60 Jahre nach der Befreiung des KZ Buchenwald

Wir veröffentlichen hier das revolutionäre Manifest der im KZ Buchenwald inhaftierten Trotzkisten vom 20. April 1945. Es drückt die Hoffnungen aus, dass mit dem Ende des Faschismus auch die letzte Stunde des kapitalistischen Systems geschlagen hat. Der Einleitungstext unseres Genossen Hans Miro Tuzla weist darauf hin, dass dieser Optimismus nicht unbegründet war und Deutschland, wie ganz Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von einer revolutionären und sozialistischen Welle erfasst wurde.
 
Zum Buchenwalder Manifest der Trotzkisten

Heute ist kaum vorstellbar, wie haarscharf Europa 1945 an der sozialen Revolution „vorbeigerutscht“ ist, das heißt wie es den Alliierten gelang durch Besetzung Deutschlands und Osteuropas, jede revolutionäre Bewegung im Keim zu ersticken.
Natürlich war dafür die systematische Verwüstung besonders der Arbeiterviertel im ansonsten sinnlosen Bombenterror eine der Vorarbeiten.
Hauptgrund war natürlich ein politischer: Die Führung der Sowjetunion machte, wie in Jalta und Potsdam vereinbart, ihren gesamten Einfluss geltend, um über ihren verlängerten Arm, die jeweiligen Kommunistischen Partein und die Besatzungstruppen alle Ansätze zur Selbstorganisierung und Selbstverwaltung der sofort wieder aktiven Reste der Arbeiterbewegung zu unterdrücken (Gruppe Ulbricht in Berlin, Gruppe Ackerman in Dresden).
Auch in Italien, Frankreich, den Benelux-Staaten gelang es nur mühsam durch „Einbindung“ der Kommunistischen Parteien in Regierung und Staatsapparat die breiten Volksmassen, vom Ziel der Beseitigung des Kapitalismus abzubringen. Nur in Jugoslawien und China haben stalinistische Bauernarmeen gegen Stalins Willen die Macht erobert. In Griechenland tobte ein jahrelanger Krieg gegen die britischen Truppen, die an die Stelle der geschlagenen Naziarmee traten und 1947 den Kapitalismus retten konnten.
Die Bolschewiki unter Lenin und Trotzki gingen davon aus, dass Mokau nur vorübergehend die „Hauptstadt der Revolution“ bleiben würde. Sofort nach dem bald erwarteten Sieg der Revolution in industriell entwickelteren Ländern, besonders Deutschland, läge das Zentrum der Kommunistischen Internationale (Komintern) in Berlin und in Moskau nur eine kleine „Zweigstelle“ der kommunistischen (III.) Internationale.

Nach der blutigen Unterdrückung der Revolution in Deutschland entwickelte sich die bürokratische Kaste des so genannten „Sozialismus in einem Land“, das zudem noch das rückständigste Europas war, zu einer auf die Macht- und Privilegienerhaltung in der UdSSR beschränkten konservativen Schicht.
Zumindest schon in der spanischen Revolution von 1937 bis 1939, und in Frankreich 1936 hatte die Sowjetbürokratie bewiesen, dass sie sich durch die siegreiche Revolution in einem weiteren Land, besonders einem entwickelteren Land, in ihrer Existenz tödlich bedroht sah.
Nach Abschaffung der Komintern 1943 traf dies in nochmals verstärkt für die Nachkriegszeit zu. Die weltweite Erschütterung des Kapitalismus 25 Jahre zuvor (1917 bis 1923) war der Bourgeoisie, der Sowjetbürokratie und der Arbeiterklasse noch in lebendiger Erinnerung. Die zu Handlangern Moskaus entarteten Kommunistischen Parteien arbeiteten systematisch auf die Schaffung bürgerlich parlamentarischer „Volksdemokratien“ in Europa hin und wurden sogar von der SPD bezüglich sozialistischer Forderungen links überholt.
In der BRD wurden sämtliche Volksentscheide zur Überführung der Großindustrie in Gemeineigentum untersagt, nachdem in Hessen, Bremen und NRW überwältigende Mehrheiten sich dafür ausgesprochen hatten. Von räte-ähnlich organisierten Arbeitern besetzte Bergwerke und Großbetriebe wurden zum Teil mit Panzern der US-Armee für die „rechtmäßigen“ Besitzer „befreit“.
Die in fast allen Städten sofort nach Kriegsende entstandenen Antifa-Komitees wurden unterdrückt, weil sie in Ost und West die mit den Nazis bis zum Schluss kollaborierende Bourgeoisie als Verantwortliche für Krieg und Faschismus entmachten wollten, Betriebe und Kommunen selbständig lenkten und wieder aufbauten.
So hieß es auch im sozialdemokratischen Buchenwalder Manifest von April 1945: „Die letzte Ursache dieses ungeheuerlichsten aller Kriege liegt in der Raubtiernatur der kapitalistischen Wirtschaft…. Wir fordern, dass diesen Gesellschaftskrisen durch eine sozialistische Wirtschaft ein absolutes Ende gesetzt wird.“ Dagegen forderte das Zentralkomitee der KPD und KP-Minister „die freie Entfaltung der Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums.“

