Gegen einen kapitalistischen Umweg – für ein sozialistisches und demokratisches Deutschland
Artikel aus der VORAN (der Vorläuferzeitung der Solidarität) vom Dezember 1988
Der 12. November 1948 war ein dunkler, trüber Freitag. Das ist nicht weiter außergewöhnlich. Aber daß an einem normalen Werktag von Flensburg bis Augsburg, von Göttingen bis Köln die Arbeit ruht – das ist in der ganzen Nachkriegzeit nicht mehr vorgekommen.
Der DGB hatte in der amerikanischen und der britischen Besatzungszone – der sogenanten Bi-Zone – zum 24-stündigen Generalstreik aufgerufen. Diesem Aufruf waren von den 11,7 Millionen Beschäftigten in der Doppelzone über 9 Millionen gefolgt. An diesem Tag streikten mehr als dreimal so viel Arbeiter wie in allen Streiks in den 20 darauffolgenden Jahren zusammengenommen.
Heute wird von der Zeit nach dem 2. Weltkrieg meist der Eindruck erweckt, als sei es geradewegs – mit Hilfe der Alliierten Amerikaner, Briten und Franzosen – im Westen Deutschlands von der Hitlerdiktatur zur „Demokratie“ gegangen. Diese Darstellung entspricht nicht der Wahrheit. Die Jahre 1945 bis 1952 waren gekennzeichnet von heftigen Klassenkämpfen, und die bürgerlich-parlamentarische Demokratie war keinesfalls das erklärte Ziel der Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Im Gegenteil – es war klar, daß das kapitalistische System direkt für die 12 Jahre Hitlerdiktatur verantwortlich war und daß es auf diesem Weg, wollte man derartige Auswüchse für die Zukunft vermeiden, nicht weiterging.
Die im Interesse der Bourgeoisie liegende Hauptfunktion des Faschismus war die völlige Zerschlagung einer der stärksten und kämpferischsten Arbeiterbewegungen der Welt, der deutschen, gewesen. Ihre Parteien und Gewerkschaften wurden zerstört, die meisten der führenden Aktivisten hingerichtet oder mußten emigrieren. Von allen politisch Verfolgten brachten die Arbeiterorganisationen die größten Opfer.
Hinrichtungen
Der Faschismus konnte zwar die Organisationen der Arbeiterbewegung zerschlagen – er konnte aber nicht alle die ca. 1,3 Millionen Parteimitglieder der SPD und KPD oder die ca. 5 Millionen Gewerkschaftsmitglieder physisch ausrotten. Trotz der noch in den letzten Kriegsjahren vorgenommenen 25.000 Hinrichtungen an politischen Gefangenen gab es weiterhin aktive Widerstandsgruppn. Sicher waren diese Gruppen und die Arbeiterklasse insgesamt durch 12 Jahre Naziterror und sechs Jahre Krieg zu geschwächt, um den Faschismus von innen zu besiegen. Aber es waren gerade diese Wiederstandsgruppen sowie ehemalige Mitglieder der beiden großen Arbeiterparteien, die noch während des Zusammenbruchs des Faschismus aktiv wurden.
So gelang es zum Beispiel im Ruhrgebiet einigen illegalen Betriebszirkeln, die Sprengung von Schachtanlagen durch SS-Wehrmachtverbände zu verhindern. In vielen Fällen übernahmen die spontan gebildeten Betriebsräte oder Betriebsausschüsse die Leitung der Fabriken.
Der gleiche Prozeß vollzog sich in den Kommunen. Auch hier entwickelten sich aus Widerstandsgruppen und Aktivisten der Arbeiterbewegung „Antifa-Komitees“ oder „Volkskomitees“. Ihre erste Aufgabe war es, den Widerstand versprengter Nazieinheiten nach Möglichkeit zu unterbinden und die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sicherzustellen.
All diese Aktivitäten waren vorerst geprägt durch die Notwendigkeit, das Überleben zu sichern. Mit der Niederlage des Faschismus brach fast automatisch der bürgerliche Staatsapparat und die kapitalistische Herrschaft in den Betrieben zusammen. Es war also auf der einen Seite ein Vakuum entstanden, welches zunächst nur durch die sich wieder organisierende Arbeiterbewegung gefüllt werden konnte.
