule die gleichen Berufschancen haben.
Seit Beginn der achtziger Jahre verschlechtert sich die Situation in der Bundesrepublik, ist die Teilnahme von Kindern sozial schlechtergestellter Familien an höherer Bildung rückläufig. Laut PISA-Studie von 2002 gehen Kinder aus Familien von Spitzenmanagern sechs Mal häufiger aufs Gymnasium als Facharbeiterkinder.
Betrachtet man die Rolle der Bildung in der Gesellschaft historisch, so werden erstaunliche und erschreckende Verbindungen zur heutigen Situation klar, aus denen wir unsere Schlüsse ziehen müssen, um ein gerechtes Bildungssystem für alle erreichen zu können.
von Max Höhe, Köln
Die Teilung der Gesellschaft in Menschen, die umfassend gebildet sind und solche, die weniger oder gar keine Bildung haben, ist so alt wie die Teilung in Herrscher und Beherrschte. Die momentane Gesellschaft unterliegt den Gesetzen des Kapitalismus. Sie ist in unterschiedliche gesellschaftliche Klassen aufgeteilt, abhängig Beschäftigte auf der einen, die Besitzer der Banken, Konzerne, Unternehmen auf der anderen Seite. Die Geschichte des Bildungswesens – wer lernen darf, wie und was gelehrt und gelernt werden soll – ist daher ebenfalls Teil der Geschichte von Klassenkämpfen, die zu Veränderungen führten und führen.
Herrschende Klasse für Elitebildung
Im antiken Athen wurden nur fünf Prozent der Kinder beschult. Sie kamen ausschließlich aus der Oberschicht der „Freien“. Die Anfänge des deutschen Bildungswesens sind im Mittelalter zu finden, als es darum ging, Adelskinder in Kloster- und Lateinschulen auszubilden. Die Bauernkinder blieben ohne Schulbildung. Deutsche Schreib- und Leseschulen des 15. und 16. Jahrhunderts waren ebenfalls allesamt nicht dem Volk zugänglich, so dass es weiter ohne Bildung blieb.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein war der Anteil derer, die lesen und schreiben konnten, verschwindend gering und auf eine sehr kleine Elite der Oberschicht beschränkt. Die allgemeine Schulpflicht, in Preußen 1717 eingeführt, setzte sich nur sehr langsam durch. Die Französische Revolution von 1789 stieß dann die Ausbreitung der Bildung in Westeuropa an, was sich durch die daraufhin allmählich einsetzende Industrialisierung und Verstädterung im Laufe des 19. Jahrhunderts wiederum beschleunigte.
Doch trotz der unter dem Druck der bürgerlichen Revolution von 1848 verstärkten staatlichen Gründungen und Förderungen von Schulen gelang es in Deutschland erst mit der Revolution von 1918/19, die den Sturz des Kapitalismus zum Ziel hatte, und den anschließenden Reformen des Schulsystems in der Weimarer Republik, den Anteil der totalen Analphabeten auf heutige Maßstäbe zu senken.
Obwohl die Kapitalisten zunehmend Lohnabhängige brauchten, die Lesen und Schreiben konnten, sabotierten sie die allgemeine Schulbildung. In seiner Erhebung „Lage der arbeitenden Klasse in England“ stellte Friedrich Engels 1845 bezüglich des Bildungswesens fest: „Die Bildungsmittel sind in England unverhältnismäßig gering gegen die Volkszahl. […] Schulzwang existiert nirgends, […] und als in der Session von 1843 die Regierung diesen scheinbaren Schulzwang in Kraft treten lassen wollte, opponierte die fabrizierende Bourgeoisie aus Leibeskräften, obwohl die Arbeiter sich entschieden für Schulzwang aussprachen.“ Die „fabrizierende Bourgeoisie“ – heute würde man von Großunternehmern und Konzernchefs sprechen – hatte offenbar etwas dagegen, dass Kinder zur Schule geschickt werden sollten. Und dafür gab es einen auf der Hand liegenden Grund: Wer in der Schule ist, kann nicht arbeiten gehen.
Der aufstrebende Kapitalismus benötigte aber besser gebildete ArbeiterInnen. Die moderne Industrie und Wirtschaft kann man nicht mit lauter Analphabeten am Laufen halten. Allerdings braucht man aus Sicht der Kapitalisten für einfache Tätigkeiten nur einfach gebildete Beschäftigte und für komplizierte Aufgaben gut ausgebildete, aber relativ wenige Spezialisten. Eine allumfassende, hochwertige Bildung für alle ist aus Sicht der Unternehmer Geldverschwendung.
Und die Bildungsinhalte?
