Schröder sagt A – wann folgt das B?

Stellungnahme der SAV zum Rücktritt Schröders als SPD-Vorsitzender
 
„Der Standpunkt der SPD ist nicht mehr der der Arbeiter, sondern nur noch der Abgehobenen.“
(aus einem Austrittsschreiben eines SPD-Mitglieds)

Gerhard Schröders Rücktritt vom SPD-Parteivorsitz, nur drei Monate nach seiner Wiederwahl in diese Funktion auf dem Bochumer Parteitag, symbolisiert den Niedergang der Sozialdemokratie in ihrer Metamorphose von einer bürgerlichen Arbeiterpartei (einer Partei deren Mitglieder weitgehend aus der Arbeiterklasse kamen und die von der Mehrheit der GewerkschafterInnen als „ihre“ Partei gesehen wurde, aber eine pro-kapitalistische Führung hatte) zu einer durch und durch kapitalistischen Partei. Diese Wandlung hat nicht mit der Übernahme der Regierung 1998 begonnen, wurde aber dadurch beschleunigt und vertieft. Spätestens seit der Verkündung der Agenda 2010 kann die SPD-Führung niemanden mehr mit ihrem Gerede von sozialer Gerechtigkeit täuschen. Der großen Mehrheit der arbeitenden und erwerbslosen Bevölkerung ist klar, dass die SPD eine Politik gegen sie und für die Banken und Konzerne betreibt. Mit der Demonstration vom 1. November hat sich der riesige Unmut gegen die Regierung erstmals massenhaft auf der Straße artikuliert. Dieser ist mit der Einführung der Maßnahmen der Agenda 2010 zum 1. Januar weiter gewachsen, da immer mehr Menschen erfahren, dass ihr Lebensstandard sinkt. Die GewerkschaftsführerInnen geraten mehr und mehr unter Druck, ihren Schmusekurs mit Schröder aufzugeben und sehen sich gezwungen für den 3. April zu Großdemonstrationen gegen Sozialabbau aufzurufen. Auf Gewerkschaftskongressen wird Schröder ausgepfiffen und immer mehr GewerkschafterInnen wollen keine Rücksicht mehr auf die SPD nehmen. Das hat die Partei in eine tiefe Krise gestürzt: in Umfragen liegt sie noch bei 24 Prozent Wählerunterstützung, 125.000 Mitglieder hat die Partei seit dem Regierungsantritt 1998 verloren, alleine im Jahr 2003 waren es 43.000. Immer mehr enttäuschte SPD-Mitglieder sehen keine Möglichkeiten in der Partei noch etwas zu bewirken. Die Berliner Zeitung veröffentlichte am 7. Februar einige Zitate aus SPD-Austrittsschreiben, die die Wut und Verbitterung der Mitglieder ausdrücken:

„Schröder ist zum schlimmsten Kohl aller Zeiten mutiert, der Rest seines Haufens bsteht aus austauschbaren Karrieristen, die die Ideen von Brandt, Wehner oder anderen aufrechten Sozialdemokraten über Bord geworfen haben.“

„Unsere Ulla Schmidt ist mir zum Brechmittel geworden.“

„Auf Grund der aktuellen Krankenkassen- und Rentenreform bin ich als Kleinrentner nicht mehr in der finanziellen Lage, den SPD-Mitgliedsbeitrag zu zahlen.“

„Ich will nicht mehr in Gesprächen und bei allerlei Anlässen als Punchingball stellvertretend für Schröder, Müntefering und den Rest der Junta in Berlin herhalten.“

