Antwort auf die Vorwürfe des Wagenknecht-Lagers
Am 4. September wurde die neue linke „Sammlungsbewegung“ von der Fraktionsvorsitzenden der LINKEN und anderen offiziell gegründet. Bereits im Juni hatte Sahra Wagenknecht dies in einem Gastbeitrag für die Welti beschrieben, in dem sie darstellt, wie ihrer Meinung nach „der Unmut wieder eine progressive Stimme bekommt“.
von Linda Fischer
Eine öffentliche Debatte löste sie mit einigen Aussagen aus, die Interpretationsspielraum ließen: „ Progressive liberale Werte wie Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz“ seien „ein Wohlfühl-Label um Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren“ii. Oskar Lafontaine hatte verlautbart: „Wer den Sozialstaat diffamiert und das Credo der multinationalen Konzerne „no nations, no border“ nachplappert, ist ein Trottel des Neoliberalismus.“ Wie sind die Aussagen von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine einzuschätzen? Gibt es die Gefahr, dass Linke in eine „No Border-“ oder „Wohlfühl-Neoliberalismus-Falle“ tappen?
Worum geht es dem Wagenknecht-Lager?
Richtigerweise betont Sahra Wagenknecht, dass sich die Situation für einen größeren Teil der Bevölkerung in Deutschland verschlechtert hat, dass die Unsicherheit wächst, die etablierten Parteien keine Antworten darauf haben und dass Menschen sich von der Politik entfernen, die nur im Interesse der Reichen agiert. Natürlich muss sich DIE LINKE fragen, wieso – besonders in Ostdeutschland – so viele Menschen die AfD gewählt haben, wieso DIE LINKE nicht mehr vom Niedergang der SPD profitiert und wie eine Politik im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt werden kann. Das Problem sind die Antworten von Sahra Wagenknecht: Zwar klagt sie einerseits die jahrelange neoliberale Politik an, wo Milliarden für die Rettung von Banken und Konzernen ausgegeben oder in Steueroasen verfrachtet wurden. Doch gleichzeitig stellt sie in Interviews und Statements einen Interessengegensatz innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen her: Ob zwischen Geflüchteten und hier geborenen Menschen, oder zwischen sogenannten Minderheiten gegenüber sozial Abgehängten.
Auch wenn nicht direkt behauptet wird, dass Flüchtlinge und diskriminierte Minderheiten schuld an der sozialen Misere seien, so haben viele Aussagen des Wagenknecht-Lagers die Wirkung, dass unterschiedliche Teile der Arbeiterklasse gegeneinander ausgespielt werden, anstatt für gemeinsame Organisierung und den Kampf aller Lohnabhängigen und Benachteiligten – unabhängig von Nationalität, Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung und Geschlecht – zu kämpfen. Es wird sich öffentlich für Zuwanderungsbeschränkungen ausgesprochen und die Forderung nach offenen Grenzen mit dem angeblichen Credo der multinationalen Konzerne „no nations, no border“ gleichgesetzt. Ein solches Credo gibt es nicht. In Wahrheit haben die Konzerne ein Interesse an einer kontrollierten Einwanderungspolitik, die ihren Profitinteressen entspricht. Wie diese konkret aussieht, hängt von der jeweiligen konjunkturellen Lage ab. Tatsächlich hat das deutsche Kapital zur Zeit ein Interesse an einer begrenzten Zuwanderung von Arbeitskräften. Entsprechend ist Angela Merkels Politik ein Versuch, dem gerecht zu werden, und alles andere als eine Politik der „offenen Grenzen“. In Wahrheit wurde das Recht auf Asyl durch eine Reihe von Gesetzesänderungen immer weiter eingeschränkt. Es geht allein um die Verwertbarkeit von Zugewanderten im Sinne des kapitalistischen Profitstrebens – und nicht um Menschlichkeit. All das ist genauso im Interesse der Konzerne und Banken, dies wird aber von Wagenknecht und Lafontaine nicht benannt.
