Die Folgen eines 32 Milliarden-Diebstahls
„Wer sich nicht damit identifizieren kann, dass in Deutschland weniger Kindergärten gebaut werden, weil wir solche Geschäfte machen, der ist hier falsch“ – ein Zitat, das so bei einem Meeting von Cum-Ex-Investoren in Frankfurt gefallen sein soll.1
Und sollte dieser Satz nicht gesagt, sondern nur gedacht worden sein: Auch egal. Fakt ist, dass 31,8 Milliarden Euro Steuern in der Staatskasse fehlen.2
von Ramone Salander, München
Sie fehlen in den Krankenhäusern.
In denen die zahnlose alte Frau vor ihrem Essen sitzt, bis es unberührt wieder abgeräumt wird – weil unterbezahlte Pflegekräfte auf unterbesetzten Stationen keine Zeit haben sich darum zu kümmern, wo zwischen OP und Station ihr Gebiss verblieben ist. In denen die noch schlechter bezahlte Pflegehelferin die Hilfe der einen Patientin in Anspruch nimmt, um die andere Patientin umzulagern – weil sie nicht weiß wie das geht und niemand da ist, der es ihr zeigen kann.
2,98 Milliarden Euro haben die Krankenhäuser 2017 von den Bundesländern für bestandserhaltende Investitionen erhalten3. 6 Milliarden wären notwendig gewesen4. Die Länder zahlen nicht. Warum? Kein Geld in den Kassen? Notwendige Investitionen müssen über mehr Patienten, kürzere Liegezeiten und geringere Personalkosten refinanziert werden. Dabei hat das System der Fallpauschalen ohnehin schon dazu geführt, dass sich Art und Dauer der Behandlung nicht nur am Patientenwohl orientiert, sondern auch an der die Kosten-Nutzen-Rechnung. Die privaten Krankenhäuser spezialisieren sich auf die rentablen Behandlungen, für die öffentlichen und gemeinnützigen Krankenhäuser bleibt der Rest. Unrentable Geburts- und Kinderstationen werden geschlossen.
31,8 Milliarden Euro fehlen in der Staatskasse. Gestohlen von Banken.
Sie fehlen in den Pflegeheimen.
Wenn ich mich mit Freunden und Bekannten über das Altern unterhalte, höre ich von meinem Gegenüber oft, er wünschte sich schnell zu sterben, später nicht in ein Pflegeheim zu müssen. Diesen Wunsch äußern in der Regel Menschen, die entweder einen nahen Verwandten im Pflegeheim haben, oder selbst in der Pflege arbeiten. Die wissen, wie wenig das fröhliche Werbeplakat der Seniorenresidenz mit der Realität zu tun hat, die sie selbst erwartet, wenn sie als Normalverdiener oder in Grundsicherung zum Pflegefall werden. 80% der Befragten hatten in einer Umfrage des SWR wenig bis gar kein Vertrauen in gute Versorgung im Pflegeheim.5 Wie viel Prozent von uns werden trotzdem dort enden?
7,6 Milliarden Euro zusätzlich bringt die Beitragserhöhung der Pflegeversicherung ab Januar6. Etwas mehr Geld für bessere Pflege, finanziert durch höhere Beiträge, weil das Geld in den Pflegekassen nicht ausreicht, um gute Pflege zu finanzieren. Während die Hälfte der Pflegeheime mittlerweile privatisiert sind und sich die Betreiber über lukrative Renditen freuen7. Und die Aktionäre natürlich.
31,8 Milliarden Euro fehlen in der Staatskasse. Gestohlen von Wirtschaftsanwälten.
Sie fehlen im Wohnungsbau.
