Die 53. Berliner Filmfestspiele
von Aron Amm
Berlin, den 24. Februar 2003
Die 53. Internationalen Filmfestspiele Berlin waren ein Grenzgang. Zu den zentralen Motiven gehörten Krieg, Flucht und Existenzangst. In mehreren Wettbewerbsbeiträgen wie bei „In This World“, „Lichter“ und „Ersatzteile“ wurden die Schicksale von MigrantInnen beobachtet.
Allerdings kam es zu Grenzüberschreitungen nicht nur auf der Leinwand, sondern auch in der Wahl der Themen und in der Form des Erzählens. Dominierten im Kino der neunziger Jahre Klischees, Kommerz und Konventionen, herrschte im vergangenen Jahrzehnt, einem Jahrzehnt gesellschaftlicher und kultureller Reaktion, auch im Filmgeschehen der Rückzug ins Private vor, so wird heute vorsichtig und vereinzelt noch, aber schon politischer und experimentierfreudiger, Neuland abgetastet. Dem Filmemacher Michael Winterbottom, der für „In This World“ den Goldenen Bären erhielt, war es möglich, mit Hilfe einer Digitalkamera und einer nur zehnköpfigen Crew zwei Laiendarsteller in pakistanische Flüchtlingslager, zu iranischen Grenzstationen und in Containerschiffe zu begleiten.
Die Berlinale war auch Zeuge von Grenzüberschreitungen ganz anderer Art. Nicht nur soziale Krise und beginnende gesellschaftliche Veränderungen wurden wahrgenommen, sondern auch Fragen über Funktion und Verständnis des Künstlers am Anfang des 21. Jahrhunderts aufgeworfen. Prägten im vergangenen Jahrzehnt Eitelkeiten und Narzissmus die Szene, so wird diese Nabelschau und Sebstbeweihräucherung ganz allmählich von einer kritischeren Selbstreflexion abgelöst.
Wenn Kunst und Filmkunst von bleibendem Wert sein soll, dann muss es mit realen Geschehnissen oder aber realen gesellschaftlichen oder zwischenmenschlichen Konflikten in all ihren Widersprüchen und Wechselbeziehungen berühren und bewegen, auf eine Art und Weise, dass es in einem gärt und brodelt und arbeitet. Nur wenige Beiträge auf dieser Berlinale kamen an diesen Anspruch heran. Der Erwähnung wert waren die Wettbewerbsfilme „Lichter“, „Blinder Schacht“ und der von Pedro Almodovar mitproduzierte „My Life Without Me“, mit der wunderbaren Sarah Polley, einer der beeindruckendsten Nachwuchsschauspielerinnen. Heraus ragte auch Spike Lees „25th Hour“, der jedoch inhaltlich nicht überzeugte, vielmehr sehr gemischte Gefühle hinterließ, irritierte und verstörte, in jedem Fall aber Atmosphäre hatte.
Dazu kommen einige Streifen, die nicht im Wettbewerb, sondern nur im Panorama oder im Forum zu sehen waren, denen auch ein deutscher Verleih und ein größeres Publikum zu wünschen sind: Filme wie „Edi“, „The Event“ oder der von Wim Wenders geförderte „Three Days Of Rain“, der in einer Sondervorführung gezeigt wurde.
Enttäuschend hingegen waren die mit Spannung erwarteten neuen Werke von Martin Scorsese („Gangs Of New York“), Zhang Yimou („Hero“), Spike Jonze („Adaptation“) und Thomas Vinterberg, der „Das Fest“ drehte, und auf der Berlinale mit „It`s All About Love“ vertreten war.
Ablehnung des drohenden Irak-Krieges
Die Preisverleihung der diesjährigen Berlinale fiel auf den 15. Februar. Die Stunde der Preisvergabe fiel auf den frühen Samstagnachmittag – und dadurch mit der größten politischen Demonstration in der Geschichte der BRD zusammen. Während der Menschenstrom von Hunderttausenden, die zum Großen Stern zogen, nicht abreißen wollte, übergab die Festival-Jury unter dem Vorsitz des Regisseurs Atom Egoyan den Preis für den besten Film am Potsdamer Platz, nur einen Katzensprung entfernt von der Siegessäule, an das authentische Flüchtlingsdrama „In This World“. Diese Entscheidung war fraglos eine politische, eine gegen die Achse der Kriegstreiber gerichtete Manifestation des Filmfestes. Ein Wochenende zuvor war in einer Sonderveranstaltung unter dem Titel „Die humanitäre Katastrophe eines neuen Golfkriegs“ bereits der Film „Die Kinder von Bagdad“ von Uwe Sauermann gezeigt worden.
Mag die Antikriegshaltung bei vielen Filmleuten bloß eine Modeerscheinung sein und politisch nicht sehr weit gehen, bringt die Rede des Filmschauspielers Dustin Hoffman bei der Gala „Cinema for Peace“ am Gendarmenmarkt gegen den drohenden Irak-Krieg dennoch ein tiefer gehendes Misstrauen gegen Bush und das Establishment zum Ausdruck: „Ich glaube, dass es seit dem 11. September leider zu einer Manipulation durch die Medien, die in meinem Land den großen Unternehmen gehören, und durch die Regierung gekommen ist, die das Leid jenes Tages für ihre politischen Ziele instrumentalisieren. Der Vietnam-Krieg begann mit einer Lüge: Auslöser war der angebliche Angriff der Nordvietnamesen auf ein Kriegsschiff von uns, das in der Bucht von Tonkin stationiert war. Doch den gab es nie, es war eine Lüge, eine Propagandafabrikation, um mit dem furchtbaren Krieg anzufangen. Möglicherweise wiederholt sich die Geschichte nun.
Ich frage meine Regierung, die Saddam den großen Bösen nennt, der er wohl ist: Warum dann haben wir diesem Mann, als wir ihn in der Auseinandersetzung mit dem Iran gut gebrauchen konnten, warum haben wir ihm in dem selben Jahr, in dem er befahl 100.000 Kurden zu töten, fünf Millionen Dollar gegeben? Und warum haben wir das im folgenden Jahr auf eine Milliarde erhöht?“
Dustin Hoffman lässt keinen Zweifel daran, dass er in die Herrschenden wenig Vertrauen hat. Vielmehr baut er auf eine Massenbewegung von unten, die in seinen Augen sogar in den entlegendsten Gebieten der Vereinigten Staaten im Entstehen ist: „Was können wir tun? In meiner Heimat haben wir in den sechziger Jahren einen Präsidenten zum Rücktritt gezwungen.“
„Willkommen in der Wirklichkeit“!?
