Keine von den bisherigen Regierungsparteien konnte ins Parlament einziehen. Doch auch der gemäßigt-islamistischen AKP-Regierung wird vor dem Hintergrund der sozialen Krise und der Kriegsgefahr keine Stabilität beschieden sein.
von Claus Ludwig, Köln
Die Parteien, die in den letzten 20 Jahren das politische Geschehen in der Türkei geprägt haben, wurden durch die Wahl von der Oberfläche gefegt. Die stärkste Regierungspartei, die DSP von Ecevit, fiel von 20 auf 1,2 Prozent. Die faschistische MHP, die 1999 von einer nationalistischen Welle getragen auf fast 20 Prozent kam, fiel auf 8 Prozent zurück. Die liberal-konservativen Parteien DYP und ANAP, beide Symbole für Korruption und Ausplünderung der Armen, blieben unter zehn Prozent.
Die AKP verfügt mit 35 Prozent der Stimmen über eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, einzige Oppositionspartei ist die Partei des Staatsgründers Atatürk, die CHP. Wegen dem undemokratischen Wahlsystem, der Zehn-Prozent-Hürde, sind allerdings nur 50 Prozent der WählerInnen im Parlament repräsentiert.
Die AKP konnte siegen, weil sie nicht mit der Korruption und dem sozialen Kahlschlag der letzten Jahre identifiziert wird. Tatsächlich ist sie die einzige "normale" bürgerliche Partei in der Türkei, die ihre Positionen in den Kommunen nicht allein zur Bereicherung der eigenen Leute verwendete, sondern auch so etwas wie "Sozialpolitik" – zum Beispiel mit Armenküchen und Brot-Verteilstellen – machte.
Soziale Krise
Die AKP ist keineswegs radikal. Sie lehnt einen US-Alleingang gegen den Irak ab, bekennt sich aber zum "Krieg gegen den Terror" und tritt nicht gegen von der UNO beschlossene Angriffe auf den Irak ein. Sie will den Beitritt der Türkei zur EU und begrüßt die Umsetzung der vom Internationalen Währungsfonds (IWF) beschlossenen Kürzungs- und Privatisierungsmaßnahmen. Allerdings trat sie im Wahlkampf für die Neuverhandlung der IWF-Bedingungen ein und forderte zum Beispiel großzügigere Subventionen an die BäuerInnen. Türkische KäuferInnen sollten bei Privatisierungen bessere Bedingungen bekommen, die Belegschaften mehr Mitspracherechte.
Vor dem Hintergrund der enormen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage war die AKP für viele die einzige Alternative zu den traditionellen Parteien. Die Islamisten haben ihre Hochburgen in den städtischen Armenvierteln und in den Kleinstädten und Dörfern des anatolischen Kernlandes.
Seit dem Beginn der schweren Wirtschaftskrise im Herbst 2000 haben weit über eine Millionen Menschen ihre Arbeit verloren. Die türkische Lira ist nur noch halb so viel wert wie zuvor. Die Wirtschaft ist 2001 um fast acht Prozent geschrumpft. Dieses Jahr gibt es ein bescheidenes Wachstum, aber es droht ein erneutes Absacken. Die Stimmung in der arbeitenden Bevölkerung ist gedämpft bis depressiv.
Die AKP wird daran nichts ändern. Auch die faschistische MHP versuchte in der letzten Regierung, sich als Verteidigerin der Armen aufzuspielen, während sie die Beschlüsse des IWF umsetzte. Das klappt einige Monate, aber nicht unbegrenzt. Die AKP wird ihren guten Ruf, für die Armen Politik zu machen, schnell verlieren, wenn die nächste Welle an Privatisierungen und Kürzungen kommt, wenn mit Hilfe des türkischen Militärs die Angriffe auf den Irak rollen.
Islamistische Radikalisierung?
