Neues Buch von Bernd Riexinger
Manche Bücher über Arbeitsbedingungen und Klassenpolitik sind entweder so akademisch, dass man nach zwanzig Seiten die Lust am Lesen verliert, oder eine solche ökonomistische Aneinanderreihung von Fakten, dass man nach der zehnten Statistik die neunte schon wieder vergessen hat. Nicht so das neue Buch des LINKE-Vorsitzenden Bernd Riexinger: Es ist faktenreich, hochaktuell, locker geschrieben und lesenswert.
Von Lucy Redler
Bernd Riexingers vertritt die These, dass die Arbeiter*innenklasse trotz veränderter Zusammensetzung weiter existiert. Damit widerspricht er dem Versuch, einer Klassenanalyse die Einteilung der Gesellschaft in Milieus entgegenzustellen, und Behauptungen, das Prekariat sei eine neue Klasse bzw. Klassen seien insgesamt verschwunden.
Riexinger führt aus, dass die Klasse heute „weiblicher, migrantischer und häufiger im Dienstleistungsbereich und in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig [ist] als noch vor 30, 40 oder 50 Jahren.“ Für ihn zählen all jene zur Arbeiter*innenklasse, die „ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und in ihrer Stellung in den Betrieben keine unternehmerische Funktion ausüben.“ Das seien nicht nur jene, die direkt Mehrwert produzieren, sondern auch Arbeiter*innen und Angestellte, die „unproduktive Arbeiten“ erfüllen und damit die Voraussetzung für die Mehrwertproduktion schaffen.
Für eine inklusive Klassenpolitik
Faktenreich werden die Umbrüche in der Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse von der industriell geprägten Klasse bis zur heutigen fragmentierteren Klasse beschrieben, deren Mitglieder stärker im Dienstleitungssektor beschäftigt sind und mit Leiharbeit, Werkverträgen, Mini- und Midijobs und Soloselbstständigkeit zu kämpfen haben.
Riexinger führt zurecht aus, dass diese Schichten der Klasse eine wichtigere Rolle in Kämpfen und Streiks spielen. Das stimmt, doch hätte es dem Buch gut getan, wenn er auf die zentrale Rolle der Industriearbeiterklasse und die von Sozialpartnerschaft geprägte Politik der Führungen der Industriegewerkschaften mehr eingegangen wäre
Aufgrund der neuen Differenziertheit sei, so Riexinger, eine neue, inklusive Klassenpolitik nötig. Dabei dürfen Linke den Einsatz für Minderheiten nicht gegen die Klassenfrage ausspielen: „Die Kämpfe gegen rassistische Gewalt und Gewalt gegen Frauen, für das Bleiberecht für alle Verfolgten und für geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung gehen nicht nur die Betroffenen an. Sie sind Teil des Klassenkampfes.“ Das Kapitel zu Identitätspolitik und Klasse ist nicht nur, aber auch als aktuelle Auseinandersetzung mit den Gründer*innen von „Aufstehen“ zu lesen.
Erneuerung der Gewerkschaften
Bernd Riexinger verarbeitet seine eigenen Erfahrungen als Bankangestellter und als linker Gewerkschaftssekretär und mit den dynamischen Bewusstseinsprozessen von Kolleg*innen und der Demokratisierung von Auseinandersetzungen. Das Buch fordert dazu auf, die Gewerkschaften zu erneuern, und zu wirklichen Klassenorganisationen mit politischem Mandat zu machen. Es legt dar, dass Klassenbewusstsein durch Erfahrungen und deren bewusste Verarbeitung entsteht. Erfrischend plädiert der Autor dafür, Streiks und Kämpfe zu demokratisieren und nicht nur auf Alltagsforderungen zu beschränken, sondern mit „weitreichenden Vorstellungen einer anderen Gesellschaft jenseits von Ausbeutung und Kapitalismus zu verbinden“. Seine Analyse des Verhältnisses von Führung und Basis ist jedoch kritikwürdig. Es fehlt eine kritische Bewertung der Gewerkschaftsbürokratie als einer an hierarchischen Strukturen und sozialem Frieden interessierten Schicht innerhalb der Gewerkschaften und damit die Schlussfolgerung, eine handlungsfähige und organisierte Gewerkschaftslinke als Alternative zur derzeitigen Führung aufzubauen.
Systemalternative
Der Ansatz, um zu einer anderen, einer demokratisch sozialistischen Gesellschaft zu gelangen ist ein „transformatorischer“, kein revolutionärer. Es wird auf das Konzept der Wirtschaftsdemokratie zurückgegriffen, welches in den 1920er Jahren schon in der Arbeiterbewegung diskutiert wurde und für Wirtschaftsräte argumentiert, „die über die Rahmenplanung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung demokratisch entscheiden“ sollen. Die Vorstellung, dass die politische Macht in die Hände der Klasse, um die sich das Buch dreht, schrittweise gelangen kann, widerspricht jedoch aller historischen Erfahrung.
Kämpfe verbinden
Riexinger beschreibt wie mit der Veränderung der Zusammensetzung der Klasse auch neue Schichten in den Kampf treten und Streiks vermehrt im privaten und öffentlichen Dienstleistungssektor stattfinden. Er erzählt von mutmachenden Kämpfen der Erzieher*innen, der Beschäftigten der Charité und der Kolleg*innen bei Amazon. Er argumentiert dafür, verbindende Kämpfe zu schaffen durch Forderungen nach der Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro, die Verallgemeinerung der Tarifbindung, den Kampf um Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich und Personalbemessung in der Pflege.
Es ist ein großer Fortschritt, wenn in der LINKEN wieder offensiv über Klassenpolitik diskutiert wird und mit den Kampagnen zu Pflege und Mieten eine Umsetzung in der Praxis angestrebt wird. Es gilt darum zu kämpfen, dass diese Diskussionen und Kampagnen zu einem prägenden Charakteristikum der Partei werden – denn die Praxis der Partei sieht oftmals noch anders aus.
Lucy Redler ist Bundessprecherin der SAV und Mitglied im Parteivorstand der LINKEN
Bernd Riexinger, Jahrgang 1955, ist Bundestagsabgeordneter und seit 2012 einer der beiden Vorsitzenden der Partei DIE LINKE. Zuvor war er viele Jahre Geschäftsführer des Bezirks Stuttgart von ver.di. Sein Buch „Neue Klassenpolitik“ ist im September 2018 im VSA Verlag erschienen.
Bernd Riexinger: Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen. VSA Verlag Hamburg, 160 S., 14,80 €
https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/neue-klassenpolitik/