Lenin und die Deutschen

Über den Mythos der deutschen Unterstützung der Oktoberrevolution

Auf dem Meeresgrund liegt nicht die Titanic, sondern ihr Schwesterschiff, die Olympic. Der nächtliche Untergang, des Ozeanriesen war ein gewaltiger, menschenfressender Versicherungsbetrug. Hitler wurde von einer jüdischen Lobby an die Macht gebracht und war selbst mosaischen Glaubens. Astronauten der NASA sind niemals auf dem Mond gelandet und Chemtrails sollen – wieso auch immer – die Menschheit impotent machen.

Verschwörungstheorien sind imposant, zeugen häufig von viel Phantasie und sie können nicht selten belegt werden. Freilich funktioniert der letzte Punkt meistens nur, wenn man selektiv Fakten auswählt, irgendwie kombiniert und dazu eine große Prise gut klingenden Unsinn mischt. Oft haben Verschwörungstheorien eine bestimmte Absicht und werden gezielt eingesetzt, um einem bestimmten Anliegen zu dienen. Dass Hitler selbst Jude war ist ebenso unhaltbar wie die Aussage, er sei von einer jüdischen Verschwörergruppe eingesetzt worden. Das Ziel dieser „Theorie“ ist es zu beweisen, dass die Opfer der NS-Diktatur eigentlich ja selbst Täter*innen waren. Und damit ist auch klar, wer hinter dieser Verschwörungssaga steckt.

Von Steve Hollasky, Dresden

Wer heute solche Theorien vertritt, der wird oft argwöhnisch beäugt. Und geht es um Aussagen, wie jene, dass die Jüdinnen und Juden die Geschicke der Menschheit zum Schlechten bestimmen, wird man als Vertreter dieses Irrsinns, voll und ganz zu recht, Zielpunkt wütender Kommentare.

Dabei ist der Umgang mit Verschwörungstheorien häufig absolut ideologisch ausgestaltet. Nicht wenige Verschwörungstheorien sind dann und wann Teil der herrschenden Geschichtsschreibung. Beispielsweise ist es auch über hundert Jahre nach der Oktoberrevolution ganz üblich zu erklären, dass es „ohne die Hilfe Wilhelms II. für Lenin […] die Oktoberrevolution […] so nicht gegeben [hätte]. Mehr noch: Ohne deutsche Unterstützung hätten Lenins Bolschewiki das erste Jahr an der Macht wohl kaum überstanden“, wie der „Spiegel“ schon 2007 zu berichten wusste. Sätze von diesem Format findet man gedruckt, vertont oder verfilmt immer wieder.

Was ist dran an dieser Aussage? War Lenin ein „Genosse der deutschen Bosse“? Ein deutscher Agent? Ein Helfershelfer der deutschen Regierung? Ein Obmann des deutschen Oberkommandierenden, General Ludendorff?

Der deutsche Geheimdienst und Lenin

Schon im September 1914 war die ursprüngliche Strategie der deutschen Militärs im Weltkrieg gescheitert. Der „Schlieffen-Plan“ zerfloss in Strömen von Blut deutscher und französischer Soldaten an der Marne. Die Armeen des Kaisers wurden gestoppt und gruben sich ein, die Front fraß sich im Stellungskrieg fest. Die Chancen den Waffengang siegreich zu beenden sanken gen Null, die Eroberungsgelüste der deutschen Imperialisten wuchsen dazu im umgekehrt proportionalen Verhältnis. Politischer Handlungsspielräume beraubt, ging die Entscheidungsgewalt von der deutschen Reichsleitung auf die Oberste Heeresleitung (OHL), die ab 1916 von General Ludendorff kontrolliert wurde, über – von der Regierung zum militärischen Oberkommando.

Besonders der Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg geriet ins Visier der Militärs. Zwar hatte er aus Sicht der deutschen Imperialisten das Reich 1914 mustergültig in den Krieg geführt und sogar die SPD „mitgekriegt“, wie es der Regierungschef selbst zu nennen pflegte, aber nun war er vielen doch zu zaghaft. Bethmann-Hollweg war ein Gegner des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs, von dem sich die Militärs eine Lösung zu ihren Gunsten erhofften. Ja, er war noch nicht einmal ein Berufssoldat!

