Artikel aus der VORAN (der Vorläuferzeitung der Solidarität) Nummer 65 (Juli/August 1983) über die Debatte um Generalstreik gegen Stationierung von Atomraketen
Reagan, die NATO und die Bonner Kohlregierung wollen die atomaren Mittelstreckenraketen auf jeden Fall stationieren lassen. Viele Aktivisten aus der Friedensbewegung, viele Jugendliche und gewerkschaftlich orientierte Arbeiter fragen sich jetzt: Wie können wir die Raketenstationierung noch verhindern?
Oskar Lafontaine, saarländischer SPD-Landesvorsitzender und prominenter Redner auf Ostermärschen, hat mit einem Vorschlag hierzu viel Aufsehen erregt. Er regte nämlich als Mittel gegen die Stationierung gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen bis hin zum Generalstreik an.
Die bürgerliche Öffentlichkeit, die Regierung und sogar die Spitzen von DGB und SPD reagierten empört und erschrocken. Untergliederungen von DGB und Einzelgewerkschaften haben in den letzten Wochen Beschlüsse gefaßt, die Lafontaines Ideen entsprechen: die Gewerkschaft Kunst, die IG Druck und Papier in Baden-Württemberg und Hessen, der DGB-Kreis Bayreuth, die IG Metall Bundesjugendkonferenz und die IG Metall in Nürnberg und Heilbronn/ Neckarsulm sowie die HBV Berlin.
Für VORAN ist diese Forderung ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Schon vor einem Jahr haben wir in der Nummer 57 unserer Zeitung daraufhingewiesen, „. . .daß die Friedensbewegung außer dem Willen eines beachtlichen Teils der Bevölkerung keine handfesten Druckmittel in der Hand hat. Wir können demonstrieren, Unterschriften abgeben, protestieren und appellieren. Aber wenn das nicht ausreicht, um die Herrschenden zum Kurswechsel zu zwingen, sind wir am Ende mit unserer Bewegung. Die einzige Kraft, die in der kapitalistischen Gesellschaft einen Wandel herbeiführen kann, ist die Arbeiterklasse. . . Wenn sie nicht mehr bereit ist, für das Kapital zu arbeiten, ist es mit dessen Herrschaft nicht mehr weit her. Sogenannte autonome Bewegungen haben in ihrer Mehrheit stets aus den Augen verloren, daß sie auf die Arbeiterbewegung angewiesen sind, wenn sich ihre Ziele verwirklichen sollen.
Lafontaines Vorschlag gezielter Produktstreiks deutet auf die Tatsache hin, daß es Arbeiter sind, die die konkreten Maßnahmen bei der Stationierung verrichten, etwa Produktion, Bau und Transport. Wenn die Friedensbewegung diese Arbeiter nicht anspricht und überzeugt, dann wird sie auch daran scheitern.
1978 konnten noch rechte Gewerkschaftsführer aus IG Metall, IG Bergbau und Energie und ÖTV in Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern eine Kundgebung für den Bau von Atomkraftwerken im Dortmunder Westfalenstadion veranstalten. Über 50.000 Arbeiter und Angestellte bekamen dafür einen Tag bezahlten Sonderurlaub, Freßpakete und Tagesgelder und durften sich anhören, wie gut und arbeitsplatzsichernd doch die Atomkraft sei.
1983 wäre eine ähnliche Kundgebung mit Arbeitern aus der Rüstungsindustrie undenkbar, auf der die Gewerkschaftsführer Nachrüstung und Raketenstationierung priesen. Während es noch vor zwei Jahren große innergewerkschaftliche Konflikte um die Beteiligung der DGB-Jugend und des IG Metall-Vorstandsmitglieds Georg Benz an der Friedensdemonstration vom 10.10. gab, ruft heute der DGB-Vorstand selbst seine Mitglieder zur Teilnahme an den Demonstrationen im Oktober 1983 auf!
