Ein Gespenst geht um in Deutschland, das Gespenst der Enteignung
In Berlin findet das Volksbegehren zur Enteignung von Immobilienkonzernen große Unterstützung. Der Juso-Vorsitzende Kühnert denkt im Interview über die Vergesellschaftung von BMW nach. Die Reaktionen der Herrschenden sind panisch bis hysterisch … und das ist gut so.
von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es einen langfristigen Trend zur Ausdehnung des öffentlichen Sektors im Kapitalismus. Ein zentraler Widerspruch dieses Systems ist die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung. Vorher war die Wirtschaft durch kleine bäuerliche und handwerkliche Familienbetriebe geprägt. Die Produktion war privat. Naheliegender Weise waren die Produktionsmittel und Arbeitsprodukte auch Privateigentum. Mit dem Kapitalismus dominierte Großproduktion immer mehr die Wirtschaft. Es gibt nicht nur eine Arbeitsteilung in der Gesellschaft, sondern auch in den einzelnen Betrieben arbeiten Hunderte und Tausende zusammen, um die einzelnen Waren zu erzeugen. Während die Produktion so immer gesellschaftlicher wurde, ist das Eigentum Privateigentum geblieben. Zwar wurden Familienbetriebe weitgehend durch Aktiengesellschaften und ähnliche Rechtsformen ersetzt, aber das ersetzte nur eine starre Form des Privateigentums durch eine flexiblere. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erkannten weiter blickende Vertreter des Kapitals, dass sie die Privatwirtschaft in deren eigenem Interesse durch einen wachsenden Staatssektor ergänzen mussten. Das betraf vor allem Bereiche der Infrastruktur (z.B. Wasser, Gas, Elektrizität, Eisenbahnen) und bestimmte Dienstleistungen (z.B. Post). Solche Bereiche privatwirtschaftlich zu betreiben erforderte riesige Investitionen in Baulichkeiten (Leitungs-, Schienen- etc. -netze). Dass solche Investitionen, wenn sie einmal gemacht sind, jahrzehntelang genutzt werden können, ist aus gesellschaftlicher Sicht ein Vorteil. Aus kapitalistischer Sicht bedeutet es, dass investiertes Kapital extrem langsam umschlägt, erst nach vielen Jahrzehnten wieder reinkommt. Es war auch aus kapitalistischer Sicht sinnvoller, sie in öffentlichem (staatlichen, kommunalen etc.) Eigentum zu bauen und zu betreiben.
Das Pendel schwingt Richtung Privatisierung
Seit den 1980er Jahren sollte das alles plötzlich nicht mehr gelten. Die überwältigende Mehrheit der Medien und Politiker*innen redeten uns ein, dass Privatisierung der Weisheit letzter Schluss sei. Als in der damaligen „Schuldenkrise“ viele Länder der „Dritten Welt“, besonders in Lateinamerika unter der Last plötzlich emporgeschnellter Zinsen wirtschaftlich am Zusammenbrechen waren, wurden ihnen von IWF und Weltbank drastische Privatisierungsprogramme aufgezwungen. Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa 1989-1991 verschärfte sich das, aber die Offensive gegen das öffentliche Eigentum richtete sich von Anfang an nicht nur gegen das Staatseigentum in den stalinistischen Staaten, sondern auch gegen den Staatssektor im Kapitalismus.
Die Propaganda gegen „ineffiziente Staatsbetriebe“, „bürokratische öffentliche Verwaltungen“ sollte vertuschen, dass der wirkliche Grund die Krise der auf Privateigentum basierenden kapitalistischen Wirtschaft war. Die Triebfeder des Kapitalismus ist die Profitmaximierung. Dazu müssen nicht nur aus den Arbeiter*innen immer größere Profite herausgeholt werden. Diese müssen auch wieder profitversprechend investiert werden. Je weiter sich der Kapitalismus entwickelt, je mehr sich seine inneren Widersprüche zuspitzen, desto schwieriger wird es, ausreichende profitable Anlagemöglichkeiten in der kapitalistischen Produktion zu finden. Das erklärt, warum in den letzten Jahrzehnten nicht nur immer neue Spekulationsblasen entstanden sind (Aktien, Immobilien, Schulden – die „verbrieft“ und als Wertpapiere an den Finanzmärkten gehandelt wurden – und unzählige neuartige Finanzprodukte), die ab und zu mit verheerenden Folgen für die Wirtschaft und vor allem für die Bevölkerung platzten, sondern auch immer größere Bereiche des öffentlichen Sektors privatisiert wurden, damit kapitalistische Investoren dort ihr Geld anlegen konnten, für das sie anderswo zu wenig profitable Anlagesphären fanden.