Das Wagenknecht-Lager scheint die Idee zu verfolgen, dass der Bevölkerung linke Ideen dadurch schmackhaft gemacht werden können, dass Vorschläge für mehr soziale Sicherheit an rückschrittliche Vorstellungen und Propaganda der Rechten anknüpfen, garniert mit etwas Nationalismus und der Aussage, dass die Interessen „deutscher“ benachteiligter Schichten gegen andere Teile der Arbeiterklasse durchgesetzt werden müssten. In diesem Zusammenhang passt es, dass Lafontaine behauptet, dass die faktische Abschaffung des Asylrechts Anfang der neunziger Jahre die rechtsradikalen Republikaner zurückgedrängt hätte, und dazu schweigt, dass es der antifaschistische Widerstand, die massenhaften antirassistischen Mobilisierungen nach den Brandanschlägen waren, die tatsächlich zu einer Eindämmung der Rechten geführt haben. Er ignoriert auch, dass die AfD gerade deshalb stärker wird, weil in der Öffentlichkeit nur über Geflüchtete als „Problem“ gesprochen wird, um davon abzulenken, wer die Fluchtursachen mitzuverantworten hat, wer dafür sorgt, dass es zu wenig günstigen Wohnraum gibt und wer für Sozialabbau und miese Jobbedingungen verantwortlich ist.
Minderheitenschutz = Wohlfühl-Label?
Sahra Wagenknecht ist geschickt in ihrer Argumentation, denn Sie spricht zum Teil richtige gesellschaftliche Probleme an. Aber auch in Bezug auf den Kampf gegen Sexismus und die LGBT+-Bewegung knüpfen ihre Aussagen an rückschrittlichem Bewusstsein an. So spricht sie davon, dass progressive linksliberale Werte von Neoliberalen als „Wohlfühl-Label“ gekapert werden und durch einen so genannten Policy Mix die „Ehe für alle, und sozialer Aufstieg für wenige“ erreicht worden sei.iii Was es tatsächlich gibt, ist das sogenannte Pinkwashing, gegen das sich die politisierten Schichten der LGBT+-Community zu Recht wehren. Pinkwashing beschreibt die Instrumentalisierung der LGBT+-Bewegung für kommerzielle oder politische Zwecke, also geheuchelte „Homofreundlichkeit“ für die eigenen politischen oder kommerziellen Ziele. Das ist ein internationales Phänomen. Auch in Deutschland nutzen Unternehmen und die etablierten Parteien zum Beispiel die Kommerzialisierung des Christopher Street Days, um sich als „homofreundlich“ darzustellen, während allzuhäufig gleichzeitig Beratungsangebote gekürzt werden.
Sahra Wagenknecht geht es aber nicht vor allem um Argumente gegen Pinkwashing. Ihre Aussagen suggerieren, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Ausbau von Rechten diskriminierter Gruppen und wachsender Ungleichheit gebe: „Im Ergebnis dieses Policy Mix wurden einerseits die Rechte vormals ausgegrenzter und diskriminierter Minderheiten real gestärkt, andererseits wächst die Ungleichheit und schmilzt der Wohlstand der Mitte.“iv Anstatt die angeblichen Trennlinien zu betonen, ist es die Aufgabe der LINKEN den Kaperversuch der Neoliberalen zu entlarven und die Notwendigkeit zu betonen, den Kampf gegen Homophobie, Sexismus, Rassismus mit der sozialen Frage zu verbinden.
Frauenrechte und LGBT+-Rechte wurden erkämpft und waren kein Geschenk von oben. Natürlich hat beispielsweise die Frauenquote in Aufsichtsräten und bürgerlichen Parteien keinen positiven Einfluss für die Mehrzahl der weiblichen Bevölkerung. Das sollte uns als Linke aber gerade dazu bewegen, für wirkliche Verbesserungen im Interesse des weiblichen Teils der Arbeiterklasse aktiv zu sein. In Irland konnte das Abtreibungsverbot gekippt werden. Dies hat tausende von jungen Frauen aktiviert und verbessert die Bedingungen für weitergehende Kämpfe gegen Unterdrückung, Diskriminierung und gegen die Ausbeutung durch das kapitalistische System. Es zeigt ganz deutlich: der Kampf gegen Diskriminierung bedeutet nicht, dass soziale Fragen in den Hintergrund geraten, sondern kann diese im Gegenteil beflügeln und die Spaltung in Frauen und Männer, Deutsche und Nichtdeutsche zurückdrängen. Der überwältigende Teil der LGBTI+ Community, der Frauen, der MigrantInnen ist Teil der Arbeiterklasse. Dafür ist es notwendig, dass wir als SozialistInnen diese Kämpfe mit anstoßen und unterstützen, und nicht den (klein)bürgerlichen Kräften das Feld überlassen.
No Border = Neoliberalismus?