Rätebewegung
Auf der anderen Seite muß diese „Rätebewegung“ aber auch als eine Folge der Lehren gesehen werden, die große Teile der Arbeiterklasse aus dem Faschismus gezogen hatten. Als eine der Ursachen für den Sieg des Faschismus 1933 wurde allgemein die Spaltung der Arbeiterbewegung zwischen SPD und KPD angesehen, die, verstärkt durch die jeweilige Parteiführung – eine Einheitsfront gegen den Faschismus unmöglich machte.
Gleichzeitig erkannte man, daß der Faschismus eine Folge des kapitalistischen Systems war, nur eine grausamere Spielart bürgerlicher Herrschaft. Das neu aufzubauende Deutschland konnte also nur ein sozialistisches sein. Diese Stimmung spiegelt sich nicht nur auf dem Papier wieder, sondern auch bei praktischen Aktionen.
Bereits am 19.4.1945, also fast einen Monat vor der offiziellen Kapitulation Nazideutschlands, fand das erste illegale Treffen der Betriebsräte aus sechs verschiedenen Ruhrstädten statt, Man beschloß die sofortige Wiederaufnahme der Produktion unter der Leitung der Betriebsräte, in enger Zusammenarbeit mit den örtlichen Antifa-Komitees.
Als Tagesaufgabe wurde allgemein die strikte Entnazifizierung, die Sozialisierung der Schwerindustrie und des Eigentums der Kriegsverbrecher gesehen. Ein amerikanischer Historiker schrieb 1949 über die Betriebsräte und die Antifa-Komitees folgendes: „Fast ausnahmslos wurden die alliierten Truppen bei der Besetzung größerer deutscher Städte von Delegationen linker Antifaschisten empfangen, die fertige Programme, Kandidaten für die örtliche Verwaltung und Unterstützung bei der Durchführung der Entnazifizierung bereithielten.“
Neue Ordnung
Die vorherrschende Stimmung der Arbeiterklasse drückte sich auch in den damaligen Reden der beiden führenden Nachkriegsgewerkschafter aus, Hans Böckler und Fritz Tarnow; „Der Kapitalismus liegt in seinen letzten Zügen.“ „Die Gegenwart geht schwanger mit einer neuen Ordnung…Es kann kein Zweifel sein, daß die Uhr der freien, privatkapitalistischen Produktionsordnung abgelaufen ist.
Es gibt allerdings einen grundlegenden Unterschied zwischen einem Totkranken und einer Leiche. Der Kapitalismus bricht nicht einfach zusammen, vielmehr bedarf es dazu der bewußten Aktion der Arbeiterbewegung – also auch der Gewerkschaften.
Sehr früh erkannten die Besatzungsmächte, in welcher bedrohten Lage sich der Kapitalismus in Deutschland befand. Zwar kamen den USA und Großbritannien der Niedergang eines der mächtigsten Konkurrenten sehr gelegen. Eine erfolgreiche sozialistische Revolution in Deutschland mit unabsehbaren internationalen Folgen barg allerdings ein wesentlich höheres Gefahrenpotential in sich als ein Wiedererstarken des deutschen Kapitals.
Die westlichen Besatzungsmächte taten also alles, um den Wiederaufbau der Arbeiterorganisationen zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. So wurde zum Beispiel die KPD in Teilen des Ruhrgebiets erst Mitte September 1945 wieder zugelassen. Die spontan in Hamburg gebildete „Sozialistische Freie Gewerkschaft“ mit 50.000 Mitgliedern wurde fünf Wochen nach ihrer Gründung verboten. Von den 194 Anträgen auf Gründung örtlicher Gewerkschaften wurden im Frühjahr 1946 von der britischen Besatzungsmacht nur 51 genehmigt. Erst ab Januar 1946 war es den noch gezwungenermaßen lokal beschränkten Gewerkschaften gestattet, Beiträge zu sammeln und öffentlich Mitglieder zu werben.
Entnazifizierung
Ein weiteres Hindernis bei der Wiederherstellung des Kapitalismus in Deutschland war für die Besatzungsmächte die deutsche Bourgeoisie selbst. An eine Restauration des alten Systems war ohne diese ehrenwerten Herren nicht zu denken. Doch waren sie zum überwältigenden Teil Nazis gewesen. Es war also gefährlich, ihnen offen die Herrschaft direkt zu übergeben.
