Nach Kevin Kühnerts Plädoyer für Sozialismus wird das Kapital nervös
Das Interessante an der derzeit heftig geführten Debatte über das Sozialismus-Interview des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert in der ZEIT ist weniger, was er gesagt hat, als wie darauf reagiert wurde. Da macht ein Vorsitzender der Jungsozialist*innen etwas für ihn gar nicht Ungewöhnliches: sich in allgemeiner Form für eine sozialistische Gesellschaftsveränderung aussprechen. Doch diesmal fällt die Meute der Kapitalismus-Anwält*innen über ihn her. Warum? Weil sie erkennen, dass sich die Zeiten ändern. Und Angst bekommen.
Von Sascha Staničić
Denn auch wenn Kühnert selbst von Utopie spricht, so ist ein Kerngedanke sozialistischer Veränderung seit einigen Wochen ganz real Mittelpunkt einer gesellschaftlichen Bewegung und Auseinandersetzung: die Eigentumsfrage. Konkret: die Forderung nach der Enteignung der großen Immobilienkonzerne, wie sie von der Initiative „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ gefordert wird und von circa der Hälfte der Bevölkerung bundesweit unterstützt wird. Hier hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Privateigentum und Marktkonkurrenz nicht im Interesse der Mieterinnen und Mieter funktionieren und günstiger Wohnraum nur dann geschaffen werden kann, wenn die Profitinteressen der großen Konzerne ausgeschaltet werden.
Enteignung!
Schon darauf hat die Armee von Kapitalismus-Anhänger*innen in Wirtschaftsverbänden, bürgerlichen Parteien und Medien mit Schaum vor dem Mund reagiert und eine antisozialistische Kampagne losgetreten, die DDR-Keule geschwungen – in der Hoffnung, dass die Anklage „Das wäre ja Sozialismus!“ die Bevölkerung verschrecken würde. Das hat nicht funktioniert. Zum einen sicher, weil viele wissen, dass nur die Enteignung einiger Immobilienkonzerne noch kein Sozialismus bedeutet, aber auch weil es in der Arbeiter*innenklasse und unter Jugendlichen sehr wohl weit verbreitete Sympathien für sozialistische und marxistische Ideen gibt, wie Meinungsumfragen seit Jahren zeigen (wie zum Beispiel die YouGov-Umfrage von 2016 nach der 45 Prozent eine positive Meinung zum Sozialismus haben und nur 26 Prozent vom Kapitalismus). Nun hat Kevin Kühnert in dem ZEIT-Interview deutlich gemacht, dass die Eigentumsfrage auch auf andere Wirtschaftsbereiche auszuweiten ist – zum Beispiel die Automobilbranche. Recht hat er. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass nur die großen Immobilienkonzerne eine Situation herbei führen, die nicht den Interessen der arbeitenden Bevölkerung entspricht, sondern ausschließlich ihren Profitinteressen. Das gilt ebenso für die Energiekonzerne, die Pharmaindustrie, die Autobauer, die Telekommunikationsanbieter, die Nahrungsmittelindustrie – es gilt für die kapitalistische Wirtschaftsweise, die auf Profitmaximierung für die kleine Zahl der Kapitalbesitzer*innen ausgerichtet ist. Kühnert hat Recht, wenn er sagt: „Die weit überwiegende Zahl der Menschen auf unserer Welt arbeitet nicht, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen, sondern das Bedürfnis anderer nach Profitstreben.“
Dass ihm nun so heftiger Gegenwind aus CDU/CSU und FDP, der SPD-Spitze, von angepassten Betriebsratsfürsten und selbsternannten Wirtschaftsspezialisten entgegen bläst ist nur ein Hinweis darauf, dass er etwas Wahres ausgesprochen hat und dass sie Angst vor wachsender sympathie mit sozialistischen Ideen haben. Getroffene Hunde bellen bekanntlich …
Kapitalismus gehört abgeschafft
Der Kapitalismus hat eine Ungleichheit geschaffen, wie es sie in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Das gilt global, aber auch in der Bundesrepublik, wo Millionen zu Niedriglöhnen arbeiten müssen, von Altersarmut betroffen sind, deren bescheidene Lohnerhöhungen durch Miet- und Preissteigerungen aufgefressen werden und sie sich den Rücken krumm und die Seele krank schuften müssen. Gleichzeitig bedroht die profitorientierte, kapitalistische Wirtschaftsweise, die den Klimawandel (aber auch andere Formen der Umweltzerstörung und Kriege) zu verantworten hat, die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen. Gerade in der Frage der Begrenzung des CO2-Ausstoßes offenbaren Privateigentum und Markt, aber auch die kapitalismushörigen Regierungen, dass sie nicht in der Lage sind die dringend nötigen Veränderungen in der Produktionsweise einzuführen. Die nun diskutierte CO2-Steuer wird erstens kaum den erwünschten Effekt haben, so wie schon die Ausstellung von CO2-Zertifikaten keinen Effekt hatte und unter den gegebenen politischen Bedingungen wird sie in der einen oder anderen Form zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung gehen (entweder direkt oder durch das Umlegen der Steuer auf Verbraucherpreise). Die Dimension der drohenden Katastrophe vor Augen sprechen auch Wissenschaftler*innen und grüne Politiker*innen von der Notwendigkeit eines radikalen wirtschaftlichen Umbaus. An die heilige Kühe des Kapitalismus: Privateigentum an Produktionsmitteln und Marktwirtschaft wollen sie aber nicht ran. Ohne einen wirklichen Systemwechsel, der die großen Banken und Konzerne in öffentliches Eigentum überführt, unter demokratische Kontrolle und Verwaltung stellt und die konkurrenzgetriebene Profitlogik durch rationale und demokratische Planung ersetzt, wird aber weder der Klimawandel noch die zunehmende soziale Ungleichheit in den Griff zu bekommen sein. Deshalb sagen wir selbstbewusst und offensiv: Ja zum Sozialismus!
