Massenproteste in Serbien

Schild gegen Vučić-Regime bei den Protesten 2017
ОстапБендер [CC0], from Wikimedia Commons
Zehntausende demonstrieren gegen die Regierung

Seit dem erscheinen des Artikels, am 22. Dezember, auf socialistworld.net ist es in Belgrad zu weiteren Massenprotesten in mehreren Städten mit zehntausenden Teilnehmer*innen gekommen. Für den 12. Januar wurde wieder zu Protesten aufgerufen.

An den letzten beiden Wochenenden ist es in Belgrad zu Protestmärschen gegen die Regierung gekommen, die Parallelen zu den „Gelbwesten“-Prosten in Frankreich aufweisen. Beim zweiten Mal waren wesentlich mehr Menschen beteiligt als in der Woche zuvor. Einige Schätzungen sprechen von 30.000 Teilnehmer*innen.

Dana Mirić, CWI („Committee for a Workers` International“ // „Komitee für eine Arbeiterinternationale“, deren Sektion in Deutschland die SAV ist)

Dieser zweite Protest fand an einem sehr kalten Abend und bei heftigem Schneefall statt, was die Anreise nicht gerade erleichterte. Große Menschenmassen füllten die Straßen im Stadtzentrum. Dies stellt den Beginn einer Reihe von Protesten dar, die für alle kommenden Samstage angekündigt sind.

Der Unterschied zu den spontanen und von unten entstandenen Protesten in Frankreich besteht darin, dass dass diese von der sogenannten Opposition organisiert werden. „Sogenannt“, weil die offizielle Opposition keine Politik anzubieten hat, die sich grundsätzlich von der der neoliberalen Regierung unterscheiden würde. Die meisten Parteien und Köpfe, die zur „Opposition“ gezählt werden, haben für viele Serb*innen schon vor langer Zeit ihre Glaubwürdigkeit verloren. Schließlich haben sie das Land regiert, bevor die jetzige Regierung an die Macht gekommen ist. Es handelt sich hierbei um dieselben Leute, die nach dem Sturz von Milošević in Serbien zuerst neoliberale Maßnahmen eingeführt haben (z.B. die Liberalisierung des Marktes, Privatisierungen und Sparpolitk). Einige von ihnen sind sehr reich und gehören zur serbischen Oligarchie. Die Menschen in Serbien, die gegen Milošević gekämpft haben, fühlen sich immer noch von der darauf folgenden Machtübernahme durch die „Gelben“ verraten (ironischer Weise ist dies die allgemein bekannte Bezeichnung für diese Kräfte). Weil jedoch keine andere ernstzunehmende Kraft vorhanden ist, stellen sie die einzig funktionierende Opposition zur herrschenden Oligarchie dar und sind daher immer noch in der Lage, eine Schicht von Verzweifelten in der Bevölkerung anzusprechen.

Verzweifelte Lage

Und die Situation in Serbien ist wahrlich zum verzweifeln. Das Land ist auf mehreren Ebenen das ärmste in Europa: Der Durchschnittslohn beträgt rund 200 Euro pro Monat, der Mindestlohn liegt bei einem Euro. Offiziellen Angaben zufolge rangiert die Erwerbslosenquote bei unter 12 Prozent, wobei es sich allerdings um eine sehr konservative Schätzung handelt. Viele erwerbstätige Arbeiter*innen müssen bis zu einem halbes Jahr auf ihren Lohn warten, manche bekommen ihn nie. Man geht aber weiter zur Arbeit, um den Beitrag zur staatlichen Versicherung leisten zu können oder weil sie zumindest die Hoffnung nicht aufgeben wollen. Auf der Suche nach einem besseren Leben haben viele hunderttausende vor allen junge und gut ausgebildete Menschen das Land bereits verlassen. Die meisten jungen Leute sehen in Serbien keine Möglichkeit auf ein normales Leben.

Während in einigen osteuropäischen Staaten in jüngerer Zeit rechtspopulistische Regierungen an die Macht gekommen sind, war das in Serbien nicht der Fall. Diese populistischen Regierungen tun so, als hätten sie eine Antwort auf die neoliberale Globalisierung. In Wirklichkeit führen sie aber geradewegs in die nationalistische Sackgasse. In Serbien ist noch nicht einmal diese Täuschung vorzufinden. Das einzige, was angeboten wird, ist der schiere und brutal neoliberale Kapitalismus. Die Politik, des früheren Ministerpräsident und amtierende Präsident, Aleksandar Vučić, der in zunehmendem Maße mit diktatorischen Mitteln regiert, orientiert vor allem auf ausländische Investor*innen. Er verkauft ihnen Bodenschätze und alle noch im Staatsbesitz befindlichen Betriebe sowie – als Bonus oben drauf – die extrem niedrig bezahlten Arbeiter*innen. Es ähnelt einem Sklavenmarkt. Dieselben Arbeiter*innen, die unter extremen Arbeitszeiten (manchmal ohne Toiletten-Pausen) zu leiden haben und trotzdem kämpfen müssen, um mit den mageren Löhnen ihre Familien über die Runden zu bekommen, bezeichnet er als „faul“ und „undankbar“. Im Fernsehen lässt er seinen Wutanfällen freien Lauf, um danach das Klagelied von den Menschen anzustimmen, die „meine Großmütigkeit nicht erkennen“. Viele Serb*innen sind davon überzeugt, dass er obendrein auch noch schwerwiegende psychische Probleme hat.