Inzwischen sind – auch mit offizieller Unterstützung durch die IG Metall – in norddeutschen Rüstungsbetrieben Arbeitskreise entstanden, die konkrete und praktische Vorschläge zur alternativen Produktion ziviler Güter (statt Waffen) vorgelegt haben. Viele Gewerkschaftstage haben Entschließungen gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen gefaßt. Nach Meinungsumfragen lehnt eine Mehrheit der Bevölkerung die Stationierung ab.
Viele aktive Gewerkschafter haben schon an politische Warnstreiks gedacht. Doch ein Generalstreik stellt eine ganz andere Qualität dar. Soll er erfolgreich sein, dann muß er von der breiten Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung aktiv und bewußt getragen werden – und nicht nur von der gewerkschaftlich organisierten Minderheit. Millionen bisher unpolitischer Arbeiter, CDU-Wähler und BlLD-Leser müßten bereit sein, das Risiko auf sich zu nehmen. Es ginge um eine entscheidende Machtprobe in der Gesellschaft. Unter einer schlechten und verwirrten Führung und ohne klare Strategie und Perspektiven muß auch ein zunächst erfolgreicher Generalstreik mit Rückschlägen und Niederlagen enden. Beispiele hierfür gibt es in der Geschichte mehr als genug. Der Generalstreik ist nicht einfach ein Mittel des Kampfes neben vielen anderen, das man eben mal ein- oder ausschaltet.
Gehen wir mal von dem (unwahrscheinlichen) Fall aus, die SPD und DGB-Spitze würde tatsächlich überzeugend und mit voller Kraft für den Generalstreik gegen die Raketenstationierung mobilisieren und unter diesem Druck die USA und NATO zur Zurücknahme ihrer Stationierungspläne zwingen. Sollen wir am Tage danach einfach wieder an die Arbeit zurückkehren? Wenn unsere Bewegung schon so stark ist, daß sie den westlichen Kapitalisten und Militärs einen zentralen Bestandteil ihrer Strategie durchkreuzen kann, sollen wir dann nicht gleich weiter gehen und mit der einmal mobilisierten Kraft auch die anderen Mißstände der Gesellschaft anpacken?
Wie steht es etwa mit den anderen Massenvernichtungswaffen, mit Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Sozialabbau und Umweltzerstörung? Sollen wir zur Bekämpfung dieser Probleme jeweils extra einen Generalstreik ansetzen?
Wenn auch eine große Mehrheit der Arbeiter die Raketenstationierung ablehnt – zu einem Generalstreik alleine gegen die Stationierung werden sie wahrscheinlich nicht bereit sein. Als Sozialisten müssen wir für ein Programm und Perspektiven eintreten, womit die Ziele der Friedensbewegung mit den materiellen Interessen der arbeitenden Bevölkerung verbunden werden:
– Keine Stationierung neuer Mittelstreckenraketen!
– Drastische Senkung der Rüstungsausgaben!
– Radikale, einseitige und bedingungslose Abrüstung jetzt!
– Der Verteidigungsetat der BRD muß für die Finanzierung der Umstellung der Rüstungsindustrie auf die Herstellung alternativer und gesellschaftlich sinnvoller Produkte eingesetzt werden!
– Verstaatlichung der Rüstungsindustrie unter demokratischer Arbeiterkontrolle und -verwaltung!
– Aufteilung der vorhandenen Arbeit auf alle! Für die 35-Stunden-Woche ohne Lohnverlust!
Es darf keine künstliche Trennung zwischen dem Kampf für den Frieden und dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft geben. Wir müssen dafür sorgen, daß es in den Kämpfen der nächsten Jahre in den westlichen Industrieländern gelingt, die kapitalistische Herrschaft zu stürzen und eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Sonst drohen letzten Endes auch in Westeuropa und den USA Militärdiktaturen wie heute schon in Lateinamerika. Dies würde schließlich zu einem atomaren Weltkrieg führen und den Großteil der Menschheit, ausrotten.
Daher: Frieden durch Sozialismus!