Rezension: Winterdämmerung von Erasmus Schöfer, vierter Band der Reihe „Die Kinder des Sisyfos“

Für einen fünften Band!


 

Am Ende weht die rote Fahne über dem stillgelegten Gelände des Krupp-Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen. In der Silvesternacht 1989, heimlich gehisst von einem renitenten Arbeiter. Mit dieser Symbolik antwortet Erasmus Schöfer all denen, die in seiner Sisyfos-Metapher einen Pessimismus entdecken wollen. Denn pessimistisch ist das vierbändige Werk des 76-jährigen sicher nicht. Aber wenn es auch mit dem Festhalten an der Notwendigkeit der Veränderung der Gesellschaft endet, so doch ohne eine Vision dafür. Auch deshalb kommt der Rezensent nach der Lektüre von "Winterdämmerung" zu einer ungewöhnlichen Schlussfolgerung: für einen fünften Band der "Kinder des Sisyfos"!

von Sascha Stanicic, Berlin

Schöfer schreibt über die Geschichte der westdeutschen Linken von 1968 bis 1989. Seine ProtagonistInnen kämpfen gegen Springer, gegen das AKW Whyl, sind bei Betriebsbesetzungen und Streiks dabei und in diesem vierten Band beim Kampf gegen die Startbahn West am Flughafen Frankfurt/Main und beim AufRuhr für den Erhalt des Krupp-Werks in Duisburg-Rheinhausen. Sie sind engagiert im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt (der tatsächlich von Schöfer mit begründet wurde), in der Gewerkschaft, der DKP, kulturell und in sozialen Bewegungen. Sie debattieren das Für und Wider des Sozialismus, der Partei. Sie stellen in Frage und suchen, kämpfend, nach Antworten.

Da ist Viktor Bliss: von Berufsverbot belegter DKP-Lehrer, der bei dem Versuch, Menschen aus einem Feuer zu retten, am ganzen Körper schwere Brandverletzungen davon trägt und im vierten Band den schweren Weg zurück ins Leben findet, unterstützt von seiner Enkelin Ann, die ihn aus den USA zum ersten Mal besucht. Da ist Armin Kolenda: Redakteur der DDR-nahen Demokratischen Zeitung und Mitarbeiter im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Und da ist Manfred Anklam: ex-trotzkistischer, etwas spontaneistischer Arbeiter, Gewerkschafter und Betriebsrat, der für einige Jahre die Karrieretreppe zum Werkleiter bei Krupp-Rheinhausen aufsteigt und dann zu einem führenden Kopf des Kampfes um den Erhalt des Werks wird (unschwer ist Helmut Laakman hier zu erkennen) und 1989 dann in die SPD eintritt. Hinzu kommen eine Reihe anderer Figuren, die andere Aspekte der Wirklichkeit der Linken in Deutschland repräsentieren sollen. Der Stoff ist reich an Figuren, Geschichten, Meinungsstreit und es ist unmöglich in einer Rezension dieser Länge allen Aspekten des Textes gerecht zu werden.

So nimmt die Geschichte des Gewerkschafters Sonnefeld einen großen Raum ein. Dieser ist ein kritischer und engagierter Redakteur einer gewerkschaftlichen Kulturzeitung, geschätzt von seinen KollegInnen und politischen MitstreiterInnen. Er beginnt eine neue Beziehung mit einer alleinerziehenden Mutter und scheint zum ersten Mal in seinem Leben privates Glück gefunden zu haben. Kurz bevor er mit seiner Partnerin und ihren zwei Kindern in ein gemeinsames Haus zieht – bringt er in einem nicht nachvollziehbaren Gewaltakt die Tochter seiner Freundin um. Kurze Zeit später nimmt er sich selber das Leben. Dieser Teil des Buches bewegt, wühlt auf und irritiert. Man fragt sich, ob auch diese Geschichte ein Teil realer Geschichte ist (und ja, es hat einen solchen Fall gegeben). Die Tat, die Reaktionen der Mutter des Opfers, die gleichzeitig den Mörder liebt(e), und des persönlichen wie politischen Umfelds des Täters ergreifen den Leser und stellen ihn vor die Frage: wie möglich ist das Unmögliche im Handeln von Menschen? Wie tief schlummern (auch) in gutmeinenden, ja nach aller Beurteilungsmöglichkeit guten und positiv engagierten, Menschen unerkennbare Abgründe? Und: kann man diesen Menschen dann noch als Menschen sehen und sich mit ihm als Menschen auseinandersetzen, oder gibt es nur noch den Täter?