Nun führte selbst im Inhalt milde Kritik von SPD-Landesfunktionären zu einer Situation, in der die Luft für Schröder zu dünn wurde. Der Wechsel zu Müntefering ist ein verzweifelter Versuch, die Partei ruhig zu stellen und den KritikerInnen den Focus ihrer Kritik zu nehmen. Ein Politikwechsel wird dadurch selbstverständlich nicht eingeleitet. Und auch eine Verlangsamung des „Reformtempos“ wäre nicht Folge dieser Personalentscheidungen, sondern des Widerstandes in der Arbeiterklasse. Doch damit ist kaum zu rechnen, denn Schröder und Müntefering beschwören ihre politische Übereinstimmung. Auch der neue Generalsekretär Klaus-Uwe Benneter ist alles andere als ein Linker, auch wenn ihm die CSU dieses Image andichtet. Er ist ein Vertrauter Schröders und steht voll und ganz hinter der Agenda 2010. Als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses zum Berliner Bankenskandal und als Vorsitzender des „Lügen-Ausschusses“ im Bundestag hat er sich nicht gerade als kritischer Geist hervorgetan.
Dementsprechend ist diese Maßnahme auch ein zum Scheitern verurteilter Versuch die SPD aus dem Tief zu holen. Die arbeiterfeindliche Politik wird fortgesetzt und die SPD-Feindlichkeit von ArbeiterInnen wird weiter steigen.
Die SPD-Landesfürsten haben mit ihrer Kritik auf die Stimmung in den SPD-Ortsvereinen und in der Arbeiterklasse reagiert und versuchen sich etwas sozialer als die Bundesregierung zu geben, um sich überhaupt eine Chance bei den WählerInnen zu erlügen und ihre Posten zu behalten. Aber im Kern vertritt die gesamte SPD – von Schröder bis zu sogenannten Linken wie Andrea Nahles – dieselbe Politik. Dementsprechend beschämend fielen auch die Reaktionen dieser Linken aus: sie zeigten sich zufrieden mit dem Rücktritt, hoffen nun darauf, dass sich in der SPD die Reihen schließen, beschwören Münteferings Gespür für die „Seele der Partei“ und schweigen zu politischen Fragen. Und wenn der saarländische SPD-Landeschef Heiko Maaß die Einführung einer Vermögensteuer und die Erhöhung der Erbschaftsteuer fordert, ist das nicht mehr als Linkspopulismus. Denn diese bescheidenen Maßnahmen alleine würden nicht die Geldmittel aufbringen, die nötig sind um die Krise der Staatsfinanzen zu lösen. Er fordert nicht einmal eine drastischere Besteuerung von Gewinnen und Vermögen, eine Maßnahme die zwar nicht die Krise des kapitalistischen Systems lösen würde, aber ein Schritt in die Richtung wäre, die nötigen Mittel für Sozialleistungen und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu mobilisieren. Einen Bruch mit der Politik für Banken und Konzerne haben die „SPD-Linken“ nicht im Sinn. Deshalb unterstützen sie auch die Proteste und Streiks von Beschäftigten und Erwerbslosen gegen Agenda 2010 und die Angriffe der Arbeitgeber nicht. Das gilt im übrigen auch für Oskar Lafontaine, der sich aus der gemütlichen Position des politischen Kommentators gerne als Globalisierungskritiker und Anwalt des kleinen Mannes präsentiert, im Endeffekt aber nur eine andere kapitalistische Krisenverwaltung vorschlägt. An der Regierung würde er unter den gegenwärtigen Bedingungen genauso schnell bei Sozialkürzungen landen, wie die PDS in Berlin dies tat – oder ganz schnell wieder zurücktreten. Denn unter den Bedingungen der kapitalistischen Krise kann nur eine – auf der Mobilisierung der Arbeiterklasse basierende – antikapitalistische Politik einen Ausweg aus der Spirale von Lohn- und Sozialkürzungen aufzeigen.

Der Rücktritt Schröders ist ohne Zweifel ein Zeichen der Krise und damit der Schwäche. Das Fragezeichen hinter dem Überleben der Regierung bis 2006 ist größer geworden und niemand wird sich wundern, wenn Schröder nach der in diesem Jahr zu erwartenden Zunahme von Demonstrationen und Streiks, sowie einer der 14 Wahlniederlagen das Handtuch wirft. Doch die deutschen Kapitalisten drängen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht auf einen Regierungswechsel, schließlich hat Rot-Grün ihnen fünfeinhalb Jahre gute Dienste geleistet und einen Krieg nach innen (gegen die eigene Arbeiterklasse) und nach außen (mit Militäreinsätzen in aller Welt) begonnen, der unter Kohl noch undenkbar gewesen wäre. Deshalb auch keine offensive Kampagne seitens der CDU/CSU, der Arbeitgeberverbände und der kapitalistischen Medien für Neuwahlen. Aus ihrer Sicht soll die SPD erst einmal all ihr Pulver verschießen und den Widerstand der Gewerkschaften so lange wie möglich bremsen. Danach wird eine CDU/CSU-geführte Regierung, möglicherweise auch eine Große Koalition, versuchen das Tempo der Angriffe auf soziale Sicherung, Löhne und Arbeitnehmerrechte weiter zu erhöhen. Wann dieser Zeitpunkt gekommen sein wird, ist nicht vorher zu sagen.
Schröders Rücktritt drückt aber auch ein anderes Phänomen aus. Er versucht sich als Regierungschef von seiner eigenen Partei unabhängiger zu machen. Die Einschätzung in bürgerlichen Medien, er sei nun „Kanzler von Münteferings Gnaden“ trifft die Lage nicht. Es handelt sich eher um eine Arbeitsteilung bei der Müntefering dem Kanzler den Rücken frei halten soll, damit er seine sogenannte „Reformpolitik“ fortsetzen kann. Es ist natürlich möglich, dass Schröder auch als Kanzler zurücktreten muss und von Müntefering beerbt würde, das würde aber früher oder später zu einem Regierungswechsel führen. Der Rücktritt ist auch der Versuch die Rolle der SPD für die Regierungspolitik zu verkleinern. Dahinter steckt der Wunsch eine Partei mit einem gewissen Eigenleben zu einer Wahlmaschine zu machen, wie es die Demokraten in den USA sind. Dass die SPD auf dem besten Weg dahin ist zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass die SPD-Mitglieder aus den Medien erfahren, wer der neue Parteivorsitzende wird. Demokratische Debatten und Entscheidungsprozesse gehören in der SPD schon lange der Vergangenheit an.