Bethmann-Hollweg wusste, dass seine Stunden als Vorsitzender der Exekutive gezählt waren, wenn er nicht in der Lage sein sollte einen ganz großen Coup zu landen. Gemeinsam mit dem Kanzler fürchteten große Teile der kaiserlichen Politiker ihren Einfluss gänzlich an die OHL zu verlieren. Wie ein Ertrinkender verzweifelt um sich schlägt, um irgendetwas zu ergreifen, was ihn retten könnte, suchten sie nach jedem noch so dünnen Strohhalm. Sogar die Einbeziehung Mexikos in den Krieg wurde diskutiert. Es sollte die USA durch einen Angriff aus dem Süden her für immer neutralisieren. Kein noch so irrsinniger Plan blieb ungeprüft…

Eine einigermaßen illustre Gestalt mit Namen Alexander Eduard Kesküla, ein estnischer Nationalist, machte den deutschen Botschafter in der Schweiz, Baron Gisbert von Romberg, im März 1915 erstmals auf die russische Emigrantengruppe um Lenin aufmerksam. Die Idee ihn für die deutsche Politik nutzbar zu machen wird damals wahrscheinlich auf unterer Ebene diskutiert. Der Name des glatzköpfigen Revolutionärs taucht in den deutschen Akten auf. Bis auf den Tisch des deutschen Reichskanzler Bethmann-Hollweg schafft es Lenin nicht. Eine Kontaktaufnahme findet ebenso wenig statt.

Insgesamt scheint die Beachtung, die die deutschen Imperialisten Lenin schenken, verschwindend zu sein. Als von Romberg 1917 die von Kesküla an ihn übermittelten Zeitungen der Schweizer Bolschewiki zur Lektüre an Bethmann-Hollweg weiterleitet, werden diese mitsamt schriftlicher Abhandlungen über Lenins Programm ins Archiv gegeben. Dort finden sie in den 1950er Jahren deutsche Historiker. Die bolschewistischen Zeitungen sind zu diesem Zeitpunkt noch immer in der Originalverpackung, in die sie von Romberg hat 1917 einwickeln lassen – Interesse sieht anders aus.

Das man im Krieg gegen Russland auf eine – in den Augen der deutschen Diplomaten und Politiker – reichlich illustre Gruppe russischer Radikaler setzen soll, erschien selbst den nach allen Richtungen um sich schlagenden Politikern der Reichsleitung als absolut hoffnungsloses Unterfangen: Noch schien der Zar fest im Sattel zu sitzen, während Lenin in der Schweiz Artikel schrieb. Und wusste man denn, wozu diese wild gewordenen MarxistInnen aus Russland um ihn herum imstande waren?

Auf in den Kampf

Als die, ob der Verfolgung durch den zaristischen Staatsapparat, zum Exil verdammten russischen Revolutionär*innen die Nachricht vom Sturz der Romanow-Dynastie erreichte, war ihr Jubel groß, unabhängig davon, welchem Flügel der Arbeiter*innenbewegung sie angehörten. Der Wunsch in die Heimat zurückzukehren und dort die politische Arbeit aufzunehmen war es gleichermaßen. Es zog sie in den Kampf.

Im Deutschen Reich klatschte die OHL in die Hände: General Ludendorff sah sich schon fast am Ziel seiner militärischen Pläne. In einem Telegramm an das Auswärtige Amt beurteilte er die Gesamtlage in Russland als äußerst zuversichtlich.

Graf Brockdorf-Rantzau verfasste fast zur gleichen Zeit eine Denkschrift an dieselbe Adresse, in der er der Einschätzung der OHL deutlich widersprach. Man müsse jetzt – freilich hinter den Kulissen – politisch handeln und die Gegensätze zwischen den verschiedenen Fraktionen der russischen Revolutionär*innen schüren, wodurch Russland zusammenbrechen werde. Das Ziel sei nicht, eine der politischen Richtungen an die Macht zu bringen, sondern deren Protagonist*innen in ihr Heimatland zu verfrachten, auf das sie sich dort einander einen chaotischen Kampf lieferten, der Deutschlands militärische Operationen erleichtern werde.

Während Brockdorff-Rantzau im Lager der russischen Revolutionär*innen einen Kampf zwischen Gemäßigten und Radikalen ausmachte, stritten OHL und zivile Politiker um Einfluss. Reichskanzler von Bethmann-Hollweg war sich im Klaren darüber, dass – sollte die von Brockdorff-Rantzau vorgeschlagene Strategie Erfolg haben – er gleichsam seinen Hals aus der enger werdenden Schlinge ziehen könnte. Er wies die deutsche Gesandtschaft in der Schweiz an, Kontakt mit den russischen ExilantInnen aufzunehmen.