Von der politischen und künstlerischen Rebellion und Aufbruchstimmung der sechziger und siebziger Jahre sind die meisten Filmschaffenden heute noch weit entfernt. Damals waren Studierendenrevolten und Massenstreiks, Befreiungsbewegungen in der Kolonialen Welt und Aufstände im Stalinismus begleitet von neuen Ideen und neuen Erzähltechniken in der Filmkunst. Angefangen mit der Nouvelle Vague in Frankreich und dem konsequenten Einsatz der Handkamera über das Autorenkino (ob Pier Paolo Pasolini, John Cassavetes oder Rainer Werner Fassbinder), über die Dokumentation von Klassenkämpfen (zum Beispiel Chris Markers „Rot ist die blaue Luft“, 1977) und den sozialkritischen Arbeiten von Ken Loach, Susumu Hani und Nagisa Oshima bis zum politischen Film mit dem Engagement gegen den Abbau demokratischer Rechte („Der Dialog“, 1973, „All The Presidents Men“, 1976), der Bewegung gegen den Vietnamkrieg („M.A.S.H.“, 1970, „Apocalypse Now“, 1976-79), dem Kampf gegen Atomkraft („Das China Syndrom“, 1978) und der Darstellung von Rebellionen und Revolutionen („Z“, 1968, „Der Mann aus Marmor“, 1976, und „Der Mann aus Eisen“, 1980).
Das Gros der Filmleute lebt im Jahr 2003 nicht „in this world“, sondern noch in ihrer eigenen Welt. Die kleinbürgerliche Herkunft der meisten Künstler lässt die zunehmenden Klassenkonflikte und Spannungen in der Gesellschaft mehr erahnen als erfassen, mehr spüren als begreifen. Ein erster Hoffnungsschimmer ist immerhin die Infragestellung der bestehenden Verhältnisse, das Verständnis dafür, dass wir keineswegs in der besten aller Welten leben.
In Hans Christian Schmids „Lichter“ fällt an einer Stelle der Satz: „Willkommen in der Wirklichkeit!“ Das Leitmotiv dieses Filmfestivals? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung überschrieb ihre Bilanz der Berlinale mit den Worten „Nichts als das Leben“. Im Tagesspiegel kommentierte Jan Schulz-Ojala: „Diese 53. Berlinale wird, großes Wort, in die Geschichte nicht nur dieses Festivals, sondern der Kulturwahrnehmung überhaupt eingehen – gerade weil sie ebenso bescheiden wie aufmerksam war für die wichtigeren Dinge dieser Welt. Die Macher stellten ein Programm zusammen, das die Wirklichkeit ausdrücklich einlud.“
„In This World“: Über-Leben
Michael Winterbottoms preisgekröntes „In This World“, eine britische Filmproduktion, erinnert am Beginn des Films im Off-Kommentar an die 7,9 Milliarden US-Dollar, die im Afghanistan-Krieg verpulvert wurden. Nur ein Zehntel davon steht an Aufbauhilfe zur Verfügung – fast ausschließlich für Kabul bestimmt, das wie ein potemkinsches Dorf ausgeschmückt wird als Schaufenster für den Westen, während der Rest des Landes erneut im Bürgerkrieg zwischen den Warlords versinkt. Der Zuschauer begleitet zwei Cousins vom Flüchtlingslager im pakistanischen Peshawar über Teheran, Triest und Calais bis nach London. Mit der Parkinson-Kamera von Staubpiste über Asphaltstraße und Großstadtmoloch bis ins Containerloch unter dem Ozean. Der iranische Grenzposten wird erst im zweiten Anauf überwunden, mit einem Walkman als Bestechungsmittel. Mit minimalistischen Mitteln wird ein minimalistisches Leben gezeigt. Bei einem kleinen Zwischenstopp, der die beiden während der Strapazen kurz verschnaufen lässt, erzählt der jüngere Cousin dem älteren, wie die Musik wohl in die Welt gekommen sein mag: In seinen Augen muss sie entstanden sein aus dem Geschirrklirren streitender Eltern. Nicht beide werden London erreichen. Einer von ihnen wird bei der Ankunft nicht mehr „in dieser Welt“ sein, wie der Überlebende dem Onkel im fernen Pakistan am Ende der Reise telefonisch übermittelt. Die Sequenz des Sterbens – „ein visuelles Echo auf den Horror jener Meldung aus dem Juni 2000, dass 58 chinesische Einwanderer in einem Container erstickt seien. Da sitzen die zwei Protagonisten und vierzig andere Flüchtlinge in völliger Finsternis, aus der eine verdämmernde Taschenlampe Silhouetten aus Panik und Agonie schneidet, und man hört mehr, als das man es sehen würde, wie die Luft langsam knapp wird, wie im Bauch eines Schiffes verzweifelt an die Containerwände getrommelt wird, wie einer nach dem anderen erstickt – eine Szene, die sich so oder ähnlich auch in Hans Christian Schmids Film „Lichter“ und Damjan Kozoles „Ersatzteile“ wiederfand, aber nirgendwo so eindrücklich wie bei Winterbottom, der die Klaustrophobie in den dunklen Kinosaal hineinverlängert und auch die Zuschauer in diesen Alptraum einer Welt ohne Mitleid taucht“ (Michael Althen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. Februar 2003).
„In This World“ schwankt zwischen Dokumentation und Fiktion, kann sich letztendlich jedoch nicht entscheiden. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass den Figuren so wenig Leben eingehaucht wird. Schon in Michael Winterbottoms vorherigen Berlinale-Beitrag „The Claim“ bleiben die Geschichten bei aller akribisch nachgestellter Geschichte (Einwandererschicksale aus Osteuropa im Nordamerika des 19. Jahrhunderts) erschreckend blass. Im Vergleich zu Filmen wie „Kandahar“ von Mohsen Makhmalbaf oder „Zeit der trunkenen Pferde“, dem grandiosen Debüt von Bahman Ghobadi, bleibt „In This World“ gegenüber den handelnden Personen und dem Geschehen auf Distanz, lässt einen nicht wirklich mitfühlen, mitleiden.