Auch die Bildungsinhalte unterliegen dem massiven Einfluss der politischen Entscheidungsträger. Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), sagte 2002: „Der Stoff kann gut und gerne um 50 Prozent reduziert werden.“ Und weiter: „Wir brauchen eine Konzentration auf das Wesentliche – aber das muss sitzen.“ Die öffentlichen Bildungsausgaben sollen niedrig gehalten werden. Schließlich soll die „einfache“ Bevölkerung, die Arbeiterklasse, sich nicht unnötig bilden. Ein ganz konkretes Ergebnis ist dann die Erfindung des Wortes „Orchideenfächer“ (gemeint sind Geistes- und Sozialwissenschaften) und die Schließung ganzer Fachbereiche an Universitäten. Geisteswissenschaften werden zur finanziellen Belastung umdefiniert und eigenständiges Denken soll primär zukünftigen Managern beigebracht werden.
Kampf der Arbeiterklasse für Bildung
In der Arbeiterklasse wurden immer wieder Versuche unternommen, den eigenen Bildungsgrad auf eigene Faust zu verbessern. Arbeiterbildungsvereine wurden gegründet, die Bildung selbst in die Hand genommen. 1875 schrieb sich die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), die seit 1890 dann SPD hieß, unter anderem folgende Forderung in ihr Gothaer Programm: „Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlicher Unterricht in allen Bildungsanstalten.“
Russische Revolution
In der Revolution von 1917 wurden in Russland Großgrundbesitz und Kapitalismus abgeschafft. Binnen weniger Tage nach der Revolution wurden die kostenlose Bildung und die Schulpflicht eingeführt.
Weitere 1918 beschlossene Maßnahmen beinhalteten die Übernahme sämtlicher privater und konfessioneller Schulen unter staatlicher Kontrolle und die Abschaffung der hierarchischen Unterscheidung unter dem Lehrpersonal mit einer gleichen Bezahlung für alle. Der freie Zugang zu den Hochschulen ohne Aufnahmeprüfungen wurde erlassen. In den „Prinzipien über das Schulwesen“ stand, dass „die alten Formen der Disziplin, die das Schulleben beschneiden, und die freie Entwicklung der Persönlichkeit der Kinder verhindern, in den Arbeits-Schulen keinen Platz haben können.“ Prügelstrafe und obligatorische Hausaufgaben wurden verboten, Schuluniformen, Notengebung und Aufnahmeprüfungen abgeschafft. Die Schulen sollten von Schulaufsichten geführt werden, in denen SchülerInnen neben LehrerInnen, dem nicht lehrenden Schulpersonal und GemeindevertreterInnen wirklichen Anteil an den Entscheidungen hatten.
Diese Initiativen nahm man in einem armen, rückständigen Land in Angriff, in dem nur rund ein Fünftel der Kinder vor der Revolution irgendeine Form von schulischer Ausbildung genossen hatte. Der dann folgende Bürgerkrieg machte viele Bemühungen um bessere Bildung zunichte. Die sich bald entwickelnde stalinistische Bürokratie hatte kein Interesse an kritisch denkenden Menschen und demokratischen Prinzipien. 1932 wurden Prüfungen, eine strikte Disziplin und kontrollierte Lehrpläne wieder eingeführt. Die gemeinschaftliche Verwaltung der Schulen wurde durch die Kontrolle eines Schulleiters ersetzt.
Stellenwert von Massenprotesten und Revolution
Im letzten Jahrhundert führte der Druck von unten auch in Deutschland zu Fortschritten. Aber es war schließlich der Druck einer Revolution nötig, die 1918 nicht nur den Kaiser stürzte, sondern auch dazu führte, dass ein Jahr später in der Reichsverfassung erstmals die vierjährige Grundschule als Einheitsschule festgeschrieben wurde. Verbesserungen wie diese waren – wie zum Beispiel auch der Acht-Stunden-Tag oder das Frauenwahlrecht – Nebenprodukte der Novemberrevolution von 1918. 1920 wurde auf der Reichsschulkonferenz die Idee der „elastischen Einheitsschule“ vertreten, die auf alle Begabungen, Interessen und Neigungen Rücksicht nehmen und diese in frei zu wählenden Arbeitsgemeinschaften fördern sollte (Altersstufe 6 bis 16; Klassen 1 bis 11).
Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen stellte die Nazi-Diktatur auch in der Bildung eine Zäsur dar. 1933 und 1934 verboten die Faschisten alle demokratischen Körperschaften in den Schulen. Die kollegiale Form der Schulleitung wurde durch eine autoritäre Leitung ersetzt. Alle Formen der Eltern- und Schülerbeiräte wurden abgeschafft.
Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die Alli-ierten 1945 das dreigliedrige Schulwesen. Im Jahr 1965 ergab eine Befragung von 150.000 SchülerInnen an Gymnasien der 13. Klasse der Bundesrepublik, dass nur 6,4 Prozent Arbeiterkinder waren.