In Hamburg gründeten schon im Mai SPD- und KPD-Arbeiter die „Sozialistischen Freien Gewerkschaften“, die in wenigen Wochen 50.000 Mitglieder in Hamburg hatten und am 18.Juni 1945 von der britischen Labour-Regierung verboten wurden. Noch am 12. November 1948 sah sich die DGB-Spitze von der Basis gezwungen einen Generalstreik gegen die Folgen der ungerechte Währungsreform von Juni 1948 und die Wiederherstellung des Kapitalismus zu organisieren, an dem sich zehn Millionen Lohnabhängige beteiligten.
Der Gedanke einer Rückkehr zum kapitalistischen System war so unpopulär, dass selbst im Ahlener CDU Programm 1947 der Sozialismus als einzig mögliche Zukunft gefordert wurde. (Zu Einzelheiten siehe z.B. Tilman Fichter : „Der erzwungene Kapitalismus, BRD 1945 bis 1949“)
Die im Übergangsprogramm von Trotzki formulierte Erwartung eines gewaltigen revolutionären Stimmungsumschwungs in der Nachkriegszeit ist insofern nicht weit von der damaligen Realität entfernt, aber wie es 1918/19 Reichswehr und Sozialdemokratie gelang, die Revolution nach blutigen Kämpfen zu unterdrücken, so gelang es nach 1945 den Agenturen des sowjetischen Außenministeriums (KP‘en) in Europa, die Revolution schon im Keim zu ersticken. Ausnahmen sind nur Jugoslawien und China, und die immerhin siegreiche koloniale Befreiungsbewegung, die praktisch die halbe Menscheit vom Kolonialjoch in wenigstens formal unabhängige Staaten verwandelte.
Natürlich war auch in dieser Periode der fehlende „subjektive Faktor“, eine von sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien unabhängige revolutionäre Organisation der entscheidende Faktor. Die objektiven Bedingungen für eine revolutionäre Umwälzung nach dem 2.Weltkrieg waren trotz aller Präventivschläge der imperialistischen Demokratien und Sowjetrußlands gegeben. „Die gegenwärtige Krise der menschlichen Zivilisation ist die Krise der proletarischen Führung.“(Trotzki, 1938)

Heute ist schwer vorstellbar, mit welch systematischem Terror zum Beispiel die KP Frankreichs nach der Befreiung von Hitlerdeutschland potenzielle Führer einer solchen Bewegung ermordete. Ein Führer der damaligen Vorläuferorganisation von Lutte Ouvrier (LO), Mathieu Bucholz, wurde von bewaffneten Banden der KP Frankreichs entführt und zu Tode gefoltert, zwei weitere Genossen ebenfalls eingekerkert, wobei einem die Flucht gelang, und der andere durch geschicktes Verhalten beim Verhör freigelassen wurde (Pierre Bois und sein Bruder, später Führer des großen Streiks bei Renault). In Frankreich selbst gelang es dem Gründungsmitglied der italienischen KP, Pietro Tresco, und vier weiteren Trotzkisten aus einem KZ auszubrechen, aber die Stalinisten ermordeten die soeben Befreiten im Maquis! Natürlich sind die meisten Morde an trotzkistischen Revolutionären durch Nazi- und Stalinschergen nicht bekannt geworden, da sie vom bürgerlichen Staatsapparat wohlwollend gedeckt wurden. So wurden nicht nur in den dreißiger Jahren bei den Moskauer Schauprzessen, sondern auch in Spanien, Deutschland, Frankreich etc. zahllose Mitarbeiter und tausende Anhänger Trotzkis ermordet.
Schon 1929 wurden systematisch in trotzkistische Organisationen gut geschulte Agenten eingeschleust. Diese erlangten nicht wenige Schlüsselpositionen und führten dann Spaltungen, Verrat etc. durch (in Deutschland zum Beispiel Well in Leipzig und Senin in Berlin) . Diese wenigen Beispiele zeigen, wie sehr sich Bürgertum und Stalinismus der Gefahr der von Trotzki vorhergesehenen revolutionären Nachkriegs-Welle bewusst waren. Symptomatisch für die Stimmung noch drei Jahre nach Kriegsende ist zum Beispiel das Ahlener Programm der CDU, denn ohne solche Aussagen konnte keine Partei einen Fuß auf den Boden bekommen. Stalinisten und bürgerliche Medien verschleiern die revolutionäre Stimmung nach dem 2.Weltkrieg und reden nur vom „Wirtschaftswunder“.