„Lichter“, „Blinder Schacht“: Lichtblicke
Immer wieder war auf den Pressekonferenzen und in den Publikumsgesprächen zu hören, dass der gerade besprochene Film zeitlos wäre. Der Regisseur Gilles MacKinnon von dem Panorama-Streifen „Pure“ verstieg sich sogar darauf, dass sein Film, in dem eine heroinabhängige alleinerziehende Mutter in einem Ost-Londoner Arbeiterstadtteil gegen die Sucht, gegen die Dealer und für das Sorgerecht ihrer Kinder streitet, zu jeder Zeit und in jedem Teil der Welt spielen könnte und sich auf den zeitlosen Konflikt von Mutter und Sohn reduzieren ließe. Mit „Lichter“, einem der drei deutschen Beiträge im Wettbewerb, hat Hans Christian Schmid demgegenüber einen Film im Berlinale-Wettbewerb präsentiert, der eine Geschichte erzählt, die so vor zehn, fünfzehn Jahren nicht möglich gewesen wäre. Endlich einmal Kino von Filmleuten, die die – realen – dramatischen Entwicklungen und Ereignisse um sie herum wahrnehmen, einfach draufhalten und dabei fast nebenbei noch eine spannende Geschichte, nein, gleich ein halbes Dutzend spannender Geschichten erzählen: An der deutsch-polnischen Grenze, über einen Ort, in dem die Menschen getrennt werden von einem Fluss, von der Oder, die nicht nur das deutsche Frankfurt vom polnischen Slubice trennt, sondern ganze Welten – und auch wieder nicht, wie der Film zeigt.
Da sind Kolja, Anna und Dimitri, drei Flüchtlinge aus der Ukraine, die mit allen Mitteln und völlig mittellos nach Westen, nach Berlin wollen. Da ist Antoni, ein polnischer Taxifahrer, der dringend ein Kommunionskleid für seine Tochter braucht. Da ist der Zigarettenschmuggler Andreas. Da ist Ingo, der Pächter eines Matratzen-Discounts, der ohne jede Perspektive verzweifelt versucht, seine Selbstständigkeit zu erhalten. Da ist eine polnische Dolmnetscherin, die sich zur Prostitution gezwungen sieht, und da sind ein korrupter und chauvinistischer Bürgermeister und ein ebenso korrupter und chauvinistischer Unternehmer. Das Ganze spielt, abgesehen von einem kurzen Abstecher zum Potsdamer Platz, nur im Grenzgebiet, nur innerhalb von 48 Stunden.
Auf der Pressekonferenz zu „Lichter“ bei den Filmfestspielen wird Schmid, der auch „23“ (1998) und „Crazy“ (2000) machte, in der ersten Wortmeldung mit der Frage konfrontiert, ob sein Film nicht zu realistisch sei. Ein Kompliment. Schmid kontert den Vorwurf des Pessimismus, in dem er die einfache Wahrheit ausspricht, dass die geschilderten Schicksale nicht gerade allzuviel Heiterkeit und Unbeschwertheit zulassen. Befragt nach seinem Menschenbild entgegnet Schmid, dass in seinen Augen jeder Mensch verschiedene Eigenschaften, positive und negative, besitzt.
„Lichter“ beleuchtet Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland und Zukunftssorgen in Osteuropa ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch des Stalinismus. Die Geschichte ist ganz auf Slubice und Frankfurt an der Oder zugeschnitten und gerade deshalb in gewisser Weise allgemeingültig – übertragbar zum Beispiel auf den US-amerikanischen und mexikanischen Grenzstreifen. Deutsche, polnische und russische SchauspielerInnen, ein polnischer Kameramann, Bogumil Godfrejow, und die Setsprache Englisch tun ein übriges dazu.
„Lichter“ ist gut und solide, aber auch nur so gut und solide, wie ein besseres ZDF-Fernsehspiel, welches Schmids Film im übrigen mitfinanziert hat. Auch in „Lichter“ heulen irgendwann die anscheinend obligatorischen Violinen auf, wie sie in den Vorabend-Programmen jaulen, werden die Charaktere der Protagonisten nicht genügend entwickelt, so dass einige von ihnen am Schluss doch stereotyp bleiben – allerdings nicht alle. Ganz oben an Devid Striesow als Matratzen-Discount-Pächter, der jegliche Kunstwelt vergessen lässt.
Für den chinesischen Film „Blinder Schacht“ trotzte der Regisseur Li Yang der Zensur, nahm die DV-Kamera in Bergwerke in der Mongolei mit und hält nach Fertigstellung der Produktion die genauen Drehorte bei der Vorstellung seines Films im Ausland geheim, um die dort arbeitenden Menschen zu schützen. Li Yang erzählt eine wahre Geschichte – von Song und Tang, zwei armen Minenarbeitern, die einen Kumpel umbringen, ein Grubenunglück fingieren, den Toten als Verwandten ausgeben und die Abfindung einstecken. „Wie kann ich Mitleid haben, wenn keiner mit mir Mitleid hat?“, fragt Song – und wird doch schwach beim nächsten Opfer, einem naiven Bauernjungen, der letztendlich überlebt und selber die Abfindung kassieren darf, weil Song und Tang sich schließlich gegenseitig „eine Grube bauen“.
Dieser Film, der nebenbei sicherlich die schönste Karaoke-Szene seit Jahren enthält (in der über stalinistischen Pseudo-Sozialismus und kapitalistisches Unrecht gespottet wird), erinnert an die 8.000 Bergleute, die heute jährlich in den privatisierten Zechen Chinas ums Leben kommen. Die Dunkelziffer liegt noch viel höher. Ein kraftvolles Stück Kino, das sich um seine Form nicht schert, nur Inhalt hat, und gerade deshalb durch seinen ehrlichen, unverkünstelten Realismus beeindruckt, und vielleicht deshalb wiederum auch künstlerisch stark ist. Allerdings beschränkt sich „Blinder Schacht“ auf die Darstellung verzweifelter Individuen, ohne nach Möglichkeiten kollektiver Initiativen, nach Auswegen, nach Alternativen zu fragen.
„The Life Of David Gale“, „25th Hour“: US-Kino im Wettbewerb
Auch Hollywood versucht sich im politischen Kino. Allerdings nicht ernsthaft. Nach seinem „Mississippi Burning“-Reißer (1988) und seinem „The Commitments“-Sozialkitsch (1900) spielt Alan Parker, dem man bei jedem seiner Streifen anmerkt, dass er als Werbefilmer angefangen hat, bei seinem neuen Streifen, „The Life Of David Gale“, mit dem Thema Todesstrafe. Anders als in Tim Robbins „Dead Man Walking“ (1996) mit Susan Sarandon und Sean Penn oder auch im letztjährigen, leider zu konstruierten Berlinale-Beitrag von Marc Forster, „Monsters Ball“ mit Halle Berry und Billy Bob Thornton, kann bei Alan Parkers Film mit Kevin Spacey und Kate Winslet von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Problematik keine Rede sein.