Die breite politische Bewegung in Westdeutschland Ende der sechziger Jahre erkämpfte Verbesserungen im Bildungsbereich. So war die Einführung staatlicher Unterstützung für die Ausbildung von SchülerInnen und StudentInnen, das BAföG, 1971 und der Bau neuer Hochschulen die Antwort auf die immer stärker werdenden Forderungen, Kindern aus Arbeiterfamilien Zugang zu den Hochschulen zu ermöglichen. Natürlich trug die Konkurrenz der Systeme zwischen Kapitalismus und dem nicht-kapitalistischen Ostblock einiges dazu bei, dass auch im damaligen Westdeutschland Zugeständnisse an die Arbeiterklasse gemacht wurden. Außerdem befand sich die Wirtschaft noch im Nachkriegsaufschwung und brauchte mehr Akademiker.
Bildung in der DDR
Das Bildungswesen in der DDR lehnte das alte Volksschulmodell ab (das in Westdeutschland bis 1968 existierte und seither von der Hauptschule abgelöst wurde). Stattdessen war der Ansatz der Einheitsschule die Grundlage, der unter der Bezeichnung „Eine Schule für alle“ seit den Ergebnissen der Bildungsstudien TIMM, PISA, IGLU heute wieder heiß diskutiert wird.
Das reformpädagogische Modell der Einheitsschule der zwanziger Jahre war der Bezugspunkt für die zehn Schuljahre umfassende Polytechnische Oberschule. Danach stand entweder eine Berufsausbildung (in der man auch das Abitur an einer Berufsschule machen konnte) oder der Besuch der Erweiterten Oberschule (EOS), an der man nach Klasse 12 das Abitur machte.
Die „Polytechnisierung“, bei der praktisch orientierter Unterricht das Hauptanliegen war, setzte Ende der fünfziger Jahre in der DDR ein. Junge Kinder sollten demnach bereits mit den Prinzipien der Arbeit und der Lebensweise der arbeitenden Bevölkerung vertraut werden. Werk- und Schulgarten-Unterricht waren beispielsweise von Klasse 1 bis 6 obligatorisch.
Für die Verwirklichung der individuellen Bildungsziele in der DDR waren neben den schulischen Leistungen aber auch Faktoren wie die Tätigkeit der Eltern (bei Zulassung zur EOS) und die Bereitschaft, sich der SED-Herrschaft unterzuordnen, ausschlaggebend. Die Zahl der Jugendlichen, die ihr Abitur im Zuge einer Berufsausbildung machten, belief sich auf weniger als ein Prozent eines Jahrgangs. Trotzdem gab es immerhin die Möglichkeit für Lehrlinge, nach der Ausbildung einen universitären Vorkurs zu belegen, um einen zur Berufsausbildung passenden Hochschulstudiengang zu beginnen. Für das Hochschulstudium galt der Ansatz des „Grundstipendiums“, demzufolge Studierende keine Gebühren für ihr Studium entrichten, sondern umgekehrt der Staat einen „Bildungslohn“ an die an ihrer Bildung arbeitenden StudentInnen zahlen musste.
In der DDR waren zwar Privateigentum und Konkurrenzwirtschaft beseitigt. Es existierten Staatseigentum und Planwirtschaft. Allerdings wurde die Wirtschaft nicht demokratisch, sondern bürokratisch geplant. Nicht die arbeitende Bevölkerung hatte das Sagen, sondern eine kleine privilegierte Clique an der Spitze des Staates. Da diese demokratische Rechte mit Füßen trat, um ihre Herrschaft zu verteidigen, boten die positiven pädagogischen Ansätze – wie Einheitsschule oder Polytechnik – nicht die Möglichkeit zur freien Entwicklung und Entfaltung der SchülerInnen.
Kampf um Bildung im Jahr 2008
Die heutigen Angriffe auf das Bildungswesen in der Bundesrepublik und international haben ihre Ursache in der sich verschärfenden Krise der kapitalistischen Wirtschaft. Um ihre eigenen Profite zu steigern, machen die Vertreter von Unternehmerverbänden Druck, damit die öffentlichen Ausgaben für die Bildung gesenkt werden, zum Beispiel durch die Schulzeitverkürzung (G8) und Einführung von Studiengebühren. Außerdem wollen sie mit der Bildung direkt Geschäfte machen und treiben die Privatisierung des Bildungswesens voran. Und weil sie keine kritisch denkenden Beschäftigten im Betrieb haben wollen, betreiben sie die Einführung von Kopfnoten und den Abbau demokratischer Rechte an den Hochschulen.
Der Kampf gegen Verschlechterungen im Bildungswesen und für grundlegende Verbesserungen kann sich nicht auf den Bildungsbereich beschränken. Er ist ein gesellschaftlicher Kampf, eben Klassenkampf.