Solidarität gegen Rassismus statt Ausgrenzung!
Özil hat Recht. Nicht, was sein Fotoshooting mit Erdoğan angeht. Das war großer Mist und seine aktuelle Erklärung, es ginge ihm nicht um die politische Unterstützung, sondern um Respekt für das höchste Amt seines Herkunftslandes, ist bestenfalls naiv. Immerhin war der Inhaber dieses Amtes zum Zeitpunkt der Aufnahme damit beschäftigt, seinen Wahlsieg zu sichern, um sein autoritäres Regime zu stabilisieren, samt der militärischen Besetzung der Region Afrin (Nordsyrien) und zehntausender politischer Gefangener.
von Claus Ludwig, Köln
Özil hat allerdings Recht, wenn er die Doppelmoral des DFB, der Konzerne und der Politik anspricht. Viele, die ihn kritisiert haben, haben dies nicht getan, weil Erdoğan ein Despot ist. Sie haben nur eine Gelegenheit genutzt, um rassistische Stimmung zu machen und um von einer wirklichen Aufarbeitung des Scheiterns der Nationalmannschaft abzulenken. Und auch weil sie keine türkischstämmigen Spieler in der deutschen Nationalmannschaft wollen. Weil sie diese nur akzeptieren, wenn sie sich deutscher geben als die Deutschen, die Hymne schmettern und nicht zu ihrer Herkunft stehen.
Als Merkel Erdoğan kurz vor der türkischen Parlamentswahl 2015 zu einem Händeschüttel-Termin traf und ihn damit unterstützte, wurde dies keineswegs skandalisiert. Mesut Özil hat dem Regime in der Türkei weit weniger geholfen, als deutsche PolitikerInnen aller etablierten Parteien, die seit Jahrzehnten sicherstellen, dass der Krieg in Kurdistan mit deutschen Waffen und deutschem Geld geführt werden kann, weit weniger als deutsche Polizei und Justiz, die zur Zufriedenheit der türkischen Regierung gegen die kurdische Bewegung vorgehen.
Fouls in der Nachspielzeit
Vor der WM haben die DFB-Funktionäre klare Worte in Richtung Özil und Gündoğan vermieden. Bierhoff und Löw nuschelten was von demokratischen Werten, aber eine öffentliche Auseinandersetzung gab es nicht. Die Unruhe sollte von der Mannschaft ferngehalten werden.
Als die Mission WM in die Hose ging, begann das Nachtreten. Hätte „Die Mannschaft“ ein erfolgreiches Turnier gespielt, zumal mit einem guten Özil, wäre die Affäre Erdoğan kein Thema gewesen, weder für die DFB-Funktionäre noch für die Medien. Dann hätte man dem Spieler seinen Fehltritt verziehen, weil er dem Verband und seinen Sponsoren gute Publicity und Gewinne gesichert hätte.
Mesut Özil sah sich gezwungen zurückzutreten, weil das Team in der Vorrunde ausschied und er mit Hilfe von Rassismus zum Sündenbock aufgebaut wurde. Bierhoff und DFB-Chef Grindel hauten Sprüche gegen ihn raus, dass man glauben konnte, er hätte die WM alleine vergurkt. Özil fasst das treffend zusammen: „Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren“
Die WM ist vorbei. Wir haben jetzt andere Probleme als Ballbesitz, Konter und Standardsituationen. Der Fall Mesut Özil entwickelt sich zu einer ausgewachsenen Debatte, die vor allem von den Rassisten jeglicher Couleur genutzt wird, um erneut über Nation, Kultur, Migration und den ganzen Kram in einer Weise zu diskutieren, die uns trennen, Gräben ausheben und vertiefen soll.
Rechtsausleger an der DFB-Spitze
Zu Recht schreibt Özil, von DFB-Chef Reinhard Grindel „enttäuscht, aber nicht überrascht“ zu sein. Er verweist darauf, dass Grindel als CDU-Politiker im Bundestag 2004 meinte, „Multi-Kulti (ist) ein Mythos und eine Lebenslüge“, als Begründung seines Votums gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Özil zeigt die Kontinuität Grindels auf, der die Erdoğan-Affäre genutzt hat, um populistisch auf die Spieler mit türkischem Background einzudreschen. Er wirft Grindel vor, eine politische Agenda zu haben, die im Kern rassistisch ist.