Die Propaganda gegen das Staatseigentum wurde dadurch erleichtert, dass es sich um kapitalistisches oder stalinistisches Staatseigentum gehandelt hatte, das von abgehobenen Managern verwaltet und entsprechend nicht im Interesse der Masse der Bevölkerung (weder der Beschäftigten noch der Kund*innen, Verbraucher*innen) geleitet wurde. Staatsbetriebe im Kapitalismus sollten die Privatwirtschaft mit guten Produkte oder Dienstleistungen versorgen, die stalinistischen Staatsbetriebe in Osteuropa sollten die Macht und Privilegien der stalinistischen Bürokratie sichern (sowohl die in den jeweiligen Betrieben als auch in den stalinistischen Staaten insgesamt) und natürlich waren die Spitzen im kapitalistischen Staatssektor im Westen auch durch einen Abgrund von der Masse der Bevölkerung getrennt, was Macht und Lebensstandard betraf.
Schwingt das Pendel zurück?
Die Privatisierungsorgien der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass diese Betriebe vorher mit gutem Grund öffentlich betrieben worden waren. Wir erleben oft genug, dass sich Privatisierung von Infrastruktur aus kapitalistischer Sicht vor allem deshalb rechnet, weil „von der Substanz gelebt“ wird, notwendige Erhaltungsinvestitionen vernachlässigt werden.
Wenn solche Netze von konkurrierenden Privatfirmen parallel aufgebaut worden wären, wäre das auch eine krasse Vergeudung gesellschaftlicher Ressourcen gewesen. Wenn solche Bereiche privatisiert werden, wird meist auch gar nicht versucht, konkurrierende Netze aufzubauen, sondern es wird eine Trennung zwischen dem Netz und seiner Nutzung eingeführt. Komplizierte und bürokratische Regeln sollen dann zum Beispiel dazu führen, dass die Deutsche Bahn als Netzbetreiberin sich selber als Verkehrsunternehmen nicht gegenüber anderen Verkehrsunternehmen bevorzugt. Und trotzdem will man uns weis machen, dass Privatisierung zu weniger Bürokratie führt!
Tatsächlich soll die ganze Propaganda, mit der man uns seit Jahrzehnten über den Nutzen der Privatisierung überflutet nur verdecken, dass es eben um die Schaffung von profitablen Anlagefeldern geht. Dass es für Kund*innen von Vorteil sein soll, wenn sie mit dem Preis neben den Gehältern der Beschäftigten und den anfallenden Kosten noch die Dividenden von Aktionär*innen finanzieren sollen, wird auch durch den Tausendsten und Millionsten Artikel, der das behauptet, nicht wahr. Falls solche Anbieter tatsächlich billiger sind, liegt das an schlechterer Bezahlung der Beschäftigten, größerer Arbeitshetze, schlechterer Qualität, mehr Umweltbelastung etc. Ein drastisches Beispiel ist der Immobilienkonzern VONOVIA, der pro Euro Mieteinnahmen 38 Cent Dividende zahlt. Also könnten in öffentlichem Eigentum die Mieten sofort um 38 Prozent gesenkt werden.
Deshalb ist es, abgesehen von der winzigen Minderheit von Großaktionär*innen, in unser aller Interesse, wenn das Pendel, das seit den 1980ern Richtung Privatisierung schwang, wieder zurück schwingt.
Enteignung bestimmter Unternehmen und Branchen
In den letzten Jahren hatten wir einen, schwächlichen, Wirtschaftsaufschwung. Massenentlassungen und Betriebsschließungen waren eher selten. Gegenwärtig trübt sich die Wirtschaft deutlich ein. In wenigen Monaten könnte sich das Bild völlig ändern und die Frage nach einem Programm gegen solche Angriffe große Bedeutung erlangen. Wir können erwarten, dass bürgerliche Parteien uns entweder erklären werden, dass solche Maßnahmen eben notwendig seien, sie bestenfalls sozialverträglich durchgeführt werden müssen. Oder sie werden fordern, dass strauchelnden Unternehmen mit Millionen und Milliarden an Steuergeldern über die Krise geholfen werden soll. In solchen Fällen bietet sich die Forderung nach Verstaatlichung bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung (verbunden mit Arbeitszeitverkürzung, Umstellung der Produktion auf gesellschaftlich sinnvolle Produkte etc.) als Ausweg im Interesse der bedrohten Beschäftigten an.
Können wir aber dabei stehenbleiben? Wenn in einer Krise die Nachfrage einbricht, dann kann die Rettung eines Unternehmens dazu führen, dass statt dessen das nächste an den Abgrund gerät. Die Schlussfolgerung muss dann sein, die ganze Branche in öffentliches Eigentum zu überführen.
Die Forderung nach der Verstaatlichung ganzer Branchen drängt sich auch dort auf, wo die Umstellung der Produktion aus ökologischen oder gesellschaftlichen Gründen dringend notwendig ist, sei es die Rüstungs- oder große Teile der Autoindustrie. Kapitalist*innen produzieren Waffen aus Profitgier. Wenn die Umstellung der Produktion profitabel wäre, würden sie das von sich aus machen. Soll der Staat die Unternehmen, die jahre- und jahrzehntelang mit der Produktion von Mordwerkzeugen Profite gemacht haben, etwa durch Subventionen aus Steuergeldern „bestechen“, doch gnädigerweise etwas gesellschaftlich Sinnvolles zu produzieren? Oder sollte man sie nicht doch besser enteignen und die Umstellung der Produktion erzwingen?
