von Rene Henze
"Jezt stehen Betriebsschließungen, Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau, die fast uneingeschränkte Herrschaft des Kapitals und niedriger Lebensstandard für die Mehrheit der DDR-Bevölkerung ins Haus." Das schrieben wir vor zehn Jahren in der VORAN, September 1990, kurz vor der kapitalistischen Wiedervereinigung. Leider wurde diese Perspektive vollauf bestätigt.
Während die DDR 1989 noch einen Platz unter den führenden Industrieländern inne hatte, liegt heute die Wirtschaftsleistung aller fünf Länder Ostdeutschlands gerade mal auf dem Niveau des Bundeslandes Schleswig-Holsteins. Der DGB hat errechnet, dass seit der Wiedereinführung der Marktwirtschaft drei Viertel aller Industriearbeitsplätze verschwunden sind. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schreibt in seiner wirtschaftpolitischen Bilanz der Wiedervereinigung (Juni 2000): "Letztes Jahr waren fast eine Million Personen in verschiedenen Maßnahmen untergebracht, die anderenfalls das Heer der registrierten Arbeitslosen vermehrt hätten. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass weiterhin fast 2,5 Millionen Arbeitsplätze am ersten Arbeitsmarkt fehlen.” Ende 1989 waren in der DDR 10 bis 11 Millionen Menschen erwerbstätig – heute sind es laut DIW sechs Millionen, "solche in subventionierter Beschäftigung eingeschlossen.”
Ausverkauf = Schnäppchen
Mit der Einführung der Marktwirtschaft wurde die von den Stalinisten heruntergewirtschaftete DDR-Wirtschaft den westlichen Konzernen und Banken zum Fraß vorgeworfen. Ein riesiges Ausschlachten begann. Die ehemaligen DDR-Kombinate wurden zerlegt und privatisiert. Über 8000 Betriebe wurden plattgemacht oder für ""n Appel und "n Ei” verhökert. Die Treuhandanstalt, die diesen grandiosen Ausverkauf organisierte, beendete ihre Arbeit mit 230 Milliarden Mark Schulden. Und das lag nicht an der besonderen Schuldenmachkunst der Frau Breuel (jüngstes Beispiel: EXPO), die damals Treuhandchefin war, sondern daran, dass den westdeutschen Unternehmern die Ost-Firmen "schmackhaft" gemacht wurden.
Ein Beispiel ist der Verkauf der ehemals weltgrößten Hochseeflotte, der Rostocker Deutschen SeeReederei. Die beiden Käufer, die Hamburger Kaufleute, Herr Rahe und Herr Schüss, verkauften erst ihre eigene kleine Reederei für 20 Millionen Mark an die Treuhand. Danach erworben sie von der Treuhand ihre eigene Reederei und die DSR für zusammen 10 Millionen. Derartige Beispiele kann jede und jeder Ostdeutsche aus jedem noch so kleinen Städtchen erzählen. Die westdeutschen Banken und Konzerne verdienten sich daran eine goldene Nase. Aber nicht nur daran: dadurch, dass die ostdeutschen Betriebe systematisch plattgemacht wurden, vergrößerten sich die Marktanteile von VW, Tschibo, Daimler und Co. Die riesigen staatlichen Transfers für Arbeitslosengeld, Rente und andere staatliche Zahlungen an die Arbeiter und Arbeitslosen im Osten, wanderten schnell wieder in die westdeutschen Konzern- und Bankkassen. Für die westdeutschen Kapitalisten bedeutete der Ausverkauf Ostdeutschlands eine gigantische Profitquelle.
Kapitalismus unfähig
1990 erhofften sich 86 Prozent der Ostdeutschen eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse an das Westniveau. Inzwischen glaubt niemand mehr daran.
Die Marktwirtschaft, der Kapitalismus, ist heute in keinem Teil der Welt mehr in der Lage, Wirtschaft und Gesellschaft zu entwickeln. Nicht nur in den Ländern der "Dritten Welt" in Afrika oder Asien ist das kapitalistische System unfähig, die Produktivkräfte weiter zu entwickeln, sondern auch in Osteuropa und ebenso in dem kleinen Gebiet wo einmal die DDR war. Die großen Banken und Konzerne haben so gewaltige Überkapazitäten angehäuft, dass zusätzliche Produktionsstätten im Osten für sie nur überflüssige Investitionen wären. Die Konzern- und Bankchefs sind keine lieben Onkels aus dem Westen, die den "armen Verwandten" im Osten mal schnell was schenken. Wenn sie investieren, dann muss entsprechend Profit dabei rauskommen. Da nun aber die grundlegende Entwicklung der kapitalistischen Weltwirtschaft schon seit Mitte der 70er Jahre – trotz einzelner Aufschwünge – nicht mehr nach oben weist, wird auch Ostdeutschland weiterhin eine industrielle Ruine bleiben. Das ist der simple Hintergrund für die weiterhin hohe Arbeitslosigkeit im Osten. Ganze Landstriche stürzen ab. Es gibt in Mecklenburg oder Sachsen-Anhalt Orte, wo fast nur noch der Pfarrer und der Bürgermeister regulär bezahlt werden.