Lenins Name spielte hierbei keine Rolle. Trotz der oben erwähnten Geheimdienstberichte, war er für die Deutschen zunächst von bestenfalls untergeordneter Bedeutung.

Der Kontakt zu den russischen Revolutionär*innen lief über einen gewissen Robert Grimm.Der Schweizer Sozialdemokrat hatte die Verhandlungen mit den deutschen Diplomaten im Auftrag eines „Zentralkomitees zur Rückkehr der in der Schweiz weilenden russischen Emigranten“ aufgenommen. Dieses vereinte in sich gut 560 russische Revolutionär*innen, unter ihnen auch Lenin und andere Bolschewiki. Ihre Idee über das Gebiet der „Entente“, also der mit Deutschland und Österreich-Ungarn verfeindeten Kriegsallianz aus Frankreich, Großbritannien und Russland, auszureisen, zerschlug sich schnell. Es wurde alsbald bekannt, dass die Entente-Mächte Verhaftungen russischer Revolutionäre anhand schwarzer Listen vorzunehmen gedachten. Leo Trotzki, die neben Lenin entscheidende Führungsperson der Oktoberrevolution, lernte den Umgang der Entente mit Sozialist*innen am eigene Leibe kennen. Auf seiner Reise über britisches Gebiet nach Russland wurde er festgenommen und seine Überfahrt auf diese Weise jäh unterbrochen. Wollte man Russland erreichen, würde dies nur über deutsches Gebiet und mit deutscher Erlaubnis möglich sein, darin herrschte im „Zentralkomitee zur Rückkehr“ weitgehende Einigkeit.

Trotz dieser Übereinstimmungen entwickelten sich die Verhandlungen aus Lenins Sicht in eine besorgniserregende Richtung. Die Mehrheit im „Zentralkomitee zur Rückkehr“ bildeten Gemäßigte. Sie wollten erst dann nach Russland ausreisen, wenn die provisorische Regierung unter Fürst Lwow ihre Zustimmung dazu erteilen würde.

Lenin lehnte diese Regierung ab. In seinen Augen war sie die Anwältin der Großgrundbesitzer; eine Regierung der Kriegstreiber, die die Eigentumsverhältnisse und mit diesen auch die erschreckende Armut erhalten wollte. Und Lenin hatte recht damit. Er hatte nicht vor, diese Regierung um Erlaubnis für seine Rückkehr zu bitten.

Zudem hegte der Verhandlungsführer Grimm einen persönlichen und politischen Groll gegen Lenin. Sein Anliegen bestand darin die Abfahrt der Bolschewiki hinauszuzögern. Lenin war sich darüber voll im Klaren. Doch während er ohnmächtig in den Straßen Zürichs von seinem Domizil in einem stinkenden Hinterhof zu den Treffen der Bolschewiki und des „Zentralkomitees zur Rückkehr“ spazierte, lief ihm die Zeit davon. In seinem Heimatland marschierte die Revolution, für die er gelebt hatte, doch sie marschierte ohne ihn. An Alexandra Kollontai schrieb Lenin im März 1917, dass er fürchte, nicht sobald aus der „verfluchten Schweiz“ herauszukommen.

Lenins Reise mit dem Zug

Noch im März nahm Lenin die ganze Angelegenheit selbst in die Hand und bat den Schweizer Sozialisten Fritz Platten darum in seinem Namen mit der deutschen Gesandtschaft in Verbindung zu treten. Direkte Verhandlungen zwischen ihm selbst und den Deutschen gedachte Lenin zu vermeiden. Ihm war völlig klar, dass ihn solche Begegnungen später nur in den Ruf bringen würden ein Söldling der deutschen Regierung zu sein.