Die Enttäuschung mit der SPD ist riesengroß, gleichzeitig fürchten viele ArbeiterInnen, dass eine Merkel- oder Stoiberregierung noch drastischere Angriffe auf den Lebensstandard und die Rechte der arbeitenden Bevölkerung durchführen würde. Dieses Schreckgespenst wird von den Gewerkschaftsführern und der SPD ins Feld geführt, um Opposition gegen die Schröderregierung zu bremsen. Davon dürfen sich GewerkschafterInnen und alle von der unsozialen Politik Betroffene aber nicht einschüchtern lassen. Sollte die Schröderregierung durch eine Massenbewegung gegen Lohn- und Sozialraub gestürzt werden, hätte jede darauf folgende Regierung eine denkbar schlechte Ausgangsposition, um weitere Angriffe durchsetzen zu können. Und die Verantwortung für eine Rückehr der CDU/CSU an die Regierung läge bei der SPD. Die Kapitalisten haben heute viele Parteien, die eine Regierung in ihrem Interesse bilden können. ArbeiterInnen, Erwerbslose und Jugendliche haben heute keine starke Partei, die eine Regierung in ihrem Interesse bilden könnte. Das lässt nur eine Schlussfolgerung zu: eine neue Partei von ArbeitnehmerInnen, Erwerbslosen und Jugendlichen ist nötig. Das Potenzial für eine solche Partei in der Arbeiterklasse ist riesig, denn die wenigsten vertrauen den etablierten Parteien noch. Wird jedoch keine starke linke Alternative aufgebaut, werden früher oder später die neofaschistischen und rechtsextremen Kräfte wieder profitieren.
Um dieses Potenzial zu nutzen, müssen die Gewerkschaften in die Offensive gehen, ihre Mitglieder gegen die Unternehmeroffensive mobilisieren, mit der SPD brechen und die Gründung einer solchen Partei mit voran treiben. Dann könnten hunderttausende dafür mobilisiert werden. Es darf aber nicht darauf gewartet werden, dass die Gewerkschaftsführungen Schritte in diese Richtung ergreifen. Linke GewerkschafterInnen müssen in ihren Organisationen die Frage einer neuen Partei aufwerfen. Linke Organisationen müssen zusammen mit den AktivistInnen der sozialen Bewegungen und GewerkschafterInnen kämpferische Wahlbündnisse bilden. Die SAV beteiligt sich an solchen Wahlbündnissen (aktuell zum Beispiel in Aachen, Hamburg, Köln, Stuttgart) und hat vorgeschlagen einen bundesweiten Kongress dieser Bündnisse durchzuführen.
Wenn eine neue Arbeiterpartei aber nicht den Weg von SPD, Grünen und PDS gehen will, braucht sie ein anderes Programm und andere Prinzipien. Sie dürfte sich nicht auf den Boden der kapitalistischen Marktwirtschaft stellen und den „Ausgleich“ zwischen abhängig Beschäftigten und Kapitalbesitzern anstreben. Sie müsste konsequente Interessenvertretung für die Lohnabhängigen und Erwerblosen betreiben. Sie müsste größtmögliche innerparteilich Demokratie zulassen, ihre FunktionärInnen müssten jederzeit wähl- und abwählbar sein und dürften nicht mehr verdienen als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn, um zu verhindern, dass sie durch Bundestagsmandate und andere Posten ihre eigene soziale Frage im Rahmen des Kapitalismus lösen.
Um dies zu ermöglichen müsste sie ein sozialistisches Programm und eine sozialistische Praxis annehmen und ihre Tagespolitik mit dem Ziel der Abschaffung der kapitalistischen Herrschaft in Deutschland und weltweit verbinden.

Berlin, den 9. Februar 2004
Sascha Stanicic (SAV-Bundessprecher)