Eine Entnazifizierung, die diesen Namen verdient, war aber deshalb von Anfang an ausgeschlossen. Die Ursache für viele betriebliche Kämpfe 1945 war dann auch gerade die nicht durchgeführte Entnazifizierung. Die Forderung danach war sehr häufig direkt verbunden mit der nach einer Enteigung der Betriebe. Sehr oft saßen ja gerade die „Fabrikherren“ als Kriegsverbrecher auf der Anklagebank.
Bloße Verhandlungen, wie etwa zwischen der örtlichen Gewerkschaft und dem Essener Oberbürgermeister mit der britischen Militärbehörde über die entschädigungslose Enteignung des Krupp-Konzerns, mußten scheitern. Den Versuchen, eine Säuberung der Betriebe von Nazis durch isolierte Streikmaßnahmen durchzusetzen, wurde mit Verhaftungen der Betriebsräte und mit Panzern begegnet.
Um die alten kapitalistischen Besitzverhältnisse abzusichern, wurde seit Mai 45, solange sich die Fabrikbesitzer der Schein-Entnazifizierung unterziehen mußten, eine Treuhänderschaft eingeführt. Ehemalige leitende Angestellte führten im Auftrag der Militärregierung die Betriebe. Jede innerbetriebliche Auseinandersetzung wurde damit fast automatisch zu einem Konflikt mit den Militärs.
Entflechtung
Eine weitere Maßnahme zur Stabilisierung des kapitalistischen Systems in Westdeutschland war die sogenannte Entflechtung und Dezentralisierung besonders der Chemie-und der Stahlindustrie. Damit sollte – ohne das kapitalistische System entscheidend zu schwächen – ein Wiederaufstieg der deutschen Konkurrenz auf dem Weltmarkt behindert werden. Gleichzeitig schürte die Entflechtung, also die angebliche „Beseitigung“ der Kartelle und Monopole die Illusion, gerade in der sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaftsführung, die Westalliierten könnten einer sozialistischen Entwicklung Deutschlands zustimmen.
Dieser Wunschglaube hätte bereits im Dezember 46 durch die Realitäten endgültig zerstört sein müssen. Obwohl sich 72% der hessischen Bevölkerung bei einer Volksbefragung für die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien ausgesprochen hatten, wurde dieser Paragraph durch die Militärs aus dem Landesverfassungsentwurf gestrichen. Die Lehren aus dem hessischen Experiment wurden gezogen – alle weiteren geplanten Volksabstimmungen über Sozialisierung wurden von den Militärbehörden verboten.
Dennoch wurden in den Jahren I946 und Anfang 1947 noch einige Zugeständnisse erreicht – allerdings erst nach heftigen Kämpfen der Arbeiter. Besonders im Ruhrgebiet kam es zu Streiks vor allem der Bergarbeiter, nachdem im Herbst 1946 die Lebensmittelversorgung fast völlig zusammengebrochen war und die britische Militärregierung weitere Sonderschichten von den Kumpels verlangte.
Im November 1946 sprachen sich 89,9% der betroffenen Bergleute gegen Sonderschichten aus und machten ihre eventuelle Zustimmung von der Sozialisierung der Kohlengruben und der „Volkskontrolle über die Nahrunmittelversorgung“ abhängig. In Düsseldorf und im Raum Essen kam es zu Streiks und Demonstrationen, im Februar 1947 streikten die Bergarbeiter in fast allen Industriestädten des Ruhrgebiets. In Wuppertal schlossen sich die Bauarbeiter in einem Solidaritätsstreik an. Im März reichten 95 Delegationen, gewählt von über 100.000 Bergarbeitern und Angestellten, in nordrhein-westfalischen Landtag einen Antrag ein mit der Forderung nach „entschädigungsloser Enteignung der kriegsverbrecherischen Kohlebarone an Rhein und Ruhr.“ Dieser Antrag wurde abgelehnt – mit den Stimmen der SPD-Fraktion
„Aufruhr“
Die Antwort: eine enorme Streikwelle der Arbeiter im Ruhrgebiet. Höhepunkt dieser Streikwelle war ein zweitägiger Streik von 334.000 Arbeitern und Angestellten. Am ersten April gab es in Braunschweig sogar einen Generalstreik.