SPD, DDR und DKP

Ein wichtiges und wiederkehrendes Thema ist die Entwicklung des sogenannten "real existierenden Sozialismus" und der diesen in der Bundesrepublik vertretenden Partei DKP. Dies ist logische Folge davon, dass das Verhältnis zur DDR für alle Linken in der Bundesrepublik eine Gretchenfrage war, drückt aber wahrscheinlich auch den autobiographischen Gehalt der Bücher aus, denn der Autor war, wie er selber betont kritisches, DKP-Mitglied.

Auch wenn das Buch kein Geschichtsbuch, sondern ein Roman ist, beschreibt es doch auch Geschichte und bietet Erklärungsmodelle für gesellschaftliche Entwicklungen an. Gerade für die in "Winterdämmerung" beschriebene Periode bis zum Zusammenbruch der stalinistischen Staaten und dem vermeintlichen Sieg des Kapitalismus, sehe ich Lücken in der politischen und historischen Seite von Schöfers Werk.

Wie schon in den ersten drei Bänden wird auch in diesem Band die SPD-Linke und vor allem der Jugendverband Jusos unterbelichtet. Es dominiert der Blick von DKP-Mitgliedern und anderen radikalen Linken auf die SPD, der zu selten zwischen bürgerlicher Führung und der damals noch bestehenden Massenbasis unter Lohnabhängigen unterscheidet. Linke, kämpferische Arbeiter, die trotzdem die SPD (kritisch) unterstützen kommen dementsprechend kaum vor. Es fällt auf, dass Schöfer weniger einfache ArbeiterInnen als SPD-UnterstützerInnen darstellt, sondern vielmehr Intellektuelle, die sich für Willy Brandts Ostpolitik begeisterten. Der Zustrom von 100.000 nach dem Sturz der sozialliberalen Koalition in die SPD und die in den folgenden Jahren einsetzende Linksverschiebung in der Partei wird gar nicht behandelt. Ob sich darin wieder spiegelt, dass die DKP und viele radikale Linke unfähig waren, sich zu den sozialdemokratisch orientierten Massen in eine Beziehung zu stellen und diese durch eine Politik der Einheitsfront für eine revolutionäre Perspektive zu gewinnen sei dahin gestellt… wobei hier das Problem auch darin besteht, dass die DKP eine solche revolutionäre Perspektive schon aufgegeben hatte, wie Schöfer auch deutlich macht. Aber auch darin, dass für einen Sozialismus à la DDR in der westdeutschen Arbeiterklasse kein Blumentopf zu gewinnen war.

Es fehlt dem Buch eine zutreffende Analyse der Frage, was der Stalinismus war und warum er scheiterte. Dieser erscheint den Hauptfiguren doch eher als Buch mit sieben Siegeln. So sagt Bliss an einer Stelle: „Auf Stalin habe ich keine Antwort. Außer Verzweiflung.“ Sein späterer Kampf für Gorbatschows Reformen und für eine Öffnung der DKP lässt jede Analyse der Gründe für den Bürokratismus vermissen und beklagt nur deren Symptome – bürokratischen Zentralismus, fehlende Diskussionskultur, Misstrauen etc. Da wird vom Kampf der Bürokraten gegen die Reformer in der Sowjetunion gesprochen und nicht erkannt, dass doch nur die einen Bürokraten gegen die anderen Bürokraten kämpften – mit dem Ziel begrenzte Reformen von oben durchzuführen, um eine Revolution von unten – die die Macht der Bürokratie hätte gefährden können – zu verhindern. Dass gerade diese vermeintlichen Reformer dann zu Steigbügelhaltern für die Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse in diesen Ländern wurden, wird leider auch kaum heraus gearbeitet. Kann man das von einem Roman erwarten? Ich denke ja, denn es handelt sich in gewisser Hinsicht um einen historischen Roman, der sich nicht auf die fiktive Darstellung der "Abenteuer" seiner ProtagonistInnen beschränkt, sondern durch die Erzählung kleiner, individueller Geschichte(n), auch große Geschichte schreibt und politische Erklärungsansätze anbietet. Dies hätte umfassender geschehen können, wenn es zum Beispiel einen linken Sozialdemokraten als Hauptfigur gegeben hätte und wenn ein Trotzkist eine Rolle spielen würde, durch die unter anderem die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus mehr analytischen Tiefgang hätte gewinnen können.

1989 als Ende oder Neuanfang?