Mesut Özil, bisher als eher zurückhaltend bekannt, beschreibt in seinem Statement recht präzise die politische Lage: „Mich wegen meiner Vorfahren zu kritisieren oder zu misshandeln ist erbärmlich und eine Linie, die übertreten wird. Und Diskriminierungen als Werkzeug für politische Propaganda zu nutzen, sollte zur sofortigen Entlassung dieser respektlosen Menschen führen. Diese Leute haben mein Bild mit Präsident Erdoğan als Gelegenheit genutzt, um ihre vorher versteckten rassistischen Tendenzen auszudrücken. Und das ist gefährlich für die Gesellschaft.“
Özil weist auf den Rassismus hin, der Menschen aus der Türkei entgegenschlägt. Er ist hier aufgewachsen, aber für viele bleibt er immer „der Türke“. Ein SPD-Provinzpolitiker aus Hessen beschimpfte ihn und Gündoğan nach dem Foto als „Ziegenficker“.
Mit seinem Rundumschlag gegen DFB, Medien, Politik und Sponsoren trifft Mesut Özil reihenweise die Richtigen. Mercedes wollte ihn nach den Fotos nicht mehr als Werbeträger haben. Özil verweist auf Mercedes‘ Betrügereien beim Abgas und macht deutlich, dass der Konzern sich keineswegs als moralische Instanz aufspielen kann.
Er erwähnt allerdings nicht, dass Mercedes-Benz Erdoğan die Transporter geliefert hat, um türkischen Truppen und islamistischen Milizen den Einmarsch ins kurdisch bewohnte Nordsyrien logistisch zu ermöglichen. Diese Hilfe seitens des Daimler-Konzerns, an dem dieser gut verdient hat, dürfte für den türkischen Präsidenten wichtiger sein als der kleine Propaganda-Coup mit den beiden Nationalspielern.
WM-Aus und Özils Karriere
Die Diskussion um das Scheitern der deutschen Mannschaft bei der WM mutet bizarr an. Ohne das frühe Aus wäre es nicht zur zweiten Welle der Özil-Schelte gekommen. Nicht im Wortsinn, aber zwischen den Zeilen wurde Mesut Özil zum Hauptverantwortlichen des Ausscheidens gemacht.
Besonders wild gebärdete sich der frühere Steuerhinterzieher Uli Hoeneß von Bayern München. Über BILD ließ er verlauten, Özil hätte seit 2014 keine Zweikämpfe mehr gewonnen und schon seit Jahren nichts in der Nationalmannschaft verloren. Die Leistung des Spielers bei der WM nannte er „Dreck“. Über die Leistungen seiner Bayern – Müllers Abtauchen, Kimmichs Abwehr-Abwesenheit und Hummels Kopf-Schulter-Missgeschick – verlor er hingegen kein Wort.
Hoeneß verbreitete damit Fake News oder wie es früher hieß: Lügen. Özils Karriere ist beeindruckend. In 92 Spielen für die deutsche Nationalmannschaft schoss er 23 Tore und gab 40 Torvorlagen. Selbst bei der schwachen WM 2018, selbst im lauen Spiel gegen Südkorea, gewann er 62% der Zweikämpfe und gab die meisten Torvorlagen. Schon immer war es Özils Art, streckenweise sehr unauffällig zu spielen, scheinbar abzutauchen und dann wichtige Pässe oder Torschüsse zu schießen. Das mögen Talkshow-Kasper wie Mario Basler („Körpersprache wie ein toter Frosch“) nicht gut finden, aber die Statistik ist eindeutig: Mesut Özil ist einer der erfolgreichsten Spieler des deutschen Teams. Dass er zu den feinsten Technikern gehört, scheinen nicht einmal Hoeneß oder Basler zu bestreiten.
Bundestrainer Löw hatte nach der WM nicht den Mut, sich schützend vor seinen ehemaligen „Lieblingssschüler“ zu stellen. Löw war wegen des Ausscheidens selbst in die Kritik geraten und klebt offensichtlich an seinem Posten. Hätte er Özil verteidigt, wäre die Diskussion über die Gründe des Ausscheidens vertieft worden. Löw hätte auf seinen Teil der Verantwortung eingehen müssen.
Die Stimmung im Team mag nicht die beste gewesen sein, aber die Basis für frühe Ausscheiden war letztendlich die falsche Taktik, der antiquierte Ballbesitz-Fußball mit wenig Absicherung nach hinten und zu behäbigen Spielern, auf den sich Mexiko, Schweden und Südkorea längst eingestellt hatten.