Und trotzdem regiert er das Land ohne Widerspruch. Zu seinen Methoden gehören künstliche Stromausfälle bei Nachrichtensendern ebenso wie Einschüchterungen, rücksichtsloses Vorgehen und sogar der Einsatz von Gewalt. Seine Partei SNS (die „Serbische Fortschrittspartei, die allgemein unter der Bezeichnung „die Rückwärtsgewandten“ bekannt ist) schikaniert ältere Frauen, die – um zu überleben – Stickereien oder ein paar Bünde Zwiebeln auf dem Straßenmarkt verkaufen. Gleichzeitig gibt die Regierung Millionen Euro für größenwahnsinnige Projekte wie „Belgrad am Wasser“ oder für nebulöse „Verzierungen“ aus, die von Zeit zu Zeit in der Stadt auftauchen, die Menschen sprachlos werden lassen aber auch zum Fremdschämen animieren. Aber auch der Einsatz von Gewalt wird immer öfter zum Mittel der Wahl. Fakt ist, dass es ein körperlicher Übergriff auf ein Mitglied der Opposition war, der als Auslöser für die Proteste diente.

Vor einigen Wochen gingen Bilder des Gründers der Partei „Die Linke Serbiens“ (bei der es sich in Wirklichkeit um eine sozialdemokratische Partei handelt, die dem Oppositionsblock angehört) durch die sozialen Medien. Zu sehen war er mit blutverschmiertem Gesicht und Hemd. Der Chef von „Die Linke Serbiens“ behauptete, es sei die Tat von Schlägern der SNS gewesen. Bei den Protesten, zu denen daraufhin aufgerufen wurde, trugen einige Teilnehmer*innen gelbe Westen. Sogar im Parlament ließen sich einige Oppositionspolitiker*innen mit Verkehrswarnweste blicken. Auf dem Frontbanner der Proteste stand zu lesen: „Keine weiteren blutigen Hemden mehr!“.

Wo ist die Linke?

Doch wo ist bei all den Geschehnissen die echte Linke? Bedauerlicherweise lautet die Antwort, dass sie so gut wie nirgends auftaucht. In Serbien gibt es mehrere kleine linke Gruppierungen. Die meisten von ihnen beschäftigen sich hauptsächlich mit sich selbst und versuchen kaum, die Arbeiterklasse, die Armen und die Unterdrückten zu erreichen. Es gibt nur wenige Ausnahmen wie zum Beispiel Gruppen von großteils jungen Menschen und Studierenden, die mit einigem Erfolg gegen Zwangsräumungen aktiv sind.

Die größten staatlichen Gewerkschaften (bei denen es sich um Überbleibsel des früheren Jugoslawien handelt) sind korrupt. Ihre Vorstände stehen der herrschenden Oligarchie nahe. Einige kleinere unabhängige Gewerkschaften gehören dem offiziellen Oppositionsblock an und beteiligen sich aktiv an den Protesten. In den letzten Jahren ist es in Serbien zu einigen Streiks gekommen, die jedoch ganz unterschiedlich erfolgreich waren. Sogar wenn es Erfolge zu verzeichnen gab, so waren diese relativ klein. Sobald es ein Angebot oder eine Zusage gab, wurden die Arbeitskämpfe wieder eingestellt. Und die meisten dieser Zusagen sind nicht erfüllt worden.

Linke Gruppen beteiligen sich kaum oder gar nicht an den Protesten. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Opposition zu den Protesten aufruft, mit der sie nichts gemeinsam haben. Tatsächlich wäre man lieber tot als sich zusammen mit diesen Leuten zu zeigen. Während die Oppositionsparteien zweifellos zu den Protesten aufrufen und die Reaktion vieler Linker darauf durchaus verständlich ist, so ist es doch ein Fehler, einen derart mechanischen Ansatz zu haben. Viele Menschen, die an den Protestmärschen teilnehmen, sind nicht notwendiger Weise dabei, um ihre Unterstützung für die Opposition auszudrücken sondern aufgrund ihrer eigenen Unzufriedenheit mit der Regierung.

