Antisemitisch?!

Marxistischer Beitrag zur Antisemitismus-Debatte

Das Bild eines Verkehrsschilds an der israelisch-palästinensischen Grenze prangt auf dem Cover. Es warnt vor patrouillierenden Panzern und Staubwolken und beschreibt so etwas unfreiwillig die deutsche Debatte über Antisemitismus. Claus Ludwig geht jenen Staubwolken, antideutschen Mythen und der Umdeutung des Begriffes „Antisemitismus“, auf den Grund.

von Tom Hoffmann, Berlin

Antisemitismus ist kein Relikt der Vergangenheit, sondern reale Gefahr für jüdische Menschen. Dass Nazis in Deutschland unbehelligt von staatlichen Stellen agieren können, hat der NSU unter Beweis gestellt. Und auch wenn sich führende Teile der neuen Rechten gerne als pro-israelisch darstellen, um ihren antimuslimischen Rassismus zu rechtfertigen, so schreibt Ludwig, dass an deren Basis „die dumpfen Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden wuchern.“ Jüdische Gemeinden, deutsche Medien und Politiker*innen warnen vor einem neuen Anstieg des Antisemitismus. Doch wie weit wird der Begriff in dieser Debatte gefasst, wem wird mittlerweile nicht alles der Vorwurf des Antisemitismus angetragen?

Umdeutung des Begriffes

Als Aktivist*in in der linksjugend [’solid], dem Jugendverband der LINKEN, kann man sich auf bundesweiten Treffen schnell „strukturellen Antisemitismus“ unterstellen lassen, wenn man den Kapitalismus nicht bloß abstrakt in Frage stellt, sondern den Vorstandsetagen der Banken und Konzerne ihre Macht konkret entreißen will. Ein sogenannter „Antisemitismus von links“ wird in jeder öffentlichen Debatte zum Thema genannt und vorausgesetzt, „als müsse es nicht einmal erklärt werden, warum es eine linke Variante überhaupt geben kann“, wie auch der Autor anmerkt. Zur „linken“ Variante soll sich die „muslimische“ Variante gesellen: Eine Fortsetzung der allgemeinen Generalverdachtspolitik, der sich Muslime und Muslimas in Europa ausgesetzt sehen. Marxist*innen weisen auf das eigentliche Ziel dieser Debatte hin. Es geht nicht um den Schutz von Jüd*innen, welche von ihren „Beschützer*innen“ beharrlich mit dem israelischen Staat gleichgesetzt werden. Ziel ist es, die rechte, israelische Regierung vor Kritik zu schützen und Verwirrung zu stiften. Im Windschatten können Linke diskreditiert werden. Die Erben der europäischen Antisemit*innen, die die sechs Millionen Toten der Shoah zu verantworten haben, freuen sich über die neuen Anknüpfungspunkte.

Antisemitismus und Kapitalismus

Claus Ludwig zeigt nicht nur anschaulich die Missverhältnisse dieser aktuellen Debatte auf. Er beschreibt gründlich die Entstehung des europäischen Antisemitismus im Zusammenhang mit der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte. Denn erst mit dem Siegeszug des Kapitalismus über den Feudalismus, wurde eine „Rassentheorie“ aus Sicht der Herrschenden notwendig, um die Ausbeutung und Versklavung ganzer Kontinente zu rechtfertigen. Stützen kann er sich auf marxistische Analysen aus der Arbeiter*innenbewegung, wie der von Abraham Léon. Er geht auf die Staatsgründung Israels und die Haltung von Sozialist*innen damals ein, die vor nationalen Konflikten warnten. Einem Überblick über den palästinensischen Widerstand gegen Vertreibung und Unterdrückung folgt die Untersuchung des angeblich „linken“ Antisemitismus. Nicht zuletzt werden die Antideutschen einer marxistischen Kritik unterzogen.

Klassenstandpunkt

Dieses Buch schafft Klarheit in einer verwirrten Debatte, weil es einen Klassenstandpunkt vertritt. So werden die Parallelen zwischen den historischen und aktuellen Fehlern mancher Linker deutlich, die in nationalen und nicht in Klassenkategorien dachten und denken. Steht man hingegen auf solch einem Klassenstandpunkt, dann kann man den legitimen Widerstand der Palästinenser*innen gegen ihre nationale Unterdrückung verteidigen, ohne mit Kritik an ihrer Führung zu sparen, die eine Klasseneinheit mit den israelischen Arbeiter*innen behindert. Denn Marxist*innen haben immer gegen jede Spaltung der Arbeiter*innenklasse angekämpft, welche nur vereint eine Alternative zum Kapitalismus erkämpfen kann. In diesem Sinne sei dieses Buch allen ans Herz gelegt, die effektiv gegen Antisemitismus und Unterdrückung kämpfen wollen.