DDR
Wenn den Vertreter*innen des Kapitalismus kein rationales Argument mehr einfällt, packen sie das antisozialistische Totschlagargument Nummer 1 aus: die DDR habe doch bewiesen, dass Sozialismus und Planwirtschaft nicht funktionieren. Das ist ungefähr so, als ob man einen Klempner eine Herztransplantation machen lässt und den vorhersehbaren Tod des Patienten als Beweis anführt, dass Herztransplantationen unmöglich sind. Die DDR war nicht sozialistisch. Sie war eine bürokratische Diktatur einer privilegierten Schicht von Partei- und Staatsbürokrat*innen. Es gab eine Diktatur über das Proletariat, keine demokratische Machtausübung durch das Proletariat. Die Planwirtschaft wurde durch bürokratische Top-Down-Strukturen erstickt. Das Scheitern der DDR beweist nicht, dass Sozialismus nicht funktioniert. Es beweist nur, dass Sozialismus Demokratie braucht, wie der menschliche Körper Sauerstoff zum Atmen, wie es der russische Marxist Leo Trotzki formulierte.
Kühnerts Sozialismus
Wir begrüßen, dass Kevin Kühnert eine öffentliche Debatte um grundlegende System- und Gesellschaftsalternativen ausgelöst hat. Schaut man sich seine Sozialismusvorstellungen genauer an, wird aber deutlich, dass ihm eher eine Marktwirtschaft mit größerem Staatssektor bzw. eine „Kollektivierung von Gewinnen“ vorschwebt, was er dann „sozialistische Marktwirtschaft“ nennt, aber mit wirklichem Sozialismus nichts zu tun hat. Markt bedeutet aber immer Konkurrenz und, wie Kühnert selbst sagt, das führt zu Gewinner*innen und Verlierer*innen und dem Druck möglichst günstig zu produzieren, um die Waren möglichst gewinnbringend verkaufen zu können. Kühnerts Unfähigkeit oder Unwille die Möglichkeit einer demokratischen Planwirtschaft zu denken, in der die demokratische Beteiligung der Produzent*innen die nötige Kontrolle und Korrektur ökonomischer Prozesse darstellt, führt dazu, dass er auf halber Strecke seiner Überlegungen stehen bleibt.
Ebenso verzichtet er darauf, zu erklären, dass Sozialismus eine grundlegende Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse voraussetzt, eine Überwindung nicht nur des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Marktkonkurrenz, sondern auch der kapitalistischen staatlichen Strukturen in bürgerlich-parlamentarischen Demokratien, welche durch wirkliche Demokratie in Form von demokratisch gewählten Rätestrukturen ersetzt werden müsste. Das würde einen Arbeiter*innenstaat bedeuten, der demokratisch von den arbeitenden Menschen selbst gelenkt würde und in dem es für Funktionär*innen keine Privilegien, dafür aber jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit geben müsste.
Utopie oder Ziel?
