AusländerInnen als Reserve für den Arbeitsmarkt – ein kapitalisti

von Georg Kümmel (August 2002)
 
MexikanerInnen in den USA, KoreanerInnen in Japan, NordafrikanerInnen in Frankreich, TürkInnen in Deutschland – in allen wirtschaftlich starken kapitalistischen Ländern arbeiten AusländerInnen. Sie wurden mehr oder weniger systematisch angeworben.
In Deutschland begann dieser Prozess Ende des 19. Jahrhunderts angesichts des zeitweise rasanten Wachstums der kapitalistischen Wirtschaft. Sie sollten als „Konjunkturpuffer“ funktionieren. Ein Vertreter der Industrie beschrieb im Jahre 1910 die Vorteile: „Die Möglichkeit für die deutsche Industrie, ausländische Arbeiter heranzuziehen, wird besonders wertvoll in den Zeiten der Hochkonjunktur, wenn es gilt, den sprunghaft gesteigerten Bedarf des heimischen wie des ausländischen Marktes zu befriedigen … Andererseits ist die Industrie bei dem Abflauen der Konjunktur und einer Erleichterung des Arbeitsmarktes in der Lage, zunächst die ausländischen Arbeiter abzustoßen …“.
Arbeitskräftemangel in Zeiten der Hochkonjunktur stärkte die Position der ArbeiterInnen und führte zu höheren Lohnforderungen. Diesem Effekt konnte man durch den Import von Arbeitskräften entgegenwirken.
Die Beschäftigung der ausländischen ArbeiterInnen war immer nur vorübergehend gewollt. Deshalb wurden für sie Sondergesetze, eben Ausländergesetze, geschaffen. Wichtigstes Element dieser Gesetze war die Befristung und Bindung des Aufenthaltsrechts an einen Arbeitsplatz.
In absoluten Zahlen spielte die Beschäftigung von AusländerInnen bis in die 1960er Jahre keine große Rolle. Abgesehen natürlich von den ZwangsarbeiterInnen im I. und II. Weltkrieg.
Das erste Anwerbeabkommen für sogenannte GastarbeiterInnen wurde 1955 mit Italien geschlossen. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland war noch groß, aber regional gab es schon Engpässe, und bei anhaltendem Aufschwung war ein rasch wachsender Bedarf an Arbeitkräften absehbar. Weitere Anwerbeabkommen folgten: 1960 mit Griechenland und Spanien, 1961 mit der Türkei.
In einer Untersuchung Anfang der 60er Jahre über den wirtschaftlichen Nutzen der Ausländerbeschäftigung für die Unternehmen heißt es: „Der bei uns arbeitende Ausländer stellt in der Regel seine besten Jahre zur Verfügung. Für die Betriebe ergibt sich daraus der Vorteil, dass nur in seltenen Fällen ein älterer oder nicht mehr voll arbeitsfähiger ausländischer Mitarbeiter aus sozialen Gründen mit durchgezogen werden muss.“
Bevor sie älter wurden, sollten sie wieder gehen. Abhängig von der zukünftigen Konjunkturlage sollten sie durch neue ersetzt werden oder auch nicht. Die Ausländerpolitik stellte sich ganz in den Dienst der kurzfristigen und zeitlich schwankenden Bedürfnisse der Wirtschaft.
Doch die Unternehmer standen vor einem Dilemma: Einerseits wollten sie ausländische ArbeiterInnen, ledig und mobil, die sie auch jederzeit wieder auf die Heimreise schicken konnten. Nur unter dieser Voraussetzung dienten die AusländerInnen als billige und willige Arbeitskräfte. Um diese Vorteile zu erhalten, hätte man sie aber nur saisonal beschäftigen dürfen oder ein Rotationsprinzip einführen müssen. Aber kein Unternehmer hatte Interesse, „seine“ AusländerInnen, die angelernt waren und etwas Deutsch verstanden, nach einer gewissen Zeit wieder gegen ungelernte auszutauschen. Deshalb blieben die AusländerInnen im Durchschnitt immer länger und ein wachsender Teil stellte sich auf einen Daueraufenthalt in Deutschland ein und holte die Familie nach.
Deshalb begann Anfang der 70er Jahre eine Debatte über den volkswirtschaftlichen Nutzen der Ausländerbeschäftigung. Aus Sicht der Wirtschaft taugten diese AusländerInnen nicht mehr als Konjunkturpuffer. Die Kosten für Erziehung und Schulbesuch der Kinder lagen nicht mehr bei dem Heimatland, sondern im eigenen.
Ausländerpolitik war immer Wirtschaftspolitik. Es dauerte nicht lange, und die abnehmenden Vorteile aus der Beschäftigung ausländischer ArbeiterInnen führte zu einem Wechsel in der Politik. SPD-Bundeskanzler Willy Brandt sagte 1973 in seiner Regierungserklärung, „dass wir sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten.“ Ende 1973 wurde der Anwerbestopp für GastarbeiterInnen aus Nicht-EG-Ländern verfügt. (Die EG – Europäische Gemeinschaft – war die Vorläuferin der EU.) Er ist im Grundsatz bis heute gültig.
Mitte der 70er endete der lange Nachkriegsaufschwung, und in Westdeutschland wurde Massenarbeitslosigkeit zu einer dauerhaften Erscheinung. Ein größerer Bedarf an ausländischen Arbeitskräften war nicht mehr zu erwarten.
Die Propaganda seitens der Regierungsparteien und der Wirtschaft gegenüber AusländerInnen verlief immer nach dem selben Muster: In Zeiten der Hochkonjunktur wurden volkswirtschaftliche und andere Vorteile der Ausländerbeschäftigung hervorgehoben. In den 60er Jahren wurde die Anwerbung von AusländerInnen als Beitrag zur Völkerverständigung gepriesen. In Zeiten rückläufiger Konjunktur wurden vor Gefahren für die Nation gewarnt und die Andersartigkeit der AusländerInnen betont.
Schon im Jahre 1908 wußte das „Correspondenzblatt“ der Gewerkschaften zu berichten: „Polizei und Unternehmertum reichten sich in holder Eintracht die Hand, um die mit großen Versprechungen herangelockten Arbeiter wieder loszuwerden … Der Patriotismus der Unternehmer schlug die kräftigsten Töne an – weil man diese Leute nicht mehr brauchte.“
Die Unternehmer und ihre politischen Vertreter haben AusländerInnen immer nur als Arbeitskräfte gesehen, die man gerade gebrauchen kann oder auch nicht. Daran hat sich bis heute nichts geändert.