Kein kleineres Übel

Zum Ende des Ladenschlusses in Berlin
von Daniel Behruzi
 

(erschienen in der jungen Welt, 11. November)

Die Berliner Regierungskoalition aus SPD und Linkspartei.PDS beginnt ihre zweite Legislaturperiode so, wie sie die erste aufgehört hat. Mit dem Durchpeitschen des Ladenöffnungsgesetzes im frisch konstituierten Abgeordnetenhaus am späten Donnerstag nachmittag tritt sie die Rechte der rund 60000 Einzelhandelsbeschäftigten und ihrer Fami­lien mit Füßen. Was sind die Floskeln über den besonderen Schutz von Kindern und Jugendlichen wert, die sich auch im aktuellen Koalitionsvertrag wiederfinden, wenn die erste Maßnahme des Senats es Tausenden Müttern und Vätern unmöglich macht, sich mit ihren Sprößlingen zu beschäftigen? Was soll das Gerede von Geschlechtergerechtigkeit und Frauenförderung, wenn viele der Verkäuferinnen, die mehr als 70 Prozent der Einzelhandelsbeschäftigten stellen, ihren Job aufgeben müssen, weil spät abends keine Kita mehr geöffnet hat?

Mit der üblichen Ausrede haushaltspolitischer »Sachzwänge« können Wowereit und Wolf dieses Mal nicht kommen, denn mit der finan­ziellen Lage Berlins hat dieses Gesetz rein gar nichts zu tun. Es bedient lediglich die Lobbyinteressen einiger großer Einzelhandelskonzerne, denen verlängerte Öffnungszeiten zusätzliche Einnahmen in ihren Filialen auf dem Ku’damm oder am Alex bescheren dürften. Insgesamt wird die Kaufkraft in der »Hauptstadt der Armen« dadurch allerdings keineswegs wachsen, weshalb die Existenz kleinerer Geschäfte in den Stadtteilen gefährdet ist. Aber auch die großen Konzerne werden –das haben sie bereits kundgetan – versuchen, die Mehrkosten der verlängerten Öffnungszeiten durch Stellenabbau und Lohnkürzungen auf die ohnehin unterbezahlten Einzelhandelsangestellten abzuwälzen. Soviel zur Glaubwürdigkeit der Kampagne für einen anständigen Mindestlohn…

Wie schon beim Ausstieg aus dem Flächentarif macht sich die Berliner Landesregierung mit diesem Gesetz zum Vorreiter des neoliberalen Um- bzw. Abbaus. Denn die Aufgabe des Ladenschlusses leistet der Ausrichtung aller Aspekte des gesellschaftlichen Lebens an Wirtschaftsinteressen Vorschub. Daß nun auch an mindestens zehn Sonntagen im Jahr in den Geschäften Geld ausgegeben und verdient werden darf, ist nicht nur für religiöse Menschen ein Affront. Auch die Arbeiterbewegung hat sich aus gutem Grund in jahrzehntelangen Kämpfen dafür eingesetzt, daß der Mensch zumindest an einem Wochentag der kapitalistischen Verwertungslogik nicht direkt unterworfen ist. Pikanterweise ist es ausgerechnet die CSU-Fraktion im bayerischen Landtag, die – sicherlich vor allem aus Rücksichtnahme auf die mächtige katholische Kirche im Freistaat – dem Drängen der Stoiber-Regierung nach einer Freigabe der Ladenöffnungszeiten bislang widerstanden hat. Vom »kleineren Übel« durch »rot-rot« kann in diesem Fall also nicht die Rede sein.