Geht die 62 jährige Pflegehilfskraft sonntags nach ihrem Schichtdienst nach Hause, dann ist das die Mitarbeiter-WG des Altenheims, für das sie arbeitet. Eigentlich für Azubis gedacht – aber mit ihrem Einkommen in München eine Wohnung zu finden, war nicht möglich. Geht die Pflegehilfskraft in Rente, geht sie in die Grundsicherung, muss aus ihrer Wohnung ausziehen, und kann einen Antrag auf Sozialwohnung stellen. Auf dem zuständigen Amt in München liegen 24.000 Anträge von Menschen, die auf eine Sozialwohnung hoffen. Pro Jahr werden 3.200 Wohnungen frei.8 Nur wer Dringlichkeitsstufe 1 hat, wird für diese überhaupt in Betracht gezogen. Etwa 12.000 Anträge haben Dringlichkeitsstufe 1. Die Zahlen sind von 2016. Seither sind sie nicht besser geworden und werden es auch in Zukunft nicht – trotz des „finanziell größten kommunalen wohnungspolitischen Handlungsprogramms Deutschlands“9. Der zusätzlich geschaffene Wohnraum entspricht dem erwarteten Bevölkerungswachstum der Stadt. Die bestehende Lücke bleibt. Oder wird größer. Denn es fallen mehr Sozialwohnungen aus der Bindung, als neue entstehen. Und das gilt bundesweit.10
5 Milliarden Euro will der Bund innerhalb von 4 Jahren in den Bau von 100.000 Sozialwohnungen investieren. (Wobei für eine echte Sozialwohnung nur die reine Kostenmiete verlangt werden dürfte, unbefristet). Laut Mieterbund müssten pro Jahr 80.000 bis 100.000 Sozialwohnungen pro Jahr gebaut werden.11
31,8 Milliarden Euro fehlen in der Staatskasse. Gestohlen von Investoren.
Diese Auflistung von Missständen ließe sich noch lange, lange weiterführen. Bis den einen die Lust zum Lesen vergeht, den anderen die Lust am Leben.
Ach ja, woher soll das Geld denn kommen? Diese Frage, dieses Argument mit dem jede ‚utopische‘ Forderung dieser ‚realitätsfremden, linken Idealisten‘ nach Investitionen in den Sozialstaat bedauernd abgewiesen wird. Würdige Existenzsicherung statt Hartz VI, Renovierung von Schulen, kostenloser öffentlicher Nahverkehr. Ach, woher soll das Geld nur kommen.
Immer eine Verteilungsfrage, immer eine Frage der Prioritäten, der Macht, des Systems.
„Und der arme sagte bleich, wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ (Bertolt Brecht)
1 Vice, 22.10.2018: https://www.vice.com/de/article/3kmm4j/cum-ex-steuergelder-warum-es-ok-ist-dass-wir-das-leben-von-superreichen-finanzieren
2 Junge Welt, 19.10.2018: https://www.jungewelt.de/artikel/341899.grauzone-des-finanzmarkts-31-milliarden-euro-schaden-für-brd-fiskus.html?sstr=cum%7Cex
3 ZDF, 10.02.2018: https://www.zdf.de/nachrichten/heute/krankenhausfinanzierung-laender-investieren-zu-wenig-100.html /Zahlen zu 2016 und beim VdeK: https://www.vdek.com/presse/daten/d_ausgaben_krankenhaus.html
4 GKV, Pressemitteilung 28.03.2018: https://www.gkv-spitzenverband.de/gkv_spitzenverband/presse/pressemitteilungen_und_statements/pressemitteilung_680448.jsp
5 infratest dimap, Feb. 2018: https://www.infratest-dimap.de/de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/buerger-haben-wenig-vertrauen-in-pflegeeinrichtungen/
6 https://www.jungewelt.de/artikel/341395.pflegekrise-kabinett-billigt-anhebung-des-pflegebeitrags.html?sstr=pflege
7 ARD: https://www.zdf.de/nachrichten/heute/private-investoren-bei-deutschen-pflegeheimen-100.html / Themenkomplex Pflegeversicherung: ZDF Die Anstalt, 05.12.2017: https://www.youtube.com/watch?v=NdfaNJZRGag,
8 Stadtverwaltung München, Stand 29.10.2018: https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Sozialreferat/Wohnungsamt/Sozialwohnung.html
9 Stadtverwaltung München, Stand 29.10.2018: https://www.muenchen.de/aktuell/2017-07/broschuere-handlungsprogramm-wohnen-in-muenchen-vi-erschienen.html
10 Junge Welt: https://www.jungewelt.de/artikel/337333.profite-mit-der-miete-auf-dem-freien-markt.html?sstr=sozialerwohnungsbau
11 Mieterbund: https://verein2000.mieterbund.de/presse/pressemeldung-detailansicht/article/46377-wohngipfel-im-kanzleramt-wenig-neues-absichtserklaerungen-und-altbekannte-vorschlaege.html