„Wann tun wir endlich was gegen diese Schweinerei?“

Höhepunkt der wilden Streiks vor 30 Jahren: Aufgrund des rechten Kurses der Gewerkschaftsführungen gingen die KollegInnen dazu über, auch ohne Billigung der Gewerkschaftsspitze zu kämpfen
 
Bürgerliche Politiker und Journalisten aber auch GewerkschafterInnen reden nach dem Desaster des Ostmetallerstreiks davon, dass in Deutschland jetzt nachgeholt wird, was in den USA bereits Anfang der 80er Jahre mit der Zerschlagung der Fluglotsengewerkschaft PATCO beziehungsweise in Britannien mit dem Sieg Thatchers über die britische Bergarbeitergewerkschaft Mitte der 80er eingeleitet wurde: eine kampflose Niederlage nach der anderen. Doch die Parallelen bestehen eher mit dem Wechsel von den 60er zu den 70er Jahren. Damals hatte die Poltitik der Gewerkschaftsführung dazu geführt, dass die Basis ohne Billigung der Gewerkschaftsführung dazu überging, mit wilden Streiks ihre Interessen zu verteidigen. Dadurch wurde eine Periode großer betrieblicher und gewerkschaftlicher Kämpfe eingeleitet, die die Gewerkschaften revolutionierte.
Die 60er Jahre waren gekennzeichnet von starkem Wirtschaftswachstum, das sich hauptsächlich in den Kassen der Unternehmer bemerkbar machte. Den ersten Knacks bekam der Nachkriegsaufschwung mit der ersten Rezession 1966 / 67. Die Propaganda vom krisenlosen Kapitalismus und der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit verlor an Glaubwürdigkeit. Es kam zu einem enormen Autoritätsverfall von Staat und Parteien, vor allem der regierenden CDU.
In der Folge davon stürzte im November 1966 die CDU-Regierung unter Erhard. Es kam zur Bildung einer Regierung der Großen Koalition von CSU/CDU und SPD. Zwei Spitzenfunktionäre der Gewerkschaften avancierten zu Bundesministern.
Bis Mitte der 50er Jahre war die Linke in den Gewerkschaften noch sehr stark. Zwei Jahre nach der derzeit vielzitierten Niederlage eines IG-Metall-Streiks in Bayern 1954 waren es vor allem BetriebsrätInnen und Vertrauensleute, die von der 1956 verbotenen Kommunistischen Partei (KPD) geschult waren, die im 16 Wochen langen Streik für 100 Prozent Lohnfortzahlung mehrere Versuche des IG-Metall-Vorstands den Streik abzubrechen, verhinderten und so den Erfolg des Streiks sicherten.
Nachkriegsaufschwung und Kalter Krieg bildeten die Grundlage dafür, dass rechte SPD-Funktionäre die Linken aus KPD und SPD weitgehend isolieren konnten und die Kontrolle über die Gewerkschaften und Betriebsräte gewannen.
Die Folge davon waren Entpolitisierung der Gewerkschaften, Co-Management auf allen Ebenen, äußerst moderate Tarifabschlüsse, Tatenlosigkeit gegenüber die körperlich immer härter werdenden Bedingungen an den Fließbändern, völlige Abgehobenheit gegenüber den Sorgen und Nöten der einfachen Mitglieder.
Die Gewerkschaften waren von der Gegenmacht zum Ordnungsfaktor geworden.
Schließlich wurde die offene Zusammenarbeit mit dem Klassengegner 1967 in der ’Konzertierten Aktion‘ institutionalisiert. Die Gewerkschaftsführer ließen sich auf Lohnleitlinien ein, die Reallohnverluste für die Beschäftigten bedeuteten. Dieser Kontrollverlust der Basis über ihre Gewerkschaften hatte eine enorme Entfremdung gegenüber der Gewerkschaftsspitze zur Folge.
Obwohl die Beschäftigung in den 50er und 60er Jahren explodierte, gab es Ende der 60er Jahr nur 1,5 Millionen mehr Gewerkschaftsmitglieder als 1951. Der Organisationsgrad war von 39 Prozent im Jahr 1951 auf 29 Prozent im Jahr 1968 gesunken. Teils traten Mitglieder frustriert aus, Neueingestellte traten weniger in die Gewerkschaft ein.