Es ist eher unwahrscheinlich, dass diese Regierung vier Jahre im Amt bleibt. Bei der nächsten Wahl mögen die jetzigen Parlamentsparteien abgestraft werden. Allerdings würde die AKP nicht einfach verschwinden. Sie jetzt als "islamistisch" zu bezeichnen, ist, betrachtet man nur den Moment, übertrieben. Doch ihre Wurzeln liegen im islamischen Fundamentalismus, dem politischen Islam. Sie hat ihre jetzige Stärke durch "Protestwähler" bekommen, doch sie hat durchaus eine gefestigte islamistische Basis. Mächtige Faktoren – die Tiefe der sozialen Krise, das Eingreifen des US-Imperialismus gegen islamische Länder – werden Teile der AKP radikalisieren, werden über kurz oder lang zu Machtkämpfen oder Spaltungen in der islamischen Bewegung führen.
Zur Zeit hält sich das Militär zurück. 1997 hatten die Generäle in einem "leisen Putsch" die islamistische Refah-Partei aus der Regierung gedrängt, 2001 deren Nachfolgepartei verboten. In einer zugespitzten wirtschaftlichen Situation, in der sich die AKP oder Teile der Partei radikalisieren, kann es erneut zu einer Aktion der Militärs kommen. Dann droht eine gefährliche Zuspitzung der Lage, eine Frontstellung zwischen den repressiven Militärs und der verbitterten Jugend, die sich wegen der Hoffnungslosigkeit der Lage dem politischen Islam zuwendet. In Algerien hat diese Situation seit dem Beginn der 90er Jahre zu einem blutigen Bürgerkrieg geführt.
Abschneiden von DEHAP
Die ArbeiterInnen und BäuerInnen der Türkei haben dabei nichts zu gewinnen. Weder die korrupten Agenten des IWF, welche die traditionellen bürgerlichen Parteien steuern, noch die Militärs, welche die Türkei und der Glocke dumpfer Repression halten noch die Islamisten, die von sozialen Wohltaten tönen aber auch Politik für die Reichen machen und die Gesellschaft entlang religiöser Linien spalten, bieten einen Weg nach vorne.
Nur der Aufbau einer sozialistischen Bewegung, die sich auf die Kämpfe der ArbeiterInnen gegen die Ausplünderung des Landes stützt, kann einen Ausweg aufzeigen.
Das linke Wahlbündnis DEHAP, bestehend aus der kurdischen Partei HADEP und den kleinen Linksparteien EMEP und SDP, konnte bei den Wahlen 6,5 Prozent der Stimmen erobern. Dieses Ergebnis hat viele enttäuscht. An den Veranstaltungen von DEHAP hatten viele zehntausende Menschen teilgenommen.
DEHAP sah sich – wie schon HADEP 1999 – massiver Repression gegenüber. In den kurdischen Gebieten gab es Wahlfälschungen, Militär und Polizei drohten Dörfern mit Repressalien, sollte DEHAP viele Stimmen bekommen.
Das alleine klärt allerdings nicht die Schwächen von DEHAP. In Kurdistan ist DEHAP die stärkste Kraft, auch in den Vierteln Istanbuls, in denen viele KurdInnen leben, konnte DEHAP gut abschneiden. Doch der Brückenschlag zur türkischen Arbeiterklasse ist nicht gelungen. Die Programmatik von DEHAP ist verschwommen geblieben. Die kurdische Bewegung ist in den letzten Jahren mehr in die politische Mitte gerückt. Statt gemeinsamer sozialer Interessen von kurdischen und türkischen ArbeiterInnen wurde etwas abstrakt die Frage der demokratischen Rechte betont. Ohne eine Vorstellung davon zu geben, wie eine andere Gesellschaft erkämpft werden kann, ohne klar den Charakter des türkischen Kapitalismus aufzuzeigen, wird die Linke nicht zu einer großen Kraft werden können. Wenn DEHAP überwiegend als "Vertreter der Kurdengebiete" gesehen wird, werden auch viele türkische ArbeiterInnen, die keine nationalistischen Ideen vertreten, sagen: "Ich kann euer Anliegen verstehen, aber um ehrlich zu sein, haben wir hier ganz andere Sorgen."
Es muss jetzt darum gehen, aus den Abwehrkämpfen der kommenden Monate und Jahre, die es unweigerlich geben wird, eine sozialistische Bewegung aufzubauen, welche ein klares Programm zur Abschaffung des Kapitalismus mit Forderungen für demokratische Rechte und gegen die Unterdrückung in Kurdistan verbindet.