Schon am 4. April übergab Platten eine Note Lenins an den deutschen Botschafter Gisbert von Romberg, die diesen im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos werden ließ: Darin waren minutiöse Bedingungen für die Fahrt durch deutsches Gebiet aufgelistet. Zunächst einmal war Lenin nicht bereit mit deutschen Stellen und Vertretern der Reichsregierung in Verbindung zu treten. Während der Fahrt wäre Fritz Platten der Ansprechpartner, der den Transport begleiten sollte. Dass Lenin den Wagen zu exterritorialem Gebiet erklärte, war beinahe schon unfassbar. Dieser Umstand nahm den kaiserlichen Behörden jede Möglichkeit die Insassen bzw. deren Gepäck zu kontrollieren. Die Auswahl der Mitfahrenden dürfe nicht von deren politischen Positionen, insbesondere ihrer Haltung zu einem später eventuell zu unterzeichnenden Separatfrieden mit dem Deutschen Reich, abhängig gemacht werden. Zudem hielt Lenin an der bereits vom „Zentralkomitee zur Rückkehr“ gemachten Zusage fest, dass im Austausch für die Reisenden deutsche Kriegsgefangene frei gelassen werden sollten. Lenin wollte den deutschen Behörden nichts schuldig bleiben! Diese Überlegung brachte ihn auch dazu von der Deutschen Reichsbahn eine kostenpflichtige Beförderung zu verlangen und da sich die Revolutionär*innen eine Fahrt in einem Zweite-Klasse-Abteil nicht leisten konnten, forderte Lenin einen Waggon der dritten Klasse bereit zu stellen.

Von Romberg war von diesen Zeilen eines dahergelaufenen schmutzigen, russischen Marxisten derart vor den Kopf gestoßen, dass er trotz der Dringlichkeit, die die Angelegenheit für die deutschen Zivilpolitiker inzwischen angenommen hatte, zunächst gar nicht antwortete. Als er es denn doch tat, bemerkte er gegenüber Fritz Platten mit einiger Erbostheit, dass es nicht üblich sei, dass eine Privatperson einer Regierung Vorschriften mache! Dennoch reichte der deutsche Botschafter die Forderungen Lenins an den Reichskanzler weiter.

Während zwischen Auswärtigem Amt, Reichskanzler und OHL Schreiben hin- und herwanderten und man sich nach einigem Zögern dafür entschied, Lenin und eine von ihm zusammengestellte Liste von Revolutionär*innen durch deutsches und im Anschluss daran neutrales Gebiet nach Russland zu bringen, zog Lenin noch einen weiteren Trumpf aus dem Ärmel.

Für ihn war es wichtig in Petrograd, der russischen Hauptstadt, weder als von der provisorischen Regierung geduldet, noch auf der Grundlage des „Goodwills“ der Deutschen einzutreffen. Und so sammelte er fleißig Noten französischer, englischer, norwegischer, deutscher, polnischer… SozialistInnen verschiedener Schattierungen, die seinen Plan, nach Russland zu gehen, um dort die Revolution weiter voranzubringen, ausdrücklich unterstützten.

Unterdessen stellte Kurt Riezler, der wichtigste politische Berater des deutschen Reichskanzlers, die Liste der in Lenins Zug sitzenden Revolutionäre der Obersten Heeresleitung vor. General Ludendorff schrieb die ihm vorgelesenen Namen mit und vermerkte an einer Stelle auch den Namen „Lehnin“, den er fälschlicher Weise mit „h“ buchstabierte und vermerkte „Wer ist Lehnin?“ Ludendorff kannte die Antwort auf diese Frage höchstens in Ansätzen. So wie die Zugfahrt eher eine Aktion der zivilen Machtpolitiker des Deutschen Reiches war, so wenig hatte Ludendorff Kenntnis über das genaue Aussehen der russischen Emigrant*innenszene in der Schweiz. Von einem Deal oder gar einer Zusammenarbeit zwischen Ludendorff und Lenin kann also keine Rede sein. Ludendorff selbst bemerkte nach Ende des Ersten Weltkriegs, er habe weder von Kiental (Ort der Konferenz von KriegsgegnerInnen) noch von Lenin eine Ahnung gehabt.