Unter diesen Umständen sah sich die britische Militärregierung gezwungen, die paritätische Mitbestimmung im Montanbereich zuzulassen – natürlich aus politischem Kalkül, wie aus einem Bericht des britischen Kontrolloffiziers Harris Burland vom 11.7.47 hervorgeht. Er begründet hier die Notwendigkeit, „den Arbeitern und Gewerkschaften Anteil an der Verantwortung des Managements zu geben“ damit, daß diese Maßnahmen „auf lange Sicht bedeuten, Arbeiterunruhe in der Industrie zu verhindern“.
Das war das Zuckerbrot. Aber auch die Peitsche fehlte nicht. So gab Oberst Newman, der amerikanische Kommandant, über Rundfunk bekannt: „Streiks oder andere Umtriebe gegen die Politik der Militärregierung, die in irgendeiner Weise die Forderungen oder Pläne der Besatzungsmacht gefährden könnten, werden in Hessen nicht geduldet werden; dabei spielt es keine Rolle, ob ihr Zweck ein politischer oder ein anderer sein möge. Jede Person oder Gruppe von Personen, die so handelt, wird bestraft werden, und vergessen Sie nicht, daß nach den Gesetzen der Besatzungsarmeen und der Militärregierung die Schuldigen sogar mit der Todesstrafe belegt werden können.“
Marshallplan
Trotz der Erfolge der Arbeiter schritt die Wiederherstellung und Festigung der Macht der Kapitalisier) weiter fort. So wurde im Juni 1947 das „Europäische Hilfsprogramm“, besser bekannt als Marshallplan, verkündet. Hierbei handelte es sich um ein wirtschaftliches Wiederaufbauprogramm, das mit amerikanischen Hilfeleistungen durchgeführt werden sollte. Diese wurden allerdings nicht bedingungslos gegeben, wie aus der Direktive vom Juli ’47 an General Clay, Chef der amerikanischen Zone, klar hervorging: „Während es zwar Ihre Pflicht ist, dem deutschen Volke die Möglichkeit zu geben, die Grundsätze und Vorteile einer freien Wirtschaft kennenzulernen, werden Sie in der Frage des öffentlichen Besitzes von Unternehmungen in Deutschland nur einschreiten, wenn es sich darum handelt, sicherzustellen, daß jegliche Entscheidung für oder gegen das öffentliche Besitzverhältnis frei und durch normales Vorgehen innerhalb einer demokratischen Regierungsform getroffen wird… Bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Form und die Rechte der deutschen Zentralregierung dürfen Sie keine Maßnahmen in Bezug auf ein öffentliches Besitzrecht billigen…“.
Die Gewerkschaftsführung befürchtete zwar, daß die amerikanische Militärregierung die Kreditvergabe von der Preisgabe bzw. dem Aufschub einer Sozialisierung der Industrie abhängig machen würde. Dennoch entschloß sie sich, dem Marshall-Plan zuzustimmen.
Wirtschaftsrat
Zur selben Zeit, auch im Juni 47, wurde bizonal der Wirtschaftsrat gegründet. Er bestand aus 52 Abgeordneten und hatte das Recht, Anordnungen für die verschiedenen Wirtschaftgebiete zu beschließen: allgemeine Wirtschaftspolitik, Finanzen, Ernährung, Landwirtschaft, Verkehr, Nachrichtenwesen. Allerdings mußten diese Anordnungen noch durch die Militärregierung gebilligt werden.
Die Zusammensetzung dieses Rates zeigte deutlich eine Stärkung der pro-kapitalistischen Elemente. Die bürgerlichen Parteien waren mit 29, SPD mit 20 und KPD mit 3 Abgeordneten vertreten.
Gleichzeitig wurde ein Exekutivrat gewählt, der aus je einem Vertreter jedes Landes bestand und von der Landesregierung ernannt wurde. Er sollte die Beschlüsse des Wirtschaftsrates ausführen und schlug die Direktoren für die einzelnen (Verwaltungs-) Ausschüsse vor, die die Funktion von Ministerien erfüllten. In diesem Gremium hatte die SPD die eindeutige Mehrheit. Allerdings überließ die SPD nach heftigen Auseinandersetzungen mit der CDU, zwischen Exekutivrat und Wirtschaftsrat, alle Direktorenposten der CDU.