Septemberstreiks 1969

Die massenhafte Unzufriedenheit mit der Politik der Gewerkschaftsführung und vor allem mit der Politik des Lohnverzichts entlud sich plötzlich im September 1969. Anlass waren Lohn- und Gehaltsdifferenzen in zwei Dortmunder Stahlwerken, die fusionierten. Um eine sofortige Erhöhung der Löhne durchzusetzen, legten die Arbeiter der Hoesch-AG-Hüttenwerke in Dortmund am 2. September die Arbeit nieder. Sie erhielten sofort 30 Pfennig mehr in der Stunde und beendeten ihren Streik einen Tag später.
Der Funke sprang jedoch auf andere Betriebe und Branchen über. Innerhalb von 18 Tagen legten 140.000 Beschäftigte aus 69 Betrieben die Arbeit nieder.
Die Septemberstreiks waren eine ernste Warnung an die Gewerkschaftsführung. Sie schufen ein ungeheueres Selbstbewusstsein an der Gewerkschaftsbasis, das in die Gewerkschaften hineinwirkte und die Gewerkschaftspitzen enorm unter Druck setzte.
Unter diesem Druck waren sie gezwungen mit Tarifabschlüssen von zehn bis zwölf Prozent die Lohnleitlinien zu durchbrechen. Aber wie immer, kommt mit dem Essen der Appetit. Die Kampfbereitschaft und das neu erwachte Selbstbewusstsein der Lohnabhängigen geriet alsbald in noch heftigere Kollission mit der Gewerkschaftsspitze.

Streikwelle ohne Gewerkschaftsführung

Der Tarifabschluss 1973 von 8,5 Prozent für die Stahlindustrie provozierte den Unmut der StahlarbeiterInnen. Sie wollten mehr. Deshalb kam es – Friedenspflicht her oder hin – bereits kurz nach dem Tarifabschluss zu den ersten Streiks.
Den Anfang machten hundert Beschäftigte der Schlossfabrik Hülsbeck & Fürst in Velbert. Sie traten in einen zweiwöchigen Streik. Wenige Tage später folgten ihnen rund 15.000 Hoesch-ArbeiterInnen der drei Dortmunder Stahlwerke, die bereits an den Septemberstreiks beteiligt waren. Weiter ging es in anderen Stahlbetrieben des Ruhrgebiets. Bei Mannesmann ind Duisburg-Huickingen kam es sogar zu einer einwöchigen Betriebsbesetzung. Im April schmissen 10.000 Beschäftigte des VW-Konzerns die Brocken hin.
Im August 1973 erreichten die wilden Streiks ihren Höhepunkt. In 100 Betrieben legten etwa 80.000 Beschäftigte die Arbeit nieder.
Die Welle wilder Streiks zog sich von Februar bis Ende Oktober hin. Insgesamt beteiligten sich 275.000 Beschäftigte in 335 Betrieben. Kennzeichnend für die gesamte Streikbewegung war, dass auch viele kleinere und mittlere Betriebe einbezogen waren und dass vor allem die am schlecht bezahltesten Schichten – ausländische ArbeiterInnen und Frauen – eine aktive Rolle in diesen Kämpfen spielten.
Und selbst im öffentlichen Dienst wurde wild gestreikt. Im Anschluss an die Tagesschau gab es 1973 eine tägliche Streikkarte. Welch ein Kontrast zu den täglichen Börsenberichten 2003.