Schon im Halbfinale der EM 2016 deutete sich das an, damals wurde dies jedoch nicht analysiert. Nach dem 0:2-Ausscheiden gegen das taktisch und individuell überlegene französische Team wurde vor allem gejammert, die Deutschen wären die „Meister der Herzen“, weil sie mehr Ballbesitz hatten und der Elfmeter gegen Schweinsteiger nicht „sooo klar“ gewesen sei. Die fehlende Aufarbeitung dieser Niederlage und der taktische Konservatismus von Löw konnte durch die individuelle Qualität der Spieler nicht ausgeglichen werden, weder von Özil noch von anderen.
Millionäre und Millionen
Dreistigkeiten gegen Özil kommen nicht nur von Rechtsaußen. Außenminister Maas (SPD) twitterte, man solle „die Integrationsfähigkeit unseres Landes nicht allein mit Blick auf einen in England lebenden Multimillionär diskutieren“ und versucht damit, den Spieler zweifach aus „unserer“ Gemeinschaft auszuschließen, England, verstehste, und dann noch Multimillionär.
Millionen hin oder her, Mesut Özil erlebt gerade echte Diskriminierung. Seine Karriere und all sein Geld bewahrten ihn nicht davor, rassistisch beschimpft und zum Sündenbock gemacht zu werden. Wie geht es erst den Leuten, die nicht über sein Geld und seine Medienmacht verfügen?
Sie haben in den letzten Wochen zusehen müssen, wie drei Unterstützer der NSU-Mörder geringe Haftstrafen erhielten und aus der Haft entlassen wurden. Ihnen wird seit Jahren unterstellt, sie wären nicht richtig „integriert“, lebten in islamischen „Parallelgesellschaften“. Und jetzt bekommen sie mit, wie einer der prominentesten Türkeistämmigen von Medien, Politik und DFB-Funktionären zum Sündenbock gemacht wird.
Eine aktuelle Studie von Mannheimer Bildungsforschern hat zum Ergebnis, dass türkischstämmige SchülerInnen bei gleicher Leistung und sogar gleicher Fehleranzahl in Texten schlechtere Noten als Biodeutsche bekommen. Die Diskriminierung ist tief verankert, auf allen Ebenen.
Unter dem Strich geht es den „Kritikern“ gar nicht um Özil als Person. Die Angriffe auf ihn, das Schweigen und dann Nachtreten des DFB und der Funktionäre sind Angriffe auf alle Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, ob mit oder ohne deutschen Pass, sind Angriffe auf alle „Nicht-Deutschen“.
Es ist kaum verwunderlich, dass viele aus der Türkei stammende Menschen sich positiv auf ihr Herkunftsland beziehen möchten und dabei den Charakter des Erdoğan-Regimes ausblenden. Die hierzulande erlebte Diskriminierung und Ausgrenzung ist eine der zentralen Ursachen für die Hinwendung zum türkischen Staat, weil dieser vorgibt, die türkischstämmigen Menschen zu respektieren; ist die Grundlage für Spaltung und Entfremdung.
Anpassung wird verlangt
Bürgerliche PolitikerInnen und Medien reden von „Integration“, aber sie meinen Anpassung, Assimilation. „Gute“ MigrantInnen sollen deutsch sprechen, sich zu Deutschland als ihrer Heimat bekennen, „unsere Werte“ anerkennen. Dabei gibt es diese Werte überhaupt nicht, denn auch Deutsche haben unterschiedliche Wertvorstellungen. Die einen wollen in Seenot geratene Flüchtlinge im Mittelmeer retten, andere wollen sie lieber ersaufen lassen. Die einen wollen Autos mit Schummelsoftware verkaufen, welche Dreck in die Luft blasen, die anderen würden den Verkehr lieber so umbauen, dass er gut für die Umwelt und die Menschen ist. Welchen dieser „Werte“ sollen die MigrantInnen übernehmen?
Sie wollen MigrantInnen nur als Deutsche, wenn diese sich als Ex-MigrantInnen aufführen. Das zeigt der Fall Özil exemplarisch. Es geht nicht um die repressive Politik Erdoğans, diese muss man kritisieren und bekämpfen. Man nimmt Özil jedoch übel, dass er sich überhaupt mit dem Präsidenten seines Herkunftslandes gezeigt hat. All seine „Integrationsleistungen“, die dem DFB Ruhm und Geld und den Sponsoren Profite verschafft haben, wurden von DFB-Chef Grindel, BILD und anderen auf den Müllhaufen geworfen, das macht Özil deutlich.