Sahra Wagenknecht warnt davor, dass eine linke Bewegung nicht in die „No Border-Neoliberalismus-Falle“ tappen dürfe, indem sie zunehmende Konkurrenz um Niedriglohnjobs mit globaler Solidarität verwechsele. Es ist richtig, nicht zuzulassen, dass Migration als Ausrede benutzt wird, um Löhne zu drücken und Mieten zu erhöhen. Wagenknecht tut jedoch so, als gebe es einen Automatismus, als ob Einwanderung automatisch zu Verschlechterungen der Lebensbedingungen für Teile der einheimischen Arbeiterklasse führen müsse. Eine solche Argumentation spaltet die Arbeiterklasse, verwirrt das Bewusstsein und ist schlicht falsch! Das ist eine Gefahr für die Linke und die Arbeiterbewegung.
Stattdessen muss deutlich gemacht werden: Die kapitalistische Gesellschaft schafft die Bedingungen, in denen ein Mangel geschaffen wird. Die Profitlogik führt dazu, dass Wohnraum immer teurer wird oder Gesundheit und Bildung zur Ware werden. Inwieweit wir es schaffen, Reformen im Interesse der Arbeiterklasse durchzusetzen, hängt vom Kräfteverhältnis ab und nicht davon wie viele Geflüchtete nach Deutschland kommen. Um das Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten zu verschieben, ist ein gemeinsamer Kampf von allen hier lebenden Menschen der Arbeiterklasse notwendig, egal welcher Herkunft, Religion, Geschlecht oder sexuellen Orientierung.
Statt über Zuwanderungsbeschränkungen zu debattieren, ist es notwendig, sich für die gewerkschaftliche Organisierung aller hier lebenden Menschen und für gemeinsame Kampagnen gegen Niedriglohn oder die Aushöhlung des Sozialstaats einzusetzen. Ein posivites Beispiel war, als eine Gruppe von Geflüchteten, „Lampedusa in Hamburg“, 2013 vor diesem Hintergrund in ver.di eintraten und – was zunächst ein Kampf war – von einem Fachbereich in ver.di aufgenommen wurden, verbunden mit der Forderung nach dem Recht arbeiten zu dürfen . Dieser konkrete Schritt hat deutlich gemacht, wie man dem Versuch einer Spaltung der Arbeiterklasse entgegentreten kann und hat die ver.di-Bürokratie herausgefordert.
Sahra Wagenknecht hat auf verzerrte Weise Recht, wenn sie rein moralisch begründete Forderungen kritisiert. Sie hat auch recht, wenn sie sagt, dass die Fluchtursachen beseitigt gehören. Aber es ist absolut falsch, diese Aussage mit der Notwendigkeit einer Begrenzung der Einwanderung zu verknüpfen, und die Zuwanderung als Ursache von sozialen Problemen anzuführen. Linke müssen gegen dieses Ablenkungsmanöver argumentieren, anstatt es zu unterstützen. Es ist sicher richtig, dass der Begriff „offene Grenzen“ nicht am Bewusstsein einer Mehrheit der Arbeiterklasse anknüpft. Wohl aber ist es vermittelbar, die Rücknahme bestehender diskriminierender Gesetze, Bleiberecht für alle und gleiche Rechte zu fordern, legale Fluchtwege und für ein wirkliches Asylrecht einzutreten.
Es ist ein Fortschritt und Zeichen der Solidarität, wenn sich Teile der Arbeiterklasse für ein Bleiberecht für Alle einsetzen, oder gegen die Politik der EU, die jährlich Tausende Tote im Mittelmeer zu verantworten hat. Diese Teile zu ignorieren oder als Handlanger des Neoliberalismus darzustellen ist falsch und fatal. Richtig ist es, eine Brücke zu schlagen und für weitergehende Forderungen zu argumentieren. Innerhalb der LINKEN und in den Bewegungen dafür zu kämpfen, dass die Forderungen Refugees Welcome oder Bleiberecht für Alle einhergehen mit der Forderung den gigantischen privaten Reichtum dafür zu nutzen, für die nach Deutschland kommenden Geflüchteten und die hier lebende Bevölkerung gute Löhne, gute günstige Wohnungen und eine funktionierende Infrastruktur und Sozialleistungen zu finanzieren. Dass die Fluchtursachen wie Krieg, Armut und Umweltzerstörung, bekämpft werden müssen, damit Menschen nicht gezwungen sind aus ihren Ländern zu fliehen. Dass die neoliberale, undemokratische und militaristische EU und die mörderische Politik von Frontex grundsätzlich abzulehnen sind. Dass wir letztlich das kapitalistische System weltweit abschaffen müssen, um die Grundlage für Armut, Kriege, Unterdrückung zu beseitigen.
Wie kann die LINKE Unterstützung gewinnen?