Ford-Streik

Der bekannteste Streik in dieser Zeit war der Streik bei Ford Köln. Hier legten 17.000 Beschäftigte vom 24. bis 30. August die Arbeit nieder.
Ford nutzte die Absatzkrise um 500 türkische KollegInnen, die aufgrund von zu kurzem Urlaub nicht rechtzeitig nach den Werksferien zurückgekommen waren, kurzer-hand zu entlassen. Unbezahlter Urlaub wurde verweigert. Anderen KollegInnen wurde die Mehrarbeit, die durch die Entlassungen entstand, aufgedrückt.
Ein Kollege empörte sich über den zunehmenden Arbeitsdruck. Schließlich hörte er ganz auf zu arbeiten und schrie: ’Kollegen, wie lange sollen wir uns das noch gefallen lassen? Wann tun wir endlich was gegen die Schweinerei?‘ Und innerhalb von Minuten unternahm die ganze Y-Halle (Endmontage) was gegen die Schweinerei und legte die Arbeit nieder.
Sie formierten einen Demonstrationszug und zogen durch das ganze Werk. Ein deutscher Kollege nahm ein Stück Pappe und schrieb darauf ’60 Pfennig mehr‘.
Vor allem türkische KollegInnen protestieren: ’60 Pfennig zu wenig – muss 1 Mark‘.
So entstand die zentrale Forderung des Fordstreiks von einer Mark mehr für jeden pro Stunde.
Es wurde völlig unabhängig von den gewerkschaftlichen Strukturen ein Streikkomitee gebildet. Es erschienen regelmäßig Flugblätter der ’Kölner Fordarbeiter‘. Die Forderungen wurden erweitert: 6 Wochen bezahlten Urlaub, weg mit den 500 Entlassungen, Senkung der überhöhten Arbeitsnormen, mehr ArbeiterInnen an Maschinen und Bändern, Bezahlung der Streikstunden, keine Disziplinierungsmaßnahmen gegen die Streikenden.
Die Werksleitung reagierte mit Spaltung der Belegschaft und ungeheuerer Härte gegen die Streikenden.
Rassistische Spaltung
Bereits vor dem Streik war den 800 FacharbeiterInnen – meist deutschen KollegInnen – ’freiwillig‘ einen Teuerungszuschlag von 15 Pfennig pro Stunde gewährt worden. während die schlechter bezahlten – meist ausländischen KollegInnen – leer ausgehen sollten.
Diese rassistische Spaltung wurde während des ganzen Streiks betrieben, die gesamte bürgerliche Presse hetzte über den ’Türken-Terror‘ bei Ford. Und sie wurde unterstützt von den IG-Metall-Betriebsräten. Sie nutzten den Streik um mit der Geschäftsleitung Zugeständnisse auszuhandeln, die vor allem die Situation der deutschen KollegInnen verbesserte und die besonderen Forderungen der türkischen KollegInnen nicht berücksichtigte.
So wurde die Spaltung in der Belegschaft weiter vertieft. Schließlich kam es zu einer von der Geschäftsleitung organisierten Schlägerei mit Streikbrechern und massivem Polizeieinsatz. Die Streikführer wurden entlassen.

Streikerfolge

Die wilden Streiks 1973 brachten den Streikenden außerhalb der Tarifrunden Zugeständnisse: Teuerungszulagen von 20 bis 30 Mark im Monat oder Erhöhung der Stundenlöhne um bis zu einer Mark oder um einige Prozentpunkte. In einigen Betrieben wurden bessere Eingruppierungen erreicht, 100 Prozent Weihnachtsgeld durchgesetzt, höhere Zuschläge für Samstags- und Schichtarbeit erkämpft oder bessere Arbeitsbedingungen erreicht. Aber vor allem wurden ganz neue Schichten von Beschäftigten aktiviert und politisiert.
Reaktion der Gewerkschaftsführung
Die Streiks waren eine schallende Ohrfeige für die Tarifpolitik der Gewerkschaftsführung, zumal sie unmittelbar nach Abschluss oder kurz vor einer Tarifrunde stattfanden.
In der Stahlindustrie nahm die IG-Metall-Führung weiteren inoffiziellen Streiks den Wind aus den Segeln, indem sie im Mai 1973 kurz nach dem Tarifabschluss erneut mit den Arbeitgebern verhandelte und eine sogenannte ’stahltypische Zulage‘, als einmalige Sonderzahlung von 280 Mark vereinbarte.
Ansonsten ließen die Gewerkschaftsfunktionäre es nicht wie 1969 mit der Verweigerung jeglicher Unterstützung bewenden, sondern kritisierten die Streiks offen als gewerkschaftsschädigend. Ihre Haltung unterschied sich durch nichts von den Unternehmern und der bürgerlichen Presse. Sie forderten die Mitglieder zur Wiederaufnahme der Arbeit auf und versuchten über Vorstandsmitglieder, Arbeitsdirektoren und Betriebsräte, die auf ihrer Linie lagen einen Abbruch der Streiks herbeizuführen.
Der Versuch die Autorität der Gewerkschaftsführung gegenüber den Mitgliedern auf diese Weise wieder herzustellen schlug jedoch fehl. In vielen Betrieben spielten Betriebsräte und Vertrauensleute eine aktive Rolle im Streik. In Betrieben, in denen die betrieblichen Funktionäre gegen die Streiks arbeiteten, bildeten sich Streikkomitees, die völlig unabhängig von den gewerkschaftlichen und Betriebsratsstrukturen arbeiteten.
Als die Streikwelle sich immer mehr intensivierte, sah sich die Gewerkschaftsführung der Gefahr ausgesetzt, völlig die Kontrolle über die Mitgliedschaft zu verlieren und änderte ihre Politik.
Die ötv-Spitze (die Spitze der Vorgänger-Gewerkschaft der heutigen ver.di im öffentlichen Dienst) reagierte auf die um sich greifende Forderung nach Teuerungszulagen. Trotz Friedenspflicht und ohne Kündigung des Tarifvertrags verlangte sie unter Streikandrohung ein volles 13. Monatsgehalt, setzte dies durch und verkündete diesen Erfolg triumphierend in Schnellbriefen an alle Mitglieder.
Trotzdem konnte sie wilde Streiks im öffentlichen Dienst nicht ganz verhindern. In Hannover zum Beispiel erkämpften sich die Beschäftigten der Stadtverwaltung zusätzlich durch spontane Arbeitsniederlegungen eine einmalige gestaffelte Zulage.