Eine Reporterin recherchiert den Fall eines Unidozenten und bekannten Aktivisten gegen die Todesstrafe, dem Vergewaltigung und Mord zur Last gelegt werden und der aus diesem Grund selber zum Tod verurteilt wird. Der Plot beschränkt sich wenig glaubhaft nur auf die Frage nach der Wahrscheinlichkeit von „Fehlurteilen“, das Schicksal der zwei Millionen Inhaftierten in den USA, die staatliche Repression, die Inhumanität der Todesstrafe und die sozialen Hintergründe und Ursachen für Gewalt und Kriminalität bleiben völlig ausgeblendet. Kevin Spaceys Auftritt bei der Pressekonferenz, in der er auf seine eigene Meinung zur Todesstrafe angesprochen, meinte, dass er das nicht zu beantworten wüßte, weil noch nie eine Schwester von ihm ermordet worden wäre, setzte dem Ganzen die Krone auf.
Nichts als ein spekulativer Umgang mit dem Thema, wo doch die Fakten bekannt sind: „Vor kurzem erschien eine schockierende Studie: 4.578 Todesurteile aus dem Zeitraum von 23 Jahren (1973 – 1995) wurden überprüft. Die Untersuchung ergab, dass bei Revisionsverfahren in 70 Prozent der Fälle, die in dieser Zeit wiederaufgerollt wurden, gravierende Verfahrensfehler festgestellt wurden. In zwei von drei Wiederaufnahmeverfahren wurde das Todesurteil sogar aufgehoben. Die aufgedeckte Gesamtfehlerrate betrug am Ende stolze 68 Prozent“ (Michael Moore, „Stupid White Men“, Piper Verlag).
„25th Hour“ ist der jüngste Film von Spike Lee, der sich mit „She‘s Gotta Have It“ (1986) und „Do The Right Thing“ (1989) einen Namen machte. Spike Lee bemüht sich seit seinen Anfängen um einen politischen Anspruch, überzeugte bislang aber kaum. Das gilt nicht zuletzt für seinen unsäglichen „Malcolm X“ (1992). Dass er aber ein guter Handwerker ist, der kraftvolle Bilder schaffen und Stimmungen erzeugen kann, beweist er einmal mehr mit seinem diesjährigen Wettbewerbsbeitrag „25th Hour“: Ein Film, der vibriert, der etwas von einem Blues hat, in dem Edward Norton einen Drogendealer mimt, der vor dem Antritt einer siebenjährigen Gefängnisstrafe seine letzten 24 Stunden in Freiheit verbringt.
Warum aber muss ein Dealer im Mittelpunkt stehen, der in einem komplexbeladenen Englischlehrer (wieder einmal beeindruckend: Philip Seymour Hoffman) und einem Broker seine besten Freunde hat? Warum die Frage danach, was der Mensch aus seinem Leben machen soll, an Hand von Repräsentanten des Mittelstandes, die allesamt erkennen, dass sie ihr eigenes Leben gründlich verpfuscht haben – was einen aber auch gründlich kalt lassen kann. Oder doch nicht? Immerhin ist es auch die Geschichte über den Sohn eines pensionierten Feuerwehrmanns im New York nach dem 11. September (übrigens mitsamt einer ungewöhnlichen Liebeserklärung an diese multikulturelle Stadt in Form einer rappenden Hasstirade vor dem Spiegel eines schäbigen Kneipenklos). Enron und andere Skandale des US-Establishments werden beim Namen genannt, trotzdem wird suggeriert, dass am Schluss doch alle soziale Schichten und Klassen zusammen gehören und erst gemeinsam das im Film gepriesene Amerika ausmachen, ob Chinese, Italiener oder Puertoricanerin, ob Jude, Afroamerikaner oder Pakistani, ob Drogendealer oder Börsenmakler, ob Feuerwehrmann oder Enron-Unternehmer.
„Hero“: Legitimation des chinesischen Unterdrückungsapparates?
Eine der größten Enttäuschungen auf der diesjährigen Berlinale war Zhang Yimous neuer Film „Hero“. Einen Namen gemacht hatte sich der chinesische Regisseur Zhang Yimou in den letzten fünfzehn Jahren mit Filmen wie „Rotes Kornfeld“ (1988), „Rote Laterne“ (1991) und „Die Geschichte der Qui Ju“ (1992). Filme über die Sorgen und Nöte verarmter Bauern im China des zwanzigsten Jahrhunderts. In der „Geschichte der Qui Ju“, Zhang Yimous ersten großen Film, der in der Gegenwart angesiedelt ist, kämpft die schwangere Qui Ju (Gong Li) nach einem Übergriff des Dorf-Bürgermeisters auf ihren Mann unermüdlich um Respekt, klagt eine Entschuldigung ein und legt sich mit einer Behörde nach der anderen an.
„Hero“ nun ist ein Ausflug in den Historienfilm. Abgesehen davon, dass „Hero“ trotz Martial-Arts-Action und durch die Luft gleitender, schwebender Duellanten merkwürdig schwerfällig bleibt – ganz im Gegensatz zu dem leichten „Tiger and Dragon“ (2000) von Ang Lee – ist der Film in seiner Essenz zutiefst reaktionär.
Visuell zweifellos überwältigend, wie hier Farben eingesetzt werden: Innerhalb von Minuten, wenn nicht Sekunden färben sich ganze Wälder rot, gelb und grün. Brilliant, wie mit Farbsymbolik gearbeitet wird: Gewänder in Rot (Mord aus Liebe) über Grün (Niederlage im Kampf) zu Weiß (Trauer und Entsagung). Duelle werden nicht durch Gewalteinsatz, sondern Willensstärke (und der Kunst der Kalligrafie) gewonnen. In seiner Erzählweise erinnert „Hero“ an Akira Kurosawas großartigen „Rashomon“ von 1950. In Akira Kurosawas kunstvoll komponierten Film werden dem Publikum als unsichtbares Gericht vier verschiedene Versionen über den Tod eines Samurai und die Vergewaltigung seiner Frau angeboten. „Hero“ zeichnet die Gründung Chinas im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung nach mit dem Bestreben des Königs Qin, die sieben Reiche im Land zu unterjochen, um zum Kaiser aufsteigen zu können. Wie es dem König gelingt, sich seiner Widersacher zu entledigen, wird bei Zhang Yimou ebenfalls in mehreren von einander abweichenden, beziehungsweise sich widersprechenden Varianten geschildert.