Warum handelte die SPD-Führung so und gab damit dem bürgerlichen Lager freie Hand? Vielleicht findet sich eine Erklärung dafür beim 2. Parteitag der SPD nach Hitler, am 29. Juni 1947 in Nürnberg. In seinem Einleitungsreferat drückte Schumacher, damaliger Parteivorsitzender, seine Verachtung für die „Cliquen eines längst überholten Wirtschaftssystems“ aus – andererseits begrüßte er den Marshallplan und die Einrichtung des Wirtschaftsrates. Immer noch herrschte die Perspektive vor, der „Restkapitalismus“ (Schumacher) sei nicht überlebensfähig. Über Reformen, Verhandlungen und auf parlamentarischem Wege sollte ein „gerechteres“ System nach dem Muster einer parlamentarischen Demokratie erreicht werden, wobei weite Bereiche der Industrie verstaatlicht sein sollten.
Auf die Kraft einer mobilisierten Arbeiterklasse sollte jedoch nicht zurückgegriffen werden, um ja die jeweilige Militärregierung nicht zu verärgern. Vor allem von der britischen Militärregierung wurde eher Unterstützung erwartet – regierte in Großbritannien doch die Labour Party (brit. Arbeiterpartei).
Aber sowenig die Führung der Labour Party in Großbritannien die Macht der Kapitalisten brach, genausowenig verhinderte sie deren erneute Stärkung in der britisch besetzten Zone. Im Laufe des Jahres 47 war die britische Regierung immer weniger in der Lage, die Kosten der Besatzung zu tragen. Diese wurden dann von den amerikanischen Besatzern übernommen, was natürlich einen wachsenden Einfiuß der USA in der britischen Zone zur Folge hatte.
Streikwelle
Auch Anfang 1948 hatte sich an der schlechten Versorgungslage der Bevölkerung noch nichts geändert. Anfang Januar beschließen die Gewerkschaften in Bayern, für den 23. Januar einen 24-stündigen Generalstreik auszurufen. Sie fordern die „restlose Erfassung der gesamten Erzeugung von Nahrungsmitteln unter Zugrundelegung eines den Bedürfnissen des Gesamtvolkes gerecht werdenden Erfassungssystems“ und strengere Bestrafung von Schiebern. Der Aufruf ist erfolgreich.
Auch in anderen Landesteilen gärt es, vor allem in Nordrhein-Westfalen. So schreibt die Gewerkschaftszeitung Der Bund am 14.2.48: „Die Erregung der arbeitenden Bevölkerung über das völlige Versagen der Ernährungswirtschaft hat das Nordrhein- und Ruhrgebiet zu einem brodelnden Kessel gemacht. Die berechtigte Empörung der Massen machte sich in gewaltigen Streiks und Demonstrationen in allen größeren Industriegebieten Luft. Teils flammten diese Aktionen spontan auf, zum Teil aber vollzogen sie sich aufgrund von Funktionärsbeschlüssen und unter der festen Führung der örtlichen Gewerkschaften. Alle Streiks waren im voraus befristet und in der Regel auf die Dauer von 24 Stunden festgelegt.“
Der Druck auf die Gewerkschaftsführung, einen allgemeinen Generalstreik auszurufen, war so stark, daß Hans Böckler, Werner Hansen und Christian Feiten auf einer Sitzung am 30.Januar alle Mühe hatten, ihn zu verhindern. Böckler sagte, nur „angesichts einer durchaus zum Bösen hinführenden Entwicklung“ wolle er die „auf Mitbestimmung in der Wirtschaft eingestellten Organisationen auf Wirtschaftskampf“ umstellen. Und das, obwohl General Clay ihm schon 1947 gesagt hatte, er sei Repräsentant einer Regierung des privaten Unternehmertums, man könne von ihm nicht verlangen, die Sozialisierung zu fördern. Die Entwicklung zum Bösen war also schon längst eingetreten. Nur widerstrebend beugt sich eine Mehrheit der auf der Sitzung Anwesenden ihrer Führung.
Im Juni wurde erneut deutlich, in welche Richtung das Zusammenspiel von Unternehmerverbänden, Wirtschaftsverwaltung und Besatzungsmacht geht: Ein Abkömmling der konservativen Stahldynastie Reusch wurde vom Wirtschaftsrat in die Stahlkommission berufen. Sofort erhob sich der Widerstand von Seiten der Arbeiter: In verschiedenen Orten sprachen sich in einer Urabstimmung 90% der Metaller für Streik aus, falls Reuschs Ernennung nicht zurückgenommen wird. Dieser wurde dann auch prompt zurückgezogen.