Gerade Özils drittes Statement zu Grindel ist stark und könnte dem DFB-Chef Probleme bereiten. Doch auch wenn Özil weitgehend Recht hat, das Geflecht von Macht- und Profitinteressen des Verbandes und Sponsoren anspricht sowie Heuchelei und Doppelmoral aufdeckt, ist seine – freundlich formuliert – fragwürdige Haltung zu Erdoğan das Einfallstor, dass die Rechten nutzen, um der Debatte eine migrantenfeindliche und repressive Richtung zu geben.
Nicht nur in Deutschland, auch in der Türkei nutzen rechte Kreise die Debatte. Mesut Özil wird von den regimetreuen Medien zum Helden gemacht und vom Staatspräsidenten gelobt.
Bisher hatte sich der Spieler mit direkten politischen Statements zurück gehalten, hatte den türkischen Präsidenten zum Händeschütteln und bei Charity-Events getroffen, ohne direkt seine politische Unterstützung für ihn zu erklären. Wenn er dabei bleibt, kann seine Erklärung zum Rassismus eine positive Rolle spielen. Lässt er sich zukünftig vom Regime in Ankara vereinnahmen, würden seine wichtigen Äußerungen allerdings entwertet.
Polarisierung
Das Thema Migration beherrscht weiter die öffentliche Debatte, den Takt bestimmen vor allem rechte Kreise. Doch die Hetze von Seehofer stößt auch in Bayern an ihre Grenzen. Am 21. Juli demonstrierten in München zwischen 25.000 und 40.000 Menschen unter dem Motto „ausgehetzt“ gegen die rechte Politik, für Solidarität mit Geflüchteten, gegen polizeiliche Repression.
In den letzten Wochen fanden in vielen Städten Demonstrationen für die Seenotrettung auf dem Mittelmeer statt, überwiegend mit überraschend guter Beteiligung. In Köln kamen nach kurzer Mobilisierung über 6.000 Menschen.
Die Diskussion ist nicht einseitig. Ewig nervende Talkshows mit den ewig gleichen Rassisten im Sessel und BILD-Schlagzeilen bilden nicht die Realität ab, weil sie die Polarisierung, die vor allem Jugendliche erfasst, nicht zeigt.
Auch die Debatte um Mesut Özil darf nicht den Rechten überlassen werden. Die LINKE und die Gewerkschaften sollten sich klar hinter den Spieler stellen. Nicht, um zu Erdoğan zu schweigen. Nicht, weil jeder Satz von ihm richtig ist oder uns die Interessen eines Fußball-Millionärs besonders am Herzen liegen. Sondern weil er den Rassismus anspricht, den Millionen MigrantInnen erleben, dieses schleichende Gift, welche uns arbeitende Menschen spaltet und den Herrschenden das Herrschen erleichtert.
Wir brauchen weitere Mobilisierungen und eine Bewegung gegen AfD und jede Form von Rassismus. Ein klare solidarische Haltung in der Özil-Debatte könnte sogar dabei helfen, mehr MigrantInnen in solche Proteste und Bewegungen einzubeziehen.
Überhaupt nicht hilfreich sind Äußerungen wie von Sevim Dağdelen, der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der LINKEN im Bundestag. Es ist Sevims gutes Recht, Özil wegen seiner Erdogan-Connection zu kritisieren.
Aber mit ihrer Äußerung „Das ist kein Ruhmesblatt für einen Spieler der deutschen Nationalmannschaft, der Vorbildfunktion hat.“ läuft sie in die von den Rechten gestellte Abseitsfalle. Warum redet eine Linke davon, in der Nationalmannschaft „Vorbild“ zu sein und gibt sich damit nationaler als viele deutsche Fußballfans. Was wäre vorbildlich? Nur deutschen Politikern die Hände zu schütteln? Die Hymne zu trällern? Özils Aufgabe ist es, Fußball zu spielen und nicht ein „guter Deutscher“ zu sein. Da ist ja der Multimillionär staatskritischer und subversiver als diese LINKE-Politikerin.
Wir fordern:
- Solidarität mit Mesut Özil und allen Opfern von Rassismus
- Nein zu rassistischen Sondergesetzen für MigrantInnen
- Gegen staatlichen Rassismus und Diskriminierung aufgrund von Nationalität, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, z.B. durch „racial profiling“, Benachteiligung im Bildungssystem, auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt etc.
- Gleiche Rechte für Alle, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben
Das komplette Programm der SAV zu Migration und Rassismus findet sich hier.