Mit Chen Kaige („Leb wohl, meine Konkubine“, 1993), der im letzten Jahr dumpf-dummes Hollywood-Kino machte, ist jüngst schon ein anderer der großen chinesischen Regisseure der so genannten fünften und sechsten Generation gescheitert. „Hero“ ist aber mehr als eine künstlerisch fragwürdige Leistung. Vor dem Hintergrund der Niederschlagung des Aufstands auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 kann der Streifen auch als Kommentar zu Krisen und Konflikten im China der Gegenwart verstanden werden. Den Geist „tiefer Unterwürfigkeit“ wirft die chinesische „Jugendzeitung“ dem Film vor. Zu Recht. Kein Hinweis auf die Gräueltaten des Tyrannen Qin. Kein Wort über das Schicksal der 460 Gelehrten beispielsweise, die lebendig begraben wurden. Stattdessen ist die Botschaft von „Hero“: Gewalt ruft Gegengewalt hervor. Darum begräbt der Widersacher Qins im Finale des Streifens seine Umsturz-Pläne. Zhang Yimous These ist Wasser auf die Mühlen von Chinas KP-Führung.
Immer schon war es die Intention der Herrschenden, Aufruhr, Rebellionen und Revolutionen als Akte nackter Gewalt darzustellen und die Aufständischen mit einem blutdurstigen Mob zu assoziieren. So sind wir es gewohnt, dass die Französische Revolution von 1789 zum Beispiel als Schreckensherrschhaft bezeichnet wird. In unserem Gedächnis soll die Zeit der Jakobiner primär als Zeit der Guillotine erscheinen. H.G. Wells, der alles andere als ein Revolutionär war, führte dazu aus: „Im Ganzen wurden, wir müssen daran erinnern, in der Schreckenszeit nur wenige Tausende getötet und unter diesen Tausenden war sicherlich eine große Anzahl tatkräftiger Gegner der Republik, die sie nach dem Urteil jener Zeit zu töten berechtigt war (…) Über die Märtyrer des französischen Terrors erfahren wir nur deshalb so viel, weil sie adelige, wohlbekannte Persönlichkeiten waren und weil ihr Leidensweg für Propagandazwecke ausgenützt wurde. Aber lasst uns der richtigen Einschätzung halber einmal bedenken, was um dieselbe Zeit in den Gefängnissen der Welt vorging. In Britannien und Amerika wurden, während der Terror in Frankreich herrschte, wegen Eigentumsdelikten (oft nur ganz geringfügigen Vergehen) viel mehr Leute hingeschlachtet als durch das Revolutionstribunal wegen Hochverrats.“
Hauptdarsteller Tony Leung verteidigte in einem Hongkonger Magazin sogar offen den Militäreinsatz vom Sommer 1989: „Die Regierung tat das Richtige – Stabilität zu erhalten – das war gut für alle.“ Während Zhang Yimou in seiner gesamten Karriere mit der Zensur zu kämpfen hatte – sein Film „Leben!“ ist bis heute verboten – wird er von der Bürokratie dieses Mal wie ein „Held“ gefeiert. Die Post hat eine „Hero“-Sonderbriefmarke herausgebracht. Peking hat den Film als offiziellen Oscar-Kandidaten in Hollywood eingereicht.
Zhang Yimou ist in einer Bauernfamilie groß geworden. Sein Vater war Offizier – für die Nationalchinesen gegen Maos Armee. Darum wurde die Familie nach 1949 geächtet. In der „Kulturrevolution“ schickte man Zhang Yimou aufs Land. Vorübergehend arbeitete er zwar in einer Textilfabrik, seine Herkunft und sein Lebenslauf haben ihm – wie vielen anderen Intellektuellen, die aus dem Kleinbürgertum stammen – jedoch den Zugang zur Arbeiterbewegung erschwert, so dass Yimou politisch weniger konsistent ist. Trotz der Radikalisierung der Jugend und der Zunahme von Arbeitskämpfen konnten ihn die Herrschenden offenbar für sich vereinnahmen. Angedeutet hatte sich dieser Kurswechsel Yimous bereits bei seinem letztjährigen Berlinale-Film „Happy Times“. Darin gaukelt ein Pensionär einer blinden Frau die Vermittlung einer Stelle in einem Massagesalon vor – was auf die Einstellung schließen lassen kann, sich in den bestehenden Verhältnissen bestmöglich einzurichten, statt nach Alternativen Ausschau zu halten.
Leider lässt der Werdegang Zhang Yimous Erinnerungen an die Biographie und das Schaffen Elia Kazans wach werden. Kazan war einer der vielseitigsten Regisseure in den USA Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Als Theaterregisseur, Lehrer am New Yorker „Actor‘s studio“ von Lee Strasberg und als Förderer Marlon Brandos und James Deans machte er sich einen Namen. Psychologische Dramen und sozialkritische Reportagen waren sein Metier. Doch brachte er nicht nur „Viva Zapata!“ (1951) auf die Leinwand, sondern sagte auch in der McCarthy-Ära gegen antikapitalistische und kommunistische KollegInnen aus, lieferte dabei nicht wenige ans Messer und rettete sich sukzessive in politisch harmlosere Themen.
„Three Days Of Rain“, „The Event“ und „Edi“: Drei kleine filmische Ereignisse
Sehenswert waren die Berlinale-Filme „Three Days Of Rain“, „Edi“ und „The Event“. In „Three Days Of Rain“ werden Kurzgeschichten des russischen Dichters Anton Tschechow in das US-amerikanische Cleveland der Jetztzeit übertragen – und durch die Musik eines Rundfunksenders, der fantastische Blue Note Records- Jazzaufnahmen spielt, zusammengehalten. Warum gelingt es diesem Film, den Zuschauer von den ersten Bildern an für sich einzunehmen? Wahrscheinlich, weil die Kamera reale Figuren mit realen Problemen in einer realen Welt drei Tage oder besser drei Nächte begleitet: Einen Taxifahrer, der gerade seinen Sohn verloren hat, einen Bahnarbeiter, der vor seiner Kündigung steht, da dessen Vorgesetzter seine Stelle einem Familienfreund zuschanzen möchte, eine drogensüchtige junge Mutter, die ihr Kind nur als Babysitterin in steinreichem Hause zu Gesicht bekommen kann…
„Three Days Of Rain“ ist ein Debüt, das Erstlingswerk von Michael Meredith, der sich mehrere Jahre abstrampeln musste, Freunde und Verwandte Rollen für seinen Film gab und immer erst dann wieder eine neue Episode abdrehen konnte, wenn es ihm gelang erneut Geld aufzutreiben. Dieser Low Budget-Streifen ist im „Short Cuts“-Stil gehalten und erinnert an den hübschen kanadischen „Life Before This“, der vor vier Jahren auf der Berlinale zu sehen war, und bis heute nicht den Weg in die deutschen Kinos gefunden hat.