Eng verbunden mit den Vorwürfen zu „no Border-Neoliberale“ und „Wohlfühl-Linke“ aus dem Wagenknecht-Lager, ist die Kritik, dass DIE LINKE die abgehängten, sozial benachteiligten Schichten an WählerInnen verloren hat und die neue Wählerbasis im Westen aus linksliberalen BildungsbürgerInnen der „hippen, urbanen Szeneviertel“ bestehe. Die neuen Wählerschichten der LINKEN sind aber keine bürgerliche Yuppies. Tatsächlich hat DIE LINKE im Westen eher in Wahlkreisen mit geringerem Einkommen gewonnen. Auch der Zuspruch bei Gewerkschaftsmitgliedern, vor allem unter Angestellten und Frauen hat zugenommen. Das beinhaltet auch Beschäftigte im Dienstleistungsbereich, und Teile der akademischen Angestellten oder Scheinselbstständigen. Der Vorwurf, dass DIE LINKE von diesen Schichten aus bürgerlicher Attitüde oder allein wegen linksliberalen Ideen gewählt wurde, ist haltlos. Diese Schichten haben DIE LINKE gewählt, weil auch sie betroffen sind von hohen Mieten, prekären Arbeitsverhältnissen, und fehlenden Investitionen in Bildung, Kitas und allen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Richtig ist, dass DIE LINKE ihr Potenzial nicht ausschöpft. Sie ist weder in den abgehängten noch den industriellen Schichten der Arbeiterklasse verankert. Dass DIE LINKE dieses nicht geschafft hat, liegt neben objektiven Faktoren wie relativ wenig sozialen Bewegungen und betrieblichen Kämpfen auch an subjektiven Schwächen. Die Verluste in Ostdeutschland und die Stärkung der AfD sind eine Warnung. Vor allem in Ostdeutschland wird DIE LINKE (zu Recht) als Teil des Establishments wahrgenommen. Dort, wo sie rein auf parlamentarische Arbeit orientiert und Bündnisse mit Grünen und SPD eingeht, kehren ihr Teile der Arbeiterklasse enttäuscht den Rücken zu, wenn DIE LINKE in kapitalistischen Regierungen mitverantwortlich für die Verwaltung des Mangelzustands, für Sozialabbau, Privatisierungen und Abschiebungen ist. Da ist es kein Wunder, dass sie an Glaubwürdigkeit verliert und nicht als Alternative wahrgenommen wird.
Das Bedürfnis eines neuen Aufbruchs in Richtung konsequenter linker Politik ist nachvollziehbar. Die inhaltlichen Äußerungen des Wagenknecht Lagers – ob als LINKE oder InitiatorInnen von „aufstehen“ – stellen aber keinen Aufbruch dar. Sie sehen sich nicht in erster Linie als GegnerInnen einer angepassten, auf Parlamentarismus orientierten LINKEN. Stattdessen greifen sie die Migrationsdebatte so auf, dass AfD-WählerInnen sich bestätigt fühlen. Menschen, die wegen der Flüchtlingsfrage AfD wählen, werden sich davon nicht abhalten lassen, wenn auch Teile der LINKEN – mit weniger Wucht – in die gleiche Kerbe schlagen. Und prominente dazukommende UnterstützerInnen von „aufstehen“, wie der Vize-Chef der Hamburger Handelskammer, zeugen gelinde gesagt nicht gerade von einem Anti-Establishment-Profil.
Statt „Wohlfühl-Linke-Debatte“ brauchen wir eine LINKE, die unangepasst ist und den Finger in die Wunde legt, die aufdeckt, dass SPD und Grüne seit langem Politik im Interesse der oberen Zehntausend machen. Eine LINKE, die sofort reagiert, Proteste anmeldet und massiv dafür mobilisiert, wenn der rechte Mob sich formiert. Eine LINKE, welche die gemeinsamen sozialen Interessen in den Vordergrund stellt, die aktiver Teil ist der gewerkschaftlichen Kämpfe, antirassistischen Bewegungen und Mieterproteste und zum organisatorischen Kristallisationspunkt für AktivistInnen wird. Eine LINKE, die auf allen Ebenen demokratisch über Programm und Aktionen diskutiert. Eine LINKE, die die Ursachen für prekäre Arbeit, Arbeitslosigkeit, Armut, Krieg, Umweltzerstörung, Sexismus, Unterdrückung benennt und die Kämpfe dagegen mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft verbindet. Eine solche LINKE hätte tatsächlich das Potenzial die AfD erfolgreich zu bekämpfen und eine neue Bewegung aufzubauen.
Linda Fischer ist Mitglied im Bundesvorstand der SAV. Sie lebt in Hamburg.