Am 9. April ging der Transport unter dem Geschimpfe gemäßigter Sozialist*innen vom Züricher Bahnhof laut Fahrplan ab. An Bord waren 33 Revolutionär*innen, 19 davon waren Bolschewiki. Begleitet wurden sie von Fritz Platten dessen deutsches Pendant zum Zwecke der Kontaktaufnahme während der Fahrt Rittmeister von der Planitz war. Der durfte freilich nur bis zu einem von Lenin mit Kreide gezogenen Strich gehen und das Innere des Wagens nicht betreten. Wie gehörig die Zweifel an dem ganzen Unternehmen auf deutscher Seite waren, zeigt der Ausspruch eines deutschen Diplomaten, den der Gesandte der österreichisch-ungarischen Monarchie an seine Regierung weitergab: „Ein Offizier, aus einem der ältesten preußischen Geschlechter stammend, wird als eine Art Ehrencavalier diesem russischen revolutionären Gesindel, […] dem […] jetzt der Hof gemacht wird, beigegeben, nur in der Hoffnung, dadurch den Frieden etwas zu beschleunigen – das ist die Lage.“

Und Lenin hielt sich an seine Vorgabe jede Wortmeldung ausschließlich über den Kanal Platten – von der Planitz laufen zu lassen. Die in einer Spiegel-TV-Dokumentation dargestellten Verhandlungen zwischen Vertretern der Reichsleitung und Lenin, in der Nacht des 10. April 1917 hat es nie gegeben. Ganz im Gegenteil, selbst eine Abordnung einer deutschen Gewerkschaft empfing Lenin nicht, um nur ja nicht in den Geruch zu kommen, mit deutschen Stellen in irgendeiner Form in Kontakt getreten zu sein. Ebenso wies er den russischen Sozialisten Helphand aus dem Abteil, worauf wir noch eingehen werden.

Die Auswirkungen der Reise Lenins sind in ihrer Mittelfristigkeit unstrittig: Aprilthesen, Machtergreifung durch die Arbeiter*innen und Bäuerinnen und Bauern. Eines jedoch wird nur selten erwähnt, die Fahrt Lenins öffnete gut 400 anderen russischen Sozialist*innen aus verschiedenen politischen Strömungen den Weg in die revolutionäre Heimat, auch und insbesondere jenen, die Lenin bei seiner Abfahrt in Zürich noch verflucht hatten.

Ein Unternehmen wird zum Boomerang

Im Mai und Juni 1917 erlaubten die Deutschen die Durchreise von zwei weiteren und sehr viel größeren Gruppen nach Petrograd. Sie reisten zu genau jenen Bedingungen, die zuvor Lenin der deutschen Verhandlungsseite abgerungen hatte. Aber anders als dieser werden sie sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, mit dem Kaiserreich gemeinsame Sache zu machen.

Die deutschen Behörden entschieden diese Transporte zu organisieren, nachdem, infolge der Reise Lenins, die Entente lautstark überlegte doch Revolutionär*innen über ihr Gebiet nach Russland ausreisen zu lassen. Ohne Zweifel wollten London und Paris für sich die Möglichkeit erhalten auf den unaufhaltsamen Prozess wenigstens Einfluss zu nehmen. Das wiederum wollte Berlin verhindern und ermöglichte zwei weitere Fahrten. Lenins Verhandlungsdurchbruch hatte Mittelmächte und Entente gegeneinander ausgespielt. Ob diese Auswirkungen von Lenin anvisiert waren oder nicht mag man kontrovers diskutieren können, unbestreitbar bleiben sie allemal.

Mehr und mehr wurde nun auch der Reichsleitung unter Bethmann-Hollweg klar, dass man sich über die Absichten der russischen Revolutionär*innen wohl etwas vorgemacht hatte. Der deutsche Gesandte in Bern übermittelte frustriert nach Berlin, dass sich die nach Russland reisenden Revolutionär*innen im Beisein deutscher Unterhändler über die Dummheit der deutschen Behörden lustig machen würden. So habe ein gewisser Marasanek während der Verhandlungen unumwunden erklärt, dass er wie Lenin zu reisen gedenke und wie dieser auch in Petrograd gegen die deutschen Imperialisten zu agitieren vorhabe.

Das Unternehmen der deutschen Reichsleitung, dass eigentlich deren politisches Gewicht gegenüber der OHL stärken sollte, drohte auf diese Weise zum Boomerang zu werden. Die Folgen für den Reichskanzler und andere führende Politiker waren absehbar. Schaut man in die Berichte der deutschen Politiker um Bethmann-Hollweg an Kaiser und Oberste Heeresleitung, so sprechen sie genau diese Sprache: Man versuchte das Unternehmen insbesondere gegenüber OHL und Kaiser als Erfolg darzustellen und frisiert so manchen Bericht. Lenin arbeite „nach Plan“, er sei also beherrschbar, heißt es beispielsweise in einem Schriftstück des Auswärtigen Amtes. Schnell tauchen Berichte darüber auf, er habe Geld von deutschen Stellen empfangen, welches ihm die Herausgabe der Parteizeitung „Prawda“ ermöglichen würde. Bis heute ist von bis zu 100 Millionen Goldmark die Rede, die an Lenin und die Bolschewiki geflossen sein sollen. Lenin sei also korrupt, man habe ihn gekauft; er tanze nach der Pfeife der Reichsleitung in Berlin.