Neben dieser größten Deindustriealisierung zu Friedenszeiten gibt es einige wenige Inseln, wo mit riesigen staatlichen Subventionen hochproduktive Werke, wie Opel Eisenach, AMD Dresden oder die hochmodernen Werften im Norden, hochgezogen wurden. Dort liegt die Produktivität sogar über dem Westdurchschnitt. Doch auch hier liegen die Löhne unter dem Westdurchschnitt. Die Einführung der Marktwirtschaft hat aus dem Osten Deutschlands einen dauerhaften Niedriglohnsektor gemacht. Nur 44 Prozent aller KollegInnen haben überhaupt einen Flächentarifvertrag (im Westen: 65 Prozent) und das durchschnittliche Lohnniveau liegt bei 75 Prozent des Westlohns (DIW 6/2000). Und selbst die wenigen KollegInnen, die "100 Prozent Westlohn" erhalten, müssen länger arbeiten und haben weniger Jahresurlaub.
Gegenwehr
Schon kurz nach der "Wende" stieg die Verbitterung und Wut gegenüber den neuen Machthabern. Schnell entpuppten sich die neuen Verhältnisse als unsozial und die neuen Politiker, und ihre Parteien, als genauso arrogant und machtversessen, wie die SED vor 89. Trotzdem kam es im Osten bislang noch nicht zum großen Aufstand der Massen. Wohl gab es eine Reihe verzweifelter Kämpfe. So zum Beispiel den fast ein Jahr dauernden Kampf um den Erhalt des Kali-Werkes im thüringischen Bischofferode, oder den ersten Streik nach 60 Jahren (!) in der ostdeutschen Metallindustrie, gegen Tarifbruch, beides 1993, oder der große Kampf der Jugend für den Erhalt des Jugendradios DT 64 ebenfalls Anfang der 90er Jahre. In diesen Auseinandersetzungen und im täglichen (Über-)Leben im Osten merken die Leute, dass die Politik nur für die Banken und Konzerne gemacht wird.
Die Ossis sind nicht doof. Sie wissen, dass sie 1990 von Kohl und den Wirtschaftsbossen über den Tisch gezogen wurden. Doch Wut allein genügt nicht. Was fehlt, sind kämpferische Organisationen der KollegInnen, Arbeitslosen und der Jugend, die die Verbitterung aufgreifen und auf die Straße bringen. Dort, wo das geschah, entwickelte sich auch sehr schnell und kämpferisch die Gegenwehr und das nicht nur von den Betroffenen selbst. Als im mecklenburgischen Boizenburg Ende der 90er Jahre der letzte große Betrieb geschlossen werden sollte, die Elbewerft, ergriff der Betriebsrat die Initiative und organisierte Widerstand. Die KollegInnen besetzten den Betrieb und große Teile der Bevölkerung solidarisierten sich. Die Landesregierung machte schnell Zugeständnisse, denn einen Flächenbrand von Protesten wollte sie nicht haben.
Gewerkschaften und PDS
Doch leider sind solche Gegenwehraktionen die Ausnahme. Denn nur allzu oft machen die ArbeiterInnenvertretungen, die Gewerkschaftsspitzen und Betriebsräte, und auch die SchülerInnen- und die Studi-Vertretungen das ganze Spiel von Politik und Wirtschaft mit. Und auch die PDS-Politiker, die sich die Interessenvertretung der "sozial Schwachen" auf die Fahne geschrieben haben und ihre Politik sogar "sozialistisch" nennen, organisieren keine Gegenwehr. Im Gegenteil: für sie ist es wichtiger sich mit der Politik und Wirtschaft gut zu stellen, als konsequent die Interessen der KollegInnen, der Arbeitslosen oder der Jugend zu vertreten. Sozialismus ist für sie kein Ziel, das man im Kampf selbst um die kleinste Verbesserung im Auge haben muss, sondern nur eine Utopie. Die Kombination aus sozialer Misere und dem Fehlen einer starken und kämpferischen linken Alternative hat entscheidend zum Aufschwung der Nazis beigetragen.
Das DIW geht in seinem Bericht "10 Jahre deutsche Einheit" davon aus, dass der "Aufholprozess" im Osten noch 30 Jahre dauern wird. Solange werden die ArbeiterInnen, Arbeitslosen und Jugendlichen nicht warten können. Inzwischen läuft die Entwicklung sogar andersherum. Auch wenn im Augenblick die Gegenwehr im Osten kaum sichtbar ist – zu schwer wiegt noch die Blockadepolitik der Gewerkschaftsführung und die Untätigkeit der PDS – so nimmt die Unzufriedenheit doch zu. Das wird unvermeidlich zu neuen großen Kämpfen führen. Die Frage, was ist die Alternative zu dieser Gesellschaft, wird neu gestellt werden.
In der Neujahrsumfrage kam das Allensbach-Institut Ende 1997 zum Schluss, das zwei Drittel der Ostdeutschen die Marktwirtschaft ablehnen und für einen dritten Weg zwischen den Systemen von DDR und BRD eintreten. Die SAV kämpft dafür, nicht den Kopf in den Sand zu stecken, sondern eine Organisation aufzubauen, die eine – sozialistische – Alternative zu Stalinismus und Kapitalismus aufweist.