Proteste in Kassel gegen Kriminalisierung von Ärztinnen
In Kassel standen am 29. August die Frauenärztinnen Natascha Nicklaus und Nora Szász vor dem Hessischen Landesgericht. Ihnen wird vorgeworfen gegen den §219a verstoßen zu haben. Dieser verbietet Ärzt*innen mit Schwangerschaftsabbrüchen zu “werben”. Dabei hatten die beiden auf ihrer Praxis-Homepage lediglich in einem Spiegelstrich darauf hingewiesen, dass Schwangerschaftsabbrüche ebenfalls zu ihren Leistungen zählen.
von Anne Engelhardt, Kassel
Schon um kurz nach acht Uhr hatten sich 400 Menschen vor dem Hessischen Landesgericht in Kassel versammelt. Sie protestierten mit bunten Plakaten –„In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?!“ – und alle halbe Stunde wurden vor dem Gerichtsgebäude auf einer kleinen Bühne Reden gehalten. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende und frauenpolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag Cornelia Möhring sprach über das Jahrhunderte alte Tabu der ungewollten Schwangerschaft, das bis heute anhält. Etwas peinlich war der Auftritt der SPD-Vertreterin; immerhin hatte ihre Partei die Abschaffung des §219a zugunsten des Zustandekommens der GroKo verhindert. Gleichzeitig nutzte sie die Bühne schamlos für den hessischen Wahlkampf, was wenig honoriert wurde. Der Sitzungssaal war mit siebzig Sitzen voll belegt. Auch die bereits zu 6000 Euro Strafe verurteilte Ärztin Kristina Hänel aus Gießen leistete ihren Kolleginnen Beistand. Es ist paradox, dass mit der aktuellen Regelung Ärzt*innen zwar erlaubt wird, den Eingriff vorzunehmen, sie darüber aber nicht informieren dürfen.
Versorgung sinkt rapide
Wenige Tage vor dem Gerichtstermin bestätigte die Bundesärztekammer, dass die Zahl der Ärzt*innen, die Abbrüche durchführen, aufgrund der Klagewelle im Sinne des §219a, seit 2003 um vierzig Prozent auf 1200 gesunken sei. So soll es beispielsweise in Städten wie Passau, Göttingen und Münster jeweils nur noch eine einzige Ärzt*in geben, welche die Leistung anbietet. Diese sind jeweils jedoch bereits oder fast schon in Rente. Sie machen weiter, weil es keinen Nachwuchs gibt. Ohne Frage: Bei der Verhandlung am 29. August in Kassel ging es um mehr als nur um zwei Ärzt*innen und das was sie auf ihrer Webseite schreiben. Es geht um den Eingriff in gesundheitliche Versorgung bundesweit.
Befangenheit des Richters
Die Verhandlung endete ergebnislos. Die Verteidigung erhob gegen den Richter Riekmann einen Befangenheitsantrag. Über diesen wird momentan entschieden. Riekmann lehnte zwei Beweisanträge zur Verteidigung der Ärzt*innen ab. Darunter war unter anderem die Aussage eines Sachverständigen, die beweisen sollte, dass der §219a Schwangerschaften nicht verhindere, sondern nur die betroffenen Mediziner*innen kriminalisiere. Riekmann meinte, er wolle nicht den §219a selbst bewerten, sondern ihn anwenden. Aber genau das ist momentan die strittige Frage: Wer steht eigentlich vor Gericht? Ein Paragraph, der 1933 im Faschismus erlassen wurde, um Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführten, zu kriminalisieren? Oder die beiden Kasseler Ärzt*innen und alle, die diesen Paragraphen für reaktionär halten?
Geht es ums Geld?
Tatsächlich, so die Aussage der Ärzt*innen, wenn es um die Frage des Gewinns ginge, würden Schwangerschaftsabbrüche selbstverständlich viel weniger einbringen, als die Begleitung einer Schwangerschaft und Entbindung. Das Argument, dass sie sich bereichern wollen würden, sei daher absurd.
Schwangerschafts-
abbrüche legalisieren!
Insgesamt weist die Debatte um den §219a darauf hin, dass wir in Bezug auf die Selbstbestimmung über den eigenen Körper wieder sehr weit zurückgeworfen wurden. Sie zeigt auch, dass soziale Rechte wie Selbstbestimmung und flächendeckende medizinische Versorgung sich langfristig nur durch einen Bruch mit dieser sexistischen und patriarchalen Klassengesellschaft durchsetzen lassen.
Neben dem §219a muss vor allem der §218 abgeschafft werden. Denn Schwangerschaftsabbrüche sind immer noch illegal, was religiösen und reaktionären Fanatiker*innen in die Hände spielt und den Unikliniken ermöglicht, das heikle Thema ganz vom Stundenplan zu streichen. Glücklicherweise wurde ein Teil angehender Mediziner*innen durch die Gerichtsurteile wachgerüttelt. Sie organisieren sich selbst, um sanfte Methoden des Schwangerschaftsabbruchs zu erlernen oder melden sich bei bekannt gewordenen Ärzt*innen, um bei ihnen “in die Lehre” zu gehen.
Die Gießener Ärztin Kristina Hänel will gegen §219a demnächst vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Wir werden die Proteste weiterhin begleiten und unterstützen.