Währungsreform
Die Währungsreform im August 48 trieb erneut die Arbeiter massenhaft auf die Straße. Denn: Das Geld wurde zwar abgewertet, aber der Besitz von Grund und Boden, Produktionsmitteln oder gehorteten Waren wurde nicht miteinbezogen. Die Folge: Die Preise schossen in die Höhe, denn sowohl das Bewirtschaftungsesetz als auch der bis dahin gültige Preisstop wurden gelockert. Aber die Löhne stiegen nur um 15%, der Lohnstop blieb weiterhin in Kraft (er galt von 1946 bis Dezember 1948!).
Zwar waren die Schaufenster plötzlich wieder voll der lange entbehrten Waren, aber die Lage der Arbeiter hatte sich nicht verbessert. Sie antworteten mit großen Demonstrationen: In Frankfurt waren 50.000, in München 100.000, in Düsseldorf Zehntausende auf der Straße. Überall in NRW wurden Käuferstreiks gegen die Wucherpreise organisiert.
Als dann im Oktober Ludwig Ehrhard, damaliger Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, in einer Rede die Gewerkschaftsführung angriff, war diese endlich bereit, Maßnahmen für einen Generalstreik einzuleiten. Auf einerTagung des DGB-Beirats am 26. Oktober in Münster wurde zunächst ein 48-Stunden-Generalstreik in allen drei Westzonen gefordert. Damit aber waren die Gewerkschaftsführer der amerikanischen Zone nicht einverstanden. Sie forderten, die Dauer des Streiks auf 24 Stunden zu beschränken. Die Vertreter der französischen Zone schlossen sich der Streikforderung überhaupt nicht an.
Währenddessen kam es schon in mehreren Städten zu spontanen Demonstrationen gegen die Politik Ehrhards. In Stuttgart gingen dabei Schaufenster einiger Luxusläden zu Bruch; gegen Automobile, damals Symbole privaten Reichtums, wurden Steine geschleudert.
Generalstreik
Die amerikanische Besatzungsmacht hatte Angst, vollends die Kontrolle zu verlieren und verhängte ein Ausgehverbot über die ganze Stadt. Die bürgerliche Presse fing ein großes Lamento an über die „Dikatur von links“. Die Gewerkschaftsführung nahm diese „Vorfälle“ zum Anlaß, für den am 12.11. geplanten Generalstreik der Bizone alle „Kundgebungen, Versammlungen oder sonstigen Zusammenkünfte“ zu untersagen.
Auch wurde der Generalstreik nicht so genannt, sondern es war die Rede von „Arbeitsruhe“ oder „Demonstrationen des gewerkschaftlichen Willens“ – allerdings ohne Demonstrationen.
Trotz alledem war die Resonanz auf den Aufruf überwältigend. In der Nacht vom 11. auf den 12. November schlugen Arbeiter-Klebe-Kolonnen überall Flugblätter an mit unter anderem folgenden Forderungen:
— Planung und Lenkung im gewerblich-industriellen Sektor, insbesondere für Rohstoffe, Energie und Kredite sowie für den Außenhandel und den Großverkehr
— Überführung der Grundstoffindustrie und Kreditinstitute in Gemeinwirtschaft
— Demokratisierung der Wirtschaft und gleichberechtigte Mitwirkung von Gewerkschaften in allen Organen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung.
Am Freitag, dem 12. November, standen alle Räder still. Hätte es eine machtvollere Demonstration des Willens der Bevölkerung für ein System der demokratischen Planwirtschaft geben können? Aber die Gewerkschaftsführung und die SPD-Führung griffen die enorme Kampfbereitschaft der Arbeiter, Frauen und Jugendlichen nicht auf und verspielten die Chance, den Kapitalismus in den Westzonen zu besiegen und so die Grundlage zu legen für ein vereinigtes, sozialistisches Deutschland.
Lesehinweise:
Beier, Gerhard: Der Demonstrations- und Generalstreik vom 12. November 1948, Ffm 1975
U. Schmidt/T. Fichter Der erzwungene Kapitalismus, Berlin 1972
Schmidt, Eberhard: Die verhinderte Neuordnung 1945-1952, Ffm 1970
Pirker. Theo: Die SPD nach Hitler, Bad Godesberg 1965