von Hans Miro Tuzla

ERKLÄRUNG DER BUCHENWALDER TROTZKISTEN

In der bevorstehenden vorrevolutionären Periode gilt es, die werktätigen Massen im Kampf gegen die Bourgeoisie zu mobilisieren und den Aufbau einer neuen revolutionären Internationale vorzubereiten, die die Einheit der Arbeiterklasse in der revolutionären Aktion verwirklichen wird.

Alle Theorien und Illusionen über einen „Volksstaat“, „Volksdemokratie“ haben im Verlaufe der Klassenkämpfe unter der kapitalistischen Gesellschaft die Arbeiterklasse in die blutigsten Niederlagen geführt. Nur der unversöhnliche Kampf gegen den kapitalistischen Staat bis zu seiner Zerschlagung und die Errichtung des Staates der Arbeiter- und Bauernräte kann solche neuen Niederlagen verhindern. Die Bourgeoisie und das entwurzelte Kleinbürgertum haben den Faschismus an die Macht gebracht. Der Faschismus ist das Geschöpf des Kapitalismus. Nur die erfolgreiche unabhängige Aktion der Arpeiterklasse gegen den Kapitalismus ist imstande, das Übel des Faschismus samt seiner Wurzel auszureissen. In diesem Kampf wird sich das zögernde Kleinbürgertum dem revolutionär vorstürmenden Proletariat anschliessen, wie es uns die Geschichte der grossen Revolutionen lehrt.

Um aus den kommenden Klassenkämpfen siegreich hervorzugehen, muß die deutsche Arbeiterklasse die Verwirklichung folgender Forderungen erkämpfen:

– Organisations-, Versammlungs- und Pressefreiheit!
– Koalitionsfreiheit und sofortige Wiederherstellung aller sozialen Errungenschaften von vor 1933!
– Restlose Beseitigung aller faschistischen Organisationen!
– Beschlagnahme ihrer Vermögen zugunsten der Opfer des Faschismus!
– Aburteilung aller Träger des faschistischen Staates durch frei gewählte Volksgerichte !
– Auflösung der Wehrmacht und ihre Ersetzung durch Arbeiterrnilizen!
– Sofortige freie Wahl von Arbeiter- und Bauernräten in ganz Deutschland und Einberufung eines allgemeinen Rätekongresses!
– Trotz Ausnützung aller parlamentarischen Institutionen der Bourgeoisie für die revolutionäre Propaganda, Beibehaltung und Erweiterung der Räte!
– Enteignung der Banken, der Schwerindustrie und des Großgrundbesitzes
– Kontrolle der Produktion durch die Gewerkschaften und die Arbeiterräte!
– Keinen Mann, keinen Pfennig für die Kriegs- und Reparationsschulden der Bourgeoisie!
– Die Bourgeoisie muß zahlen!
– Für die gesamtdeutsche sozialistische Revolution, gegen eine Zerstückelung Deutschlands!
– Revolutionäre Verbrüderung mit den Proletariern der Besatzungsarmeen!
– Für ein Rätedeutschland in einem Räte-Europa!
– Für die proletarische Weltrevolution!

20. April 1945                                    

Die Internationalistischen Kommunisten Buchenwalds
(4. Internationale)

Abgedruckt z.B. in „Die Internationale“ Oktober 1974. Hrsgb. Gruppe Internationaler Marxisten