Wir halten den Sozialismus nicht für eine Utopie, sondern für ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Und wir halten ihn für eine dringende Notwendigkeit angesichts des Zerstörungspotenzials, das der globale Kapitalismus aufgebaut hat. Das bedeutet aber auch, dass wir die Kämpfe für günstigen Wohnraum, höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, gegen Klimawandel, Rassismus und Geschlechterdiskriminierung so miteinander verbinden sollten, dass sie zu antikapitalistischen Kämpfen werden. Dazu, wie Sozialismus erreicht werden kann, schweigt sich Kühnert aus. Weil das dann doch zu sehr im Widerspruch zu seiner SPD-Karriere stehen würde. Selbstorganisation von Lohnabhängigen und Jugendlichen, Klassenkämpfe und die Bildung einer sozialistischen Massenpartei – das wären die nötigen Elemente eines Kampfes für eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft, einer Veränderung die revolutionär verlaufen muss und nicht durch einen Prozess langsamer kleiner parlamentarischer Schritte denkbar ist. Kühnerts Wirken innerhalb der pro-kapitalistischen SPD zeigt da keinen Weg auf. Wir haben nicht vergessen, dass er nachdem seine Kampagne zur Verhinderung der Großen Koalition scheiterte, loyal Andrea Nahles zur Parteivorsitzenden wählte und nicht einmal die linksoppositionell auftretende Simone Lange unterstützte. Es darf niemanden überraschen, wenn auch er die typische Juso-Diagonalkarriere von links unten nach rechts oben durchläuft, wenn er nicht bereit ist, mit der Sozialdemokratie zu brechen.
Und DIE LINKE?
Natürlich haben die Medien besonders auf das Kühnert-Zitat reagiert, weil dieser ein SPD-Politiker ist und er scharfen Widerspruch aus der eigenen Partei provozierte. Die Reaktionen aus anderen Parteien und Wirtschaftsverbänden zeigt vor allem, dass diese Angst haben, dass die Unterstützung für antikapitalistische und sozialistische Ideen zunehmen wird, wenn solche nun schon von prominenten SPD-Leuten öffentlich vertreten werden. Ein Blick in die USA reicht, um zu erkennen, dass Sozialismus keine verstaubte, sondern eine hochmoderne Idee ist, die dort immer mehr Unterstützung genießt.
Wenn es pro-sozialistische Äußerungen von LINKE-Vertreter*innen gibt, kommt es nicht zu einem vergleichbaren Aufschrei. Es ist aber trotzdem ein Armutszeugnis für DIE LINKE-Führung, dass sie sich nicht ähnlich offensiv mit der Forderung nach einer Debatte über sozialistische Systemalternativen profiliert hat. In der Regel treten LINKE-Politiker*innen geradezu entschuldigend auf, wenn sie auf die sozialistischen Ziele der Partei angesprochen werden. Der wirtschaftspolitische Diskurs, der aus der Partei heraus in den letzten Jahren, wahrgenommen wurde, war geprägt gerade von dem Abrücken Sahra Wagenknechts von sozialistischen Positionen hin zu ordoliberalen Marktwirtschaftsvorstellungen.
DIE LINKE fordert die Überführung der großen Banken und Konzerne in Gemeineigentum, aber sie belässt es in der Regel dabei, dass diese Forderung auf Parteitagen beschlossen wird und ihr Spitzenpersonal macht damit keine Politik. Sie ist auch nicht treibende Kraft dabei, die Eigentumsfrage offensiv aufzuwerfen, sondern – wie im Fall der Kampagne „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ – schließt sie sich, meistens zeitverzögert, an, wenn andere etwas auf den Weg gebracht haben. Und ohne Vertreter*innen des linken Flügels wie den AKL- und SAV-Mitgliedern, würden oftmals die entsprechenden Anträge nicht einmal gestellt.
Das muss sich ändern! DIE LINKE muss die gegenwärtige Sozialismus-Debatte offensiv aufgreifen und sagen: Ja – Sozialismus ist Notwendigkeit! Sie muss das verbinden mit einer Konzentration auf die Unterstützung gewerkschaftlicher und sozialer Kämpfe und deutlich machen, dass die in diesen Kämpfen aufgestellten Forderungen nur dauerhaft gesichert werden können, wenn der Kapitalismus durch eine sozialistische Demokratie ersetzt wird. Jetzt müsste die Partei reagieren und den Ball aufnehmen. Zum Beispiel dadurch, die Kampagne zur Enteignung der Immobilienkonzerne bundesweit mit größtem Engagement zu führen. Zum Beispiel dadurch eine Veranstaltungsreihe durchzuführen mit dem Titel „Warum öffentliches Eigentum und Sozialismus nötig sind“. Zum Beispiel durch die Organisierung eines großen, offenen Sozialismus-Kongresses, zu dem die Aktiven aus Gewerkschaften und Bewegungen eingeladen werden. Zum Beispiel durch die Veröffentlichung eines Manifests für Sozialismus, dass in einfacher Sprache und großer Auflage unter die Menschen gebracht werden könnte. Zum Ende des 19. Jahrhundert wurde der Sozialismus die unbestrittene Überzeugung des Großteils des Proletariats in Deutschland. Das fiel nicht vom Himmel, sondern war auch Ergebnis der unermüdlichen Propagierung sozialistischer Ideen durch die frühe Sozialdemokratie. Daran müsste sich DIE LINKE ein Beispiel nehmen. SAV-Mitglieder treten dafür innerhalb der Partei ein.
Sascha Staničić ist Bundessprecher der SAV und Mitglied der LINKEN.