Unter den Akteuren ist auch ein bekanntes Gesicht: Peter Falk als verarmter Rentner, der dem Alkohol verfallen ist. Peter Falk stellt die Verbindung zum Off-Hollywood, zum Independent-Kino her, war er doch selber mehrmals in den sechziger und siebziger Jahren Darsteller von Filmen eines John Cassavetes („Schatten“, 1959, „Eine Frau unter Einfluss“, 1973, „Gloria“, 1980). Cassavetes beabsichtigte in seinen Arbeiten immer, „eine Idee so gut wie möglich zu verwirklichen und eine einfache, realistische Geschichte so gut wie möglich zu erzählen.“ Das ist ganz offensichtlich auch die Philosophie des Debütanten Michael Meredith.
Thom Fitzgeralds „The Event“ beginnt mit dem Tod des Aids-kranken Matt Shapiro. Da jemand kurz zuvor von der Party aus, wo Matt verstarb, den Notruf gewählt hatte, wird eine Staatsanwältin auf den Fall angesetzt. Damit nimmt jedoch nicht eine gewöhnliche Kriminalgeschichte ihren Lauf, sondern ein packender Film über die Lage von Schwulen im heutigen Nordamerika, über Freitod und Sterbehilfe. Im Publikumsgespräch erklärte der Regisseur, dass es in seinem Land ein Justizminister John Ashcroft auf alle diejenigen abgesehen hat, die mit Sterbehilfe in Verbindung stehen, wenn er nicht gerade dabei ist, Osama zu jagen. Eine der Hauptfiguren mimt auch in diesem Film Sarah Polley, die zum ersten Mal in Atom Egoyans „Das süße Jenseits“ vor sechs Jahren faszinierte – im Mittelpunkt steht allerdings keine Person, sondern Greenwich Village und das New York im Herbst 2001.
„Edi“ zeichnet das Leben der beiden Schrotthändler Edi und Jureczek im Polen der Gegenwart. Ohne Freund, Freundin oder Familie hausen sie in einem leerstehenden Fabrikgebäude am Rande der Stadt. Wann Weihnachten ist, das lassen sich die beiden von niemandem vorschreiben, nicht einmal vom lieben Gott. Heiligabend kann für sie mitten im Jahr sein, wenn sie einen ergiebigen Sperrmüllfund gemacht haben in einem Villenviertel zum Beispiel. Nach Feierabend besorgen sie sich billigen Wein oder Wodka. Jureczek setzt sich vor den Fernseher: „42 Programme – das ist das Leben.“ Edi holt aus seiner Kühlschrankbibliothek lieber ein Buch, liest „Romeo und Julia“ und andere Klassiker. Seine Leidenschaft für Literatur soll schließlich sein Leben verändern: Zwei Alkoholschmuggler zwingen Edi, dafür zu sorgen, dass ihre Schwester durchs Abitur kommt. Als diese überraschend schwanger wird, vermuten die Gangster in Edi den Vater.
Wie Edi und Jureczek unverhofft zu einem Kind kommen und sich mit dem Kleinen durchs Leben zu schlagen versuchen, erinnert an Charlie Chaplins herrlichen „The Kid“ (1920). Allerdings scheint der stets gefasste Edi in seiner stoischen Ruhe mehr mit Buster Keaton gemeinsam zu haben. Wie Keaton im „Navigator“ (1924) oder im „General“ (1926) nichts erschüttert, weil er stets Schlimmeres erwartet hatte, so trotzt auch Edi mit seinem unbewegten Gesicht, das äußerste Konzentration verrät, allen Irrungen und Wirrungen des Lebens.
„Edi ist der erste abendfüllende Spielfilm von Piotr Trzaskalski. Ohne Fördermittel, ohne Fernsehbeteiligung entstanden, knüpft Trzaskalski auf das einst spannende, aber längst totgesagte Autorenkino an. Über seinen Anspruch lässt der Regisseur keinen Zweifel: „Ich liebe die Filme von Tarkowski, Klimow, Askoldow, Paradzanow, Bresson und versuche, einen ähnlichen Weg zu gehen wie sie, wie ich überhaupt das Autorenkino liebe. Polnische Filmemacher jedoch – mit Ausnahme von Marek Koterski – haben diese Art von Kino heutzutage vergessen.“
Dieser Forum-Beitrag, der auch für den Oscar nominiert wurde, ist nicht nur sehr polnisch in der realistischen Darstellung des größten osteuropäischen Landes zehn Jahre nach der Einführung der Marktwirtschaft, sondern auch auf Grund der Präsenz der katholischen Kirche und der Thematisierung des Verhältnisses von Stadt und Land (vierzig Prozent der Bevölkerung leben noch immer im ländlichen Raum).
Ergreifend sind die Szenen, in denen Edi sich Gedanken macht über seinen Platz im Leben. Als ihm klar wird, dass er sich ein Verhältnis mit der Abiturientin abschminken kann, erklärt er Jureczek, dass man es sich meistens zu spät eingesteht, wenn die Dinge nicht so laufen, wie man es sich wünscht, dass er in diesem Fall jedoch rechtzeitig verstanden – und sich eingestanden – hat, dass nicht jeder Traum wahr wird. Nachdem Edi und Jureczek mit dem Kleinen aufs Land geflüchtet sind, das Kind dann jedoch wieder abgeben müssen, und in die Stadt zurückkehren, begründet Edi diesen Schritt mit den Worten: „Auch wenn es auf dem Land sehr schön war – hier können wir unser eigenes Leben leben.“ Soll das nun Demut und Selbstgenügsamkeit in einer immer unmenschlicheren Welt predigen? Oder soll das ein Pläydoyer sein für das Recht eines jeden, ohne jede Bevormundung über sein Leben selbst entscheiden zu dürfen. Wahrscheinlich schwingt von beidem etwas mit. Jedenfalls verlässt man den Kinosaal letztendlich mit sehr gemischten Gefühlen.
Politisches Kino in Italien und Argentinien
Armut, Arbeitslosigkeit, Krieg und Flüchtlingselend – all das wird auf der 53. Berlinale aufgegriffen und aufgezeigt, oft dank DV-Kamera an der Zensur vorbei. Aber selten nur findet die Auseinandersetzung mit Gegenwehr und Gegenkultur statt. Es ist kein Zufall, dass gerade in den Ländern, in denen die Bewegung weiter ist, auch die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen weiter ist.