Ebenso drängt sich die Überführung in öffentliches Eigentum in den Bereichen auf, die zwar gesellschaftlich sinnvolle Dinge produzieren, die dies aber schlecht machen, weil im Kapitalismus eben die Profite und nicht die Bedürfnisse von Mensch und Umwelt zählen. Es wird immer wieder zu Recht gesagt, dass man die Heilung von Kranken nicht der Profitgier kapitalistischer Konzerne überlassen könne. Aber wie steht es mit der Herstellung von Medikamenten, von Lebensmitteln, mit der Wasserversorgung, mit der Entsorgung von Müll, mit der Herstellung von Waren, bei denen Produktionsfehler zu Toten und Verletzten führen können, mit Produktionsprozessen, bei denen bei Unfällen oder der Verletzung von Vorschriften schwere Umweltschäden entstehen? (Denn dass wir uns nicht auf die Bereitschaft von Kapitalisten verlassen können, Vorschriften zum Umwelt- oder Verbraucherschutz einzuhalten, das sollte nach dem Dieselskandal nun wirklich keines Beweises mehr bedürfen.) Wenn wir ein bisschen nachdenken, wird die Liste der Bereiche, die wir nicht der privaten Profitgier überlassen sollten, immer länger.
Angesichts dessen, dass die Eigentümer dieser Unternehmen ihr Eigentum nicht „im Schweiße ihres Angesichts“ erarbeitet, sondern durch Ausbeutung (also die „Enteignung“ der Arbeitenden um einen Teil ihres Arbeitsproduktes) erworben haben … welchen Grund gibt es für eine Entschädigung, außer von Kleinaktionär*innen bei erwiesener Bedürftigkeit?
Die Machtfrage stellen und beantworten
Die Enteignung einzelner Unternehmen oder Branchen würde an sich noch nicht den Kapitalismus in Frage stellen. Aber wie oben erklärt: die Privatisierungssucht ist Ausdruck der Suche nach profitablen Anlagesphären für das Kapital. Und auf dieser Suche befindet sich die gesamte Kapitalistenklasse. Wenn wir mit gesellschaftlich sinnvollen oder gar dringend notwendigen Verstaatlichungen die profitablen Anlagesphären noch weiter einengen, treten wir zwangsläufig den Kapitalist*innen insgesamt auf die Hühneraugen. Das heißt, jeder ernsthafte Schritt in diese Richtung wird die Machtfrage stellen. Nicht nur die betroffenen Unternehmen und Branchen, sondern die Kapitalist*innen insgesamt werden alle Register ziehen, um ihn zu verhindern: Hetzkampagnen in den Medien, Drohung mit „Investitionsstreik“ und Verlagerung der Produktion ins Ausland. Eine linke Regierung müsste den Fehdehandschuh aufnehmen, indem sie ihnen die Quellen ihrer Macht nimmt: ihre Produktionsmittel und ihren Reichtum. Und damit überschreiten wir die Grenzen des Kapitalismus. Dann geht es nicht mehr darum, einzelne Unternehmen und Branchen dem zerstörerischen Profitprinzip zu entziehen, sondern die ganze Wirtschaft gemäß den Bedürfnissen von Menschen und Umwelt zu reorganisieren und demokratisch zu planen. Eine Schlüsselrolle muss dabei neben der Verstaatlichung der großen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen die der Banken und Versicherungen spielen.
Es würde nicht bedeuten, jede kleine Klitsche, jede Würstchenbude zu verstaatlichen. Viele kleine Betriebe sind heute von den Banken oder als Zulieferbetriebe von Großbetrieben abhängig. Wenn diese Großbetriebe oder Banken verstaatlicht sind, können diese Kleinbetriebe problemlos in eine demokratisch geplante Wirtschaft integriert werden. Sie könnten als Familienbetriebe oder Genossenschaften oder in anderer Form arbeiten und hätten im Zweifel bessere Bedingungen als im Kapitalismus.
In den Staatsbetrieben unterschiede sich die Lage grundlegend sowohl von Staatsbetrieben im Kapitalismus als auch im Stalinismus: es gäbe Arbeiter*innenkontrolle über die Produktion. Konsumgenossenschaften und unabhängige Umweltverbände würden sicherstellen, dass die Qualität der Produkte stimmt und ökologische Erfordernisse beachtet werden. Durch den Wegfall schädlicher Produkte und der Vergeudung von Ressourcen und Arbeitskraft durch Konkurrenz wäre eine drastische Verringerung der Arbeitszeit und Arbeitshetze möglich. Die Menschen hätten die Zeit, die Leitung der Wirtschaft gemeinsam demokratisch zu organisieren und ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse allseitig zu entwickeln und zu befriedigen.