Gewerkschaftliches Selbst- und Kampfbewusstsein

Die Streikwelle führte innerhalb der Arbeiterklasse zu einem enormen Selbstbewusstsein und zu einem Gefühl von Stärke. SozialistInnen, die in den 50er und 60er Jahren isoliert waren, wurden wieder ermutigt, in die Offensive zu gehen und spielten eine führende Rolle in der Streikbewegung.
Diese Ermutigung begann bereits durch die Studentenbewegung und durch internationale Ereignisse, wie die Revolution im Mai 68 in Frankreich, und die vorrevolutionäre Entwicklung des heißen Herbst in Italien 1969.
In der IG Metall kam es bereits 1971 auf dem Wiesbadener Gewerkschaftstag zu einer offenen Konfrontation zwischen einem harten oppositionellen Kern und dem Vorstand. Auch bei den Vorstandswahlen forderte die Opposition den Vorstand heraus und stellte vier Gegenkandidaten auf.
Walter Malzkorn, noch heute aktiv in der Gewerkschaftlinken in Köln, erhielt rund ein Viertel der Stimmen.
Insgesamt kamen die Gewerkschaftsspitzen durch die aktive Basis immer mehr unter Druck und mussten darauf reagieren, um nicht völlig die Kontrolle zu verlieren. So musste der damalige ötv-Vorsitzende Kluncker 1974 im öffentlichen Dienst einen Streik für 15 Prozent Lohnerhöhung führen, der zum Sturz von SPD-Kanzler Willy Brandt führte.
Rechte Betriebsräte bekamen Konkurrenz von linken oppositionellen Listen. Vertrauensleute wurden in den 70er Jahren zur aktiven und politischen Basis der Gewerkschaften.
Die Antwort auf die Rezession 1974 / 75 waren tarifpolitische Abwehrkämpfe und die Forderung nach 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Wie breit die Radikalisierung ging, zeigte sich daran, dass zum Beispiel 1975 im ländlichen westfälischen Erwitte 150 Beschäftigte eines Zementwerkes im Kampf gegen die Schließung das Werk ein Jahr lang besetzten.
Diese Radikalisierung und Aktivierung vieler Belegschaften führte nicht zuletzt dazu, dass die Mitgliedszahlen der DGB-Gewerkschaften von 1969 bis 1979 um mehr als 1,3 Millionen auf 7,8 Millionen anstieg und ein Organisationsgrad von 34 Prozent allein bei den DGB-Gewerkschaften erreicht wurde. Zum Vergleich: in den 90er Jahren lag das Arbeitskampfvolumen um 77 Prozent unter dem der 70er Jahre. Der DGB verlor in den 90er Jahren fast vier Millionen Mitglieder.

von Ursel Beck, Stuttgart