Zuallererst muss anerkannt werden, dass es Hass auf die Regierung gibt. Dieser ist echt und legitim. Auf dieser Grundlage können weitergehende Forderungen aufgebaut werden, die sowohl mit der Regierung als auch der Opposition zu tun haben. Auf diese Weise könnte sich die echte Linke in einer breiten Öffentlichkeit ins Gespräch bringen. Dabei sollte sie sich gleichzeitig ganz eindeutig von der offiziellen Opposition distanzieren.

Wenn die Linke diesen Ansatz nicht verfolgt, dann besteht die Gefahr, dass sie weiter isoliert und irrelevant bleibt, zwei Eigenschaften mit denen die marxistische Linke per Definition nicht in Verbindung gebracht werden will. Es würde auch dazu führen, dass die Opposition weiter die Kontrolle über den wachsenden Unmut in der Bevölkerung behalten könnte – einer der Gründe wegen denen die Linke nicht in die Proteste intervenieren will. Die Linke bringt sich damit in einen gefährlichen Kreislauf, der weder ihr noch der serbischen Arbeiterklasse weiterhilft.

Derzeit erleben wird, wie sich in Europa und darüber hinaus potentiell großartige Ereignisse auftun. Mit den enormen Protesten der „Gelbwesten“ in Frankreich, die Anlass für Proteste auch in anderen Ländern waren (darunter Belgien, Ungarn und Albanien), können wir mit Fug und Recht behaupten, dass wir an der Schwelle zu massenhaften Kämpfe der Arbeiter*innenklasse stehen. Wie sich diese gestalten werden, hängt von mehreren Faktoren ab. Eine ganz wesentliche Rolle kommt dabei den linken Kräften zu und wie sie bei den Ereignissen eingreifen. In Frankreich konnten wir sehen, dass die linke Intervention bislang recht erfolgreich gewesen ist. An diesem Beispiel sollten sich die echten linken Kräfte in allen Ländern orientieren.

Rechtspopulismus ist keine Alternative

Für die Menschen in Serbien haben die Proteste in Frankreich und Ungarn jeweils eine besondere Bedeutung. Frankreich zeigt, dass selbst ein „normales“, „geordnetes“, entwickeltes kapitalistisches Land schwerwiegende Probleme hat. Das beweist, dass das „serbische Problem“ nicht der „Wild-West“-Kapitalismus ist, wie es die Opposition behauptet. Es ist der Kapitalismus an sich. Das beweist auch, dass kosmetische Maßnahmen nichts bringen werden. Die Absetzung des verrückten neoliberalen Möchtegern-Diktators in Belgrad zusammen mit seinem primitiven Anhangs wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung. Es würde aber nicht ausreichen, sollte lediglich eine „zivilisierte“ Form des Kapitalismus an dessen Stelle treten. Frankreich beweist, dass sogar der „zivilisierte Kapitalismus“ am Ende zu Ausschreitungen führt.

Einige Serb*innen, die sich an Rechtspopulisten wie Orban in Ungarn orientieren, verstehen dies als positive Entwicklung zur Verteidigung vor dem Raubzug des globalen Kapitals. Aber wir können erkennen, dass rechte Politik am Ende immer zur Verteidigung des Kapitals führt. Das „Sklavengesetz“ von Orban, mit dem sich serbische Arbeiter*innen durch und durch identifizieren können und gegen das die Ungar*innen massenweise protestieren, ist dafür der schlagende Beweis. Belgrad wird an den noch bevorstehenden Wochenende neue Proteste erleben, die bis ins Neue Jahre hineinreichen werden. Vučić hat in der ihm unnachahmlichen Manier bereits geäußert, dass er auch dann keine Zugeständnisse machen werde, wenn fünf Millionen Menschen auf die Straße gehen. Er sitzt aber nicht so fest im Sessel wie er zu meinen glaubt. Seine Macht stützt sich in hohem Maß auf Kriecherei und Angst. In der Bevölkerung hat seine Regierung keine echte Basis. Die wesentliche Frage lautet daher nicht, wie lange es so noch weitergehen wird, sondern was danach kommt.

Wenn die Bevölkerung in Serbien keine Wiederholung des berüchtigten 5. Oktober will (an jenem Tag, der zur Metapher für Polit-Opportunismus und Betrug geworden ist, wurde der frühere „starke Mann“ Milošević gestürzt), dann ist es enorm wichtig, dass echte und kämpferische marxistische Kräfte den Durchbruch schaffen. Sie können der Arbeiter*innenklasse ein klares Programm des Widerstands gegen die neoliberale Politik, und den Kapitalismus als System an sich, anbieten, sowie auf Grundlage von Arbeiter-Demokratie für die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und eine sozialistische Gesellschaft kämpfen.