Am Ende des Buches kommen die zentralen Hauptfiguren zusammen und diskutieren die Lage der Welt und den Zustand der Linken. Sie stellen ihre eigenen bisherigen Überzeugungen in Frage und öffnen sich für (für sie) neuen Ideen. Schöfer stellt hier viele der Gedankenprozesse und Debatten dar, die sich zum Ende der 80er Jahre unter vielen linken AktivistInnen vollzogen. Und es entspricht auch der Realität, wenn hier kleinbürgerliche, dem Klassenkampf fremde und unmarxistische Ideen im Mittelpunkt stehen: Viktor Bliss" Enkelin begeistert sich für die alternativen Lebenskonzepte der Kommune Kaufungen, bei anderen stehen Robert Jungks Ideen hoch im Kurs, der die Klassenfrage in eine Gattungsfrage auflöst und Manfred Anklam tritt Ende 1989 in die SPD ein und verabschiedet sich so von jeder revolutionären und klassenkämpferischen Perspektive und orientiert stattdessen auf Brandt und Lafontaine und eine sozialere Republik mittels einer SPD-geführten Bundesregierung.

Doch warum hält nicht eine der Hauptfiguren am Marxismus, der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse, der Notwendigkeit eines auf gesellschaftlichem Eigentum und demokratischer Planung basierenden Wirtschaftssystem fest? Warum drückt nicht eine Person die Perspektive aus, dass es zu einer Renaissance der Arbeiterbewegung, von Masenkämpfen, des Sozialismus, kommen wird? Sicher sahen das 1989 nicht viele so, aber es gab sie – nicht zuletzt die Trotzkisten. Solche Aussagen hätten eine Brücke zu den Kämpfen der Gegenwart bilden können.

Nebenbei bemerkt liegt Schöfer mit Anklams Eintritt in die SPD doch ziemlich daneben. Manfred Anklam ist in seiner "Krupp-Phase" an Helmut Laakmann angelehnt, einer der wichtigsten Führungsfiguren des Kampfes in Rheinhausen. Dieser trat tatsächlich in die SPD ein, aber nicht 1989, sondern mitten im Kampf 1987 und nicht aufgrund der SPD-Führung, sondern trotz der SPD-Führung. Und Ende 1989 ist kaum mehr jemand in die SPD eingetreten, Anklams Schritt repräsentiert also keine 1989 unter Linken reale Entwicklung.

Ein großes Werk

"Winterdämmerung" ist, trotz der in dieser Rezension in den Mittelpunkt gestellten Kritik an den politischen Aussagen, mehr als lesenswert, wie die gesamte Tetralogie Schöfers. Ihm ist ein großes Werk gelungen. Sicher keine vollständige Chronik der westdeutschen Linken, aber doch eine Darstellung, die den Leser und die Leserin die Kämpfe und das Denken der radikalen Linken in Westdeutschland besser verstehen lässt.

Schöfer lässt sein Werk im Jahr 1989 enden, dem Jahr, dass die größte Zäsur seit 1945 bedeutete. 1989 war der Tiefpunkt für die Linke und die Arbeiterbewegung. Ein Buch über die Geschichte der Linken in diesem Jahr enden zu lassen, läuft Gefahr, ob gewollt oder nicht, den Eindruck zu erwecken, dass danach nicht mehr viel gekommen ist. Seitdem sind 19 Jahre vergangen. Jahre, in denen der Sieg des Kapitalismus über DDR und Sowjetunion bewiesen hat, was eine kapitalistische dominierte Welt bedeutet: wachsende Armut und soziale Verwerfungen auch in den entwickelten kapitalistischen Ländern, steigende Umweltzerstörung, mehr und mehr Kriege. Aber auch Jahre, nach denen die Linke im Wiederaufbau begriffen ist, und das nicht entlang der Ideen, die am Ende des Buchs präsentiert werden. Sondern im Rahmen der globalisierungskritischen Bewegung, des lateinamerikanischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, großer betrieblicher und gewerkschaftlicher Kämpfe und des Wiederaufbaus neuer linker Parteien in vielen Ländern, wie in Deutschland der Partei DIE LINKE. Dies könnte der Stoff eines fünften Bandes sein. Dieser könnte zeigen, dass der rote Faden des Widerstands und des Sozialismus 1989 nicht vollständig gerissen wurde. Er könnte nicht nur einen Optimismus der Hoffnung verbreiten, wie dies am Ende von "Winterdämmerung" steht, sondern einen Optimismus der Tat – dem Eintritt von Hunderttausenden und Millionen in Kämpfe, Streiks, Massenbewegungen seit der Belagerung des WTO-Gipfels in Seattle 1999.