Zum historischen Kontext eines Marx-Zitats
Besonders im Karl-Marx-Jubiläumsjahr 2018 greift wieder ein altbekannter Marx-Mythos um sich: Der Marx zugeschriebene Ausspruch „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“. Nicht wenige Medien nutzen ihn gleich als Überschrift für ihre 200-Jahre-Marx-Beiträge, darunter der Deutschlandfunk1 und SWR22. Auch unter Linken ist die „Ich bin kein Marxist“-Aussage nicht selten zu hören. Sie soll suggerieren: Schon Marx sei gegen eine vermeintlich dogmatische Vereinnahmung seiner Ideen durch selbsternannte Marxistinnen und Marxisten aufgetreten. Tatsächlich ist diese Lesart des Zitats, die Marx gegen den Marxismus ausspielen soll, völlig ahistorisch und in der Sache falsch.
von Daniel Kehl, Dortmund
Karl Marx selbst hat diese Worte nie schriftlich festgehalten; sie finden sich aber in verschiedenen Variationen in einigen Briefen seines Mitstreiters Friedrich Engels. Band III/30 der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA²) gibt darüber auf S. 1128 in einer kurzen Aufstellung Übersicht: Zuerst erwähnt Engels den Ausspruch in einem Brief an Eduard Bernstein vom 2./3. November 1882 (MEW Bd. 35, S. 388), anschließend acht Jahre später in einem Brief an Conrad Schmidt vom 5. August 1890 (MEW Bd. 37, S. 436), kurz danach erneut in einem Brief an Paul Lafargue vom 27. August 1890 (MEW Bd. 37, S. 450) und zuletzt in einem Schreiben an die Redaktion der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung“, das die Zeitschrift „Der Sozialdemokrat“ am 13. September 1890 abdruckte (MEW Bd. 22, S. 69). Um das „Ich bin kein Marxist“