Im letzten Jahr war auf der Berlinale „Eine andere Welt ist möglich“ über die Ereignisse von Genua zu sehen. Das gleiche italienische Kollektiv, in dem sich Nachwuchsregisseure mit Altmeistern wie Ettore Schola, Francesco Rosi und den Taviani-Brüdern für diese Arbeit zusammengetan haben, kam auch für einen Film über das Weltsozialforum in Porto Alegre wieder zusammen und war auf den diesjährigen Filmfestspielen mit dem Streifen „Briefe aus Palästina“ zu sehen. In zehn Geschichten bemüht sich der Streifen, das Leiden, aber auch den Widerstandsgeist der unterdrückten PalästinenserInnen zu vermitteln. Gedreht wurde nur eine Woche, im Sommer 2002, in den besetzten Gebieten, sowie in Israel, in Haifa, Jerusalem, Ramallah und in Tel Aviv.
„Das Palästinenserproblem liegt uns seit vielen Jahren am Herzen – in seiner ganzen Komplexität und mit allem, was es aus der jüngsten Geschichte der Menschheit, direkt und indirekt, mit sich bringt. Darum schien es uns allen in der Stiftung „Cinema nel presente“nahe liegend, über einen neuen Kollektivfilm nachzudenken, der die Bedingungen dokumentiert, unter denen die von diesem Problem betroffenen Menschen leben. Oder besser gesagt, der diese Bedingungen „erzählt“. Dabei ist ein Film entstanden, dessen kurze Geschichten aus Fragmenten, Licht, Gesichtern, Fallbeschreibungen bestehen und die vor allem von einem berichten: von der außerordentlichen kulturellen und intellektuellen, aber auch materiellen, physischen Vitalität dieser unterdrückten Menschen“ (Stellungnahme der Regisseure).
Eindringlich die Szene, in der eine alte Palästinenserin sich mit ihrem Enkelkind vor den Stufen von Haus und Garten einer jüdischen Familie niederlässt und dem Kleinen erzählt, dass das Gebäude, die Zitronenbäume und alles andere vor fünfzig Jahren Eigentum ihrer Familie waren. Bewegend auch, wie trotz der Allgegenwärtigkeit des Krieges Shakespeares „Romeo und Julia“ einstudiert wird und neue Stücke mit einfachsten Mitteln auf die Bühne gebracht werden. Bemerkenswert darüber hinaus, dass auch ein Friedensmarsch jüdischer Israelis an einen Grenzposten eingefangen wird und auf diesem Weg auf Ansatzpunkte gemeinsamer Gegenwehr von ArbeiterInnen und Jugendlichen auf beiden Seiten hingewiesen wird.
Politisch noch radikaler ist das argentinische Kollektiv, das mit dem Beitrag „Cine Piquetero – Für ein neues Kino in einem neuen Land“ auf der Berlinale vertreten war. Dokumentiert werden die Massenproteste und der Aufstand vom Dezember 2001. Kaum zuvor konnten soziale Eruptionen so systematisch aufgezeichnet werden. Die Videotechnik ermöglicht das diesen Filmemachern, denen es an Ausstattung und Geld mangelt. In dem Streifen werden ein halbes Dutzend Dokumentarfilme gezeigt: Die Rebellion der Massen vom Dezember 2001 (Por un nuevo cine en un nuevo pais), ein Rückblick auf die Diktatur (Memoria, vacuna contra la muerte), die Aktionen der verarmten RentnerInnen (Tercer tiempo), Darstellung der Konzeption und Organisationform der Piqueteros (Piqueteros carajo!), der Arbeiterkontrolle in Fabriken (Ceramica Zanon) und der Spontanität des Kampfes (Brukman es de los trabajadores).
Neue, preisgünstigere Techniken
Als innovative und politisch kritischere US-Filmemacher am Beginn des letzten Jahrhunderts gegen Monopolisierung, Trust-Gesetze und Konformismus aufbegehrten, brachen sie seinerzeit in New York alle Zelte ab und zog von der Ost- an die Westküste, nach Hollywood. Die spätere „Traumfabrik“ war ursprünglich Zufluchtsort für die so genannten „Illegalen“, unabhängige Filmemacher, die sich der Kontrolle durch die großen Filmstudios und Verleihfirmen entziehen wollten, um eigene Wege gehen zu können. Mit ihrem Umzug waren sie damals darauf aus, sich aus der Umklammerung der Wall Street zu befreien und den gewalttätigen Bandenkriegen, angeleiert von den Geldsäcken der dominanten Produktionsfirmen, zu entkommen. In der Tat: „Es kommt zu Überfällen auf die Ateliers der Unabhängigen, Demolierung der Kameras, Verwüstung der Dekoration. Die Polizei zuckt die Achseln“ (Curt Riess, „Die Geburt der Illusion“, Universitas Verlag).
Heute schafft die Digital-Kamera und die Schnitttechnik am Rechner ganz neue Möglichkeiten – ohne horrende Summen aufbringen zu müssen. (In den Filmstudios selber kursiert schon der Spruch: Wurde früher jeder Kameramann mit Argwohn beäugt, der nach dem cut die Kamera weiter laufen ließ, so stößt mittlerweile derjenige auf Kritik, der sich erlaubt, die Kamera während der Dreharbeiten überhaupt einmal auszuschalten).
Wie frei und wie revolutionär sind die Film-Künstler heute?
In ihrem Manifest „Für eine freie revolutionäre Kunst“ konstatierten Leo Trotzki und Andre Breton 1938, in einer Zeit von Revolution und Konterrevolution: „Wir haben von der Leistung der Kunst eine zu hohe Meinung, als dass wir ihr einen Einfluss auf das Schicksal der Gesellschaft abstreiten würden.“ In welchem Maß lässt sich das auf die Filmschaffenden von heute, ebenfalls in einer Zeit bedeutender gesellschaftlicher Umbrüche, übertragen?
In den letzten zehn, zwanzig Jahren war der Film, von wenigen Ausnahmen abgesehen, armselig. Einige wenige zeichneten sich in jüngster Zeit durch Einfallsreichstum und Talent aus, kaum aber durch neue Ideen und dem Erfassen gesellschaftlichen Bebens.
Es scheint schon fast ein Gesetz der Serie zu sein, dass Debütanten nach einem gelungenen Erstling enttäuschen, wenn sie alle Mittel zur Verfügung haben – es ihnen aber an einer echten eigenen Idee mangelt. Galt dies letztes Jahr auf der Berlinale im Bezug auf den zweiten Film vom Regisseur Wes Anderson, „The Royal Tenenbaums“, der durch seinen originellen Erstling „Rushmore“ (in dem sämtliche pseudopädagogische Thesen auseinander genommen werden) auf sich aufmerksam machte, so galt das in noch viel größerem Maße für Spike Jonze und seinen Drehbuchautor Charlie Kaufman, die ihre zweite gemeinsame Arbeit, „Adaptation“, präsentierten. In ihrem ersten Film „Being John Malkovich“ (1999) hatten sie sich mit einem immer wiederkehrenden Wunsch der Menschen beschäftigt: dem Wunsch, Alltag und Routine einmal zu entkommen, in dem man vorübergehend in eine andere Rolle schlüpft. Jonze und Kaufman hatten dieses existenzielle Thema in „Being John Malkovich“ nicht nur ein weiteres Mal aufgegriffen und in Szene gesetzt, sondern in seltener Weise auf die Spitze getrieben. In ihrem Erstling ließen sie einen arbeitslosen Puppenspieler, (ausgerechnet ein Puppenspieler, einem Meister des Rollenspiels), in einer Zwischenetage eines Bürohochhauses eine Klappe zum Gehirn von John Malkovich entdecken und andere Gäste dafür zahlen zu lassen, dass sie durch glitschige Zwischenportale eine Viertelstunde in den Kopf Malkovichs reisen dürfen. „Adaptation“, bei dem Charlie Kaufman ein Drehbuch machte über Charlie Kaufman, wie er ein Drehbuch macht – über Orchideen, steigt nicht tiefer ein in Sachen künstlerische Selbstreflexion, sondern dümpelt bald (währender Meryl Streep auf Orchideensuche in Sumpfgebieten beobachtet) vor sich hin: das übliche banale ‘Hollywood frotzelt über Hollywood‘. Demgegenüber ist „Being John Malkovich“ erfrischend und einfallsreich.
Kein Wunder, dass der beste Film der Berlinale vor genau fünfzig Jahren, 1953, gedreht wurde: „Die Reise nach Tokio“ von Yazujiro Ozu, anlässlich einer Hommage für den japanischen Regisseur, der in diesem Jahr seinen hundersten Geburtstag hat. Ozus Meisterwerk, das erst kürzlich von internationalen Filmkritikern bei einer Befragung durch die Zeitschrift „Sight and Sound“ zu einem der zehn besten Filme aller Zeiten gewählt wurde, erzählt die Geschichte von einem alten Ehepaar auf dem Land, das ihre Sprösslinge in der Großstadt besucht und resigniert feststellen muss, wie sehr sich die Kinder von ihnen entfernt haben. Bloß ein Generationenkonflikt – ein zeitloses Thema? Natürlich, aber bei Ozu noch viel mehr als das. So sind der Zweite Weltkrieg und die Folgen des Krieges unentwegt präsent. Ganz anders als in „The Hours“ beispielsweise, für den Nicole Kidman, Juliane Moore und Meryl Streep mit den Silbernen Bären für die beste Darstellung prämiert wurden.
Auf drei Zeitebenen werden die Geschichten von Virginia Woolfe in den zwanziger beziehungsweise vierziger Jahren, von einer Hausfrau in den Fünfzigern und von einer Lektorin im New York der Gegenwart miteinander verknüpft. In diesem Film von Stephen Daldry („Billy Elliott“, 1999) wird das Grauen des Weltkrieges, der Virginia Woolfes Arbeit an „Mrs. Dalloway“ 1923 nachhaltig beeinflusste, völlig ausgeklammert. Auch ihre Entscheidung, 1941 den Freitod zu wählen, (womit der Film eröffnet wird), ist zumindest zu einem wichtigen Teil von der Perspektivlosigkeit einer Frau, die der Fabian Society nahestand, im Angesicht des Faschismus mitbestimmt worden – was ebenfalls völlig außen vor bleibt in Stephen Daldrys Werk. Zwar mag der Film andeuten, was patriarchale Strukturen, bürgerliche Familie und Diskriminierung lesbischer Liebe für diese Frauen bedeuten, so wirkt er letztendlich wegen seinem Mangel an historischem und zeitgenössischem Verständnis leblos und steril.
Die 53. Berlinale hat widergespiegelt, dass einige der vielversprechenden Filmemacher an Grenzen gestoßen sind. Sie werfen Fragen auf über die Krise der Kunst und der kapitalistischen Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts, schrecken jedoch vor den Antworten auf diese elementaren Fragen zurück. Allerdings trat bislang noch an jedem historischen Wendepunkt nicht nur jegliche Ignoranz, Dekadenz und Misanthropie all derjenigen Armleuchten, die beharrlich am Bestehenden festhalten wollen, in aller Schärfe zutage, sondern war auch immer Inspiration für neue Gedanken und innovative Erzählformen und Stilmittel. Das gilt nicht zuletzt für die Filmkunst, die gerade einmal hundert Jahre auf dem Buckel hat.
Michael Winterbottom beendete die Pressekonferenz zu „In This World“ auf der Berlinale mit dem Satz, dass seine Filme die Welt verändern sollen. Bei Michael Winterbottom klangen dabei allerdings unüberhörbar Selbstzweifel an. Bestimmter antwortete Danis Tanovic, der sich mit Dokumentarfilmen über den Krieg in Bosnien-Herzegowina einen Namen machte, auf die Frage der Süddeutschen Zeitung am 20. Februar 2003, ob er daran glaubt, dass Filme die Welt verbessern können: „Es war Lenin, der die Kraft des Kinos gesehen hat und gesagt hat, dass der Film die Kunst der Zukunft ist. In Amerika kann man sehen, in welchem Maß die Gesellschaft das Kino nachahmt, oder auch umgekehrt. Filme haben eine ungeheure Macht, man muss nur an all die Filme denken, die in der Geschichte des Kinos zensiert wurden, weil sie gefährliche Botschaften trugen. Ich habe gehört, dass Bush in die großen Filmstudios gegangen ist, um die Filmindustrie in seinem Sinne zu beeinflussen.“
Danis Tanovic erhielt für seinen ersten Spielfilm „No Man‘s Land“ im vergangenen Jahr den Oscar als bester ausländischer Film. Er trug auch die Balkan-Episode in dem Film „11‘09‘01“ bei, dem Höhepunkt des letzten Filmjahres. Bezeichnenderweise ist dieses herausragende Werk, an dem Ken Loach, Samira Makhmalbaf, Mira Nair, Claude Lelouch und andere mitgewirkt haben, innerhalb Europas nur in Deutschland und Frankreich aufgeführt worden. In den USA wird dieser Film wohl auch in den nächsten Jahren keinen Verleih finden.
Auch wenn diese Filmfestspiele einmal mehr ernüchternd waren, so gaben sie dennoch ein paar Hinweise darauf, dass sich eine nicht unwesentliche Zahl von Filmemachern darum bemüht, in der Wirklichkeit anzukommen und bereit ist, nicht nur das heutige gesellschaftliche Leben, sondern auch sich selbst zu hinterfragen.