Dergleichen mehr kann man den Akten des Auswärtigen Amtes entnehmen. Dass diese der Wahrheit entsprechen, muss man derweil in Zweifel ziehen. Ein Name fällt immer wieder, wenn es um die angeblichen Geldflüsse von Berlin nach Petrograd geht, Dr. Helphand. Er habe, so die Legende, Lenin das Geld der deutsche Regierung zugeschanzt.

Die Rolle von Dr. Helphand

„Freibeuter der Revolution“ ist der bezeichnenden Name einer Biografie des Dr. Helphand, Deckname Parvus, die bereits 1964 erschien. Dabei ist der Titel des Buches eher irreführend. Mit Revolution hatte Helphand im zweiten Teil seines Lebens nur noch wenig am Hut. Dabei war dieser Werdegang des russischen Sozialisten lange Zeit nicht abzusehen. Er zählte Rosa Luxemburg und Leo Trotzki zu seinem persönlichen und politischen Umfeld; gab Zeitungen heraus und betrieb sozialistische Propaganda.

Doch nach der Niederwerfung der russischen Revolution von 1905/06 ging ein großer Teil der russischen Revolutionär*innen zu Helphand auf Distanz. Zu eigenartig waren seine Geschäfte: Helphand schien immer Geld zu haben. Seine verschiedenen Unternehmungen und Institute betrieben zunächst „Revolutionsmerchandise“ und später mehr und mehr bedenkliche Geschäfte. Auch in Kriegszeiten handelte Helphand mit der deutschen Regierung. Sein Traum war die militärische Niederwerfung der Zarenherrschaft und dafür dachte er sich deutscher Bajonette bedienen zu können. Und ebenso hoffte er auf einträgliche Transaktionen.

Auf dieser Grundlage hatte Helphand schnell sehr gute Beziehungen zum Parteivorstand der deutschen MSPD, der den Kriegskurs der deutschen Regierung unterstützte.

Lenin tat es Trotzki und Luxemburg gleich und distanzierte sich von Helphand. Innerhalb der Bolschewiki erwirkte er einen Beschluss, der es jedem Angehörigen dieser Organisation untersagte sich an den Geschäften Helphands zu beteiligen. Helphand hingegen bemühte sich immer wieder um Kontakt zu Lenin. Dafür reiste er 1915 eigens nach Zürich, wo er nach längerer Suche in einem russischen Restaurant auf Lenin traf. Der estnische Sozialist Arthur Siefeldt erlebte das Treffen mit und beschrieb später, wie Lenin den ungebetenen Besuch kaum zu Wort kommen ließ. Er beschimpfte ihn als Agenten des kriegsbefürwortenden Parteivorstands der MSPD und stellte unmissverständlich klar, dass er keine Übereinkunft mir Helphand wünsche. Der erinnerte sich in seinen Memoiren in gleicher Weise an dieses Gespräch. Dennoch empfahl Helphand, der über erstklassige Beziehungen zum deutschen Auswärtigen Amt verfügte, Lenin immer wieder ungefragt gegenüber der deutschen Reichsleitung. Man kann nur annehmen, dass er hoffte auf diese Weise irgendwann einmal Lenins Dankbarkeit zu erregen oder eine Gegenleistung für diesen „Gefallen“ zu erbitten.

Als Lenin 1917 im Waggon der Deutschen Reichsbahn nach Petrograd fuhr, ließ sich Helphand ausgerechnet von den beiden führenden Köpfen der MSPD, Philipp Scheidemann und Friedrich Ebert, die Vollmacht zu Verhandlungen mit Lenin ausstellen. Der erklärte unumwunden, dass er mit einem Agenten der deutschen Reichsleitung und des Vorstands der MSPD nicht diskutieren werde. Was Helphand seinerseits mit einer wütenden Erwiderung quittierte. Woher Lenin über die Vorgänge hinter den Kulissen derart gut informiert war, wird wohl auf ewig sein Geheimnis bleiben.

Weitere Kontakte zu Dr. Helphand konnten Lenin bislang nicht nachgewiesen werden. Die Spendengeldbeträge, die er einsammelte – auch von Bekannten Helphands – sind durchweg so gering, dass sie auch summiert nicht 100 Millionen Goldmark betragen – nicht einmal annähernd. Dass über Helphand und weitere Zwischenstationen Geld der deutschen Reichsleitung an Lenin geflossen sein könnte erscheint absolut abwegig.

Zwei Kronzeugen bestätigen dies: Helphand selbst und die provisorische Regierung in Russland. Als die provisorische Regierung unter Kerenski im Juli 1917 Jagd auf die Bolschewiki machte, erklärte Helphand mehrmals Lenin kein Geld ausgehändigt zu haben. Auf eine Anfrage der Leipziger Volkszeitung der USPD stellte er gar fest, er finanziere die Bolschewiki deshalb nicht, weil er ein Unterstützer der russischen Revolution sei, was wohl so viel bedeuten sollte, wie dass die Linksradikalen unter Lenin in Helphands Augen eher eine Gefahr für dieselbe darstellen würden.

Könnte man Helphand hier noch das Motiv unterstellen, die Bolschewiki decken und sie gegen den Vorwurf der provisorischen Regierung, sie seien im Grunde kaiserliche Agenten, schützen zu wollen, muss man zur Kenntnis nehmen, dass Helphand von dieser Position auch später nicht abrückte.

Als er ein Jahr nach den stürmischen Juli-Ereignissen in Petrograd ein Buch verfasste, stritt er weiterhin jede finanzielle Transaktionen mit Lenin ab, obwohl es ihn spätestens dann sicher gefreut hätte, Lenin zu diskreditieren, hatte sich doch Helphands Hoffnung, Einfluss in Sowjetrussland zu bekommen, gänzlich zerschlagen, da Lenin weiterhin zu Helphand auf Distanz blieb.

Der zweite Kronzeuge ist die provisorische Regierung unter Kerenski. Zwar formulierte diese im August 1917 eine Anklageschrift gegen Lenin, Sinowjew, Kollontai und andere führende Bolschewiki. Die darin zusammengetragenen Beweise sind jedoch nicht stichhaltig: Aus dem Zusammenhang gerissene Telegramme und Schriftstücke wurden irgendwie kombiniert, genauso wie angebliche Beziehungen zu Helphand.

Dabei hatte sich die provisorische Regierung alle Mühe gegeben Beweise gegen die Partei Lenins zusammenzukratzen. Nach den Ereignissen Ende Juni 1917, als die ArbeiterInnen Petrograds mit bolschewistischen Losungen auf die Straße gingen, in der Hoffnung die gemäßigten Parteien würden auf ihre Aufforderung hin die Macht ergreifen, waren die Bolschewiki das Ziel harter Verfolgungsmaßnahmen durch die provisorische Regierung und des bis vor Kurzem noch zaristischen Staatsapparats. Lenin musste fliehen, Trotzki wurde verhaftet und in die Peter-und-Pauls-Festung verschleppt. Beinahe jedes Parteibüro der Bolschewiki im ganzen riesigen Land wurde durchsucht und verwüstet. Ihr Hauptquartier in Petrograd, die Villa Kscheschinskaja, wurde gestürmt und demoliert. Überall kehrte man das Unterste zum Obersten, verhaftete, verhörte, protokollierte und suchte Belege für die Thesen, die Bolschewiki seien deutsche Agenten, stünden im Sold der Reichsleitung und würden von der OHL unterstützt. Doch man fand im Grunde gar nichts.

Der Justizminister der Regierung Kerenski gab in Kabinettssitzungen hinter verschlossenen Türen unumwunden zu, dass die Beweislage gegen die Bolschewiki äußerst dünn sei. Man könne ihnen weder Agententätigkeit, noch den Erhalt von deutschem Geld nachweisen. Auch darin ist sicherlich einer der Gründe dafür zu suchen, dass bis zum Oktober 1917 nie offiziell Anklage gegen die Bolschewiki erhoben wurde, derer man habhaft geworden war.

Eines darf zudem nicht vergessen werden: Weder das ganz persönliche Leben führender Bolschewiki, noch der Zustand ihrer Partei erlaubten den Schluss, dass sie 100 Millionen Goldmark erhalten hätten! Die Partei und ihre Zeitungen standen das gesamte Revolutionsjahr 1917 hindurch immer wieder nahe an der finanziellen Pleite. Gerettet wurden sie durch umfangreiche Spendensammlungen unter ihren immer mehr werdenden Anhänger*innen.

Warum hält sich das Märchen von der deutschen Hilfe?

Wenn den Bolschewiki eine deutsche (finanzielle) Unterstützung nicht nachzuweisen ist, wieso hält sich das Märchen dann so hartnäckig? Vor allem daher, weil es ein materielles Interesse gibt diese Geschichte immer wieder von Neuem zu erzählen. Wie im Jahre 1917, so gibt es auch heute ein Interesse daran, die Bolschewiki zu diskreditieren: Sie seien nicht nur blutrünstig gewesen, sondern eben auch korrupt. Und – nicht zuletzt – sie hätten allein, ohne dunkle Mächte im Hintergrund, die russischen Massen nie in eine Revolution führen können. Ergo, erfolgreiche Revolutionen sind unmöglich!

Neben dem Interesse der Herrschenden gibt es jedoch einen weiteren Umstand, der das Märchen weiterleben lässt: In einer Zeit, in der sich die Stimmung weltweit polarisiert, sie jedoch – gerade in Europa – wegen des Versagens bzw. Fehlens großer linker Organisationen, nur auf dem rechten Flügel des politischen Spektrums abgebildet wird, glauben viele Menschen schlichtweg nicht, dass Arbeiterinnen und Arbeiter und Bäuerinnen und Bauern, die nie zuvor politische Entscheidungen getroffen hatten, die Macht ergreifen könnten.

Das war zur Zeit Lenins und Trotzkis durchaus ähnlich: Krieg, die Kapitulation der Führung der II. Internationale vor dem Kriegskurs ihrer Regierungen, Massenelend – auch damals glaubten viele Menschen nicht, dass ausgehungerte Massen selbstbestimmt aktiv werden könnten. Und so gediehen auch damals wilde Spekulationen. So auch jene der angeblichen Unterstützung des deutschen Kaisers, der OHL oder der Reichsleitung für die Bolschewiki. Und es war die Zeit kruder Ideen. Beispielsweise jener von Dr. Helphand, der im Bunde mit den Gewehrläufen der imperialistischen deutschen Armee, den Zaren stürzen und gleich noch ein Vermögen verdienen wollte.

Dass sich jedoch die Bolschewiki ihre Hoffnung auf die Aktivität der Massen erhielten, dass sie nicht nach großen Mächten schielten, keine Verschwörungstheorien und irren Einfälle produzierten, war ihr vielleicht größtes Verdienst und ermöglichte die Revolution von 1917. Ganz ohne Märchen.

Literatur

Fischer, Fritz: „Theobald von Bethmann Hollweg (1856–1921)“, in: Wilhelm von Sternburg (Hrsg.): „Die deutschen Kanzler. Von Bismarck bis Kohl“, Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verlag, 1998, S. 87–114.

Hahlweg, Werner: „Lenins Reise durch Deutschland im April 1917“, in: „Vierteljahreshafte für Zeitgeschichte“ (4/1957), München: Deutsche Verlagsanstalt, 1957, S. 307-355.

Ludendorff, Erich: „Meine Kriegserinnerungen 1914-1918“, Berlin: E. S. Mittler & Sohn, 1919.

Mandel, Ernest: „Oktober 1917. Staatsstreich oder soziale Revolution. Zur Verteidigung der Oktoberrevolution“, Köln: ISP-Verlag, 1992.

Nebelin, Manfred: „Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg“, München: Siedler, 2011.

Rabinowitsch, Alexander: „Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917“, Essen: Mehring-Verlag, 2012.

Scharlau, Winfried; Zeman, Zbyněk A.: „Freibeuter der Revolution. Parvus-Helphand. Eine politische Biographie“, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, 1964.

Stern-Rubarth, Edgar: „Graf Brockdorff-Rantzau, Wanderer zwischen zwei Welten: Ein Lebensbild“, Berlin: Reimar Hobbing, 1929.

Trotzki, Leo: „Mein Leben. Versuch einer Autobiografie“, Berlin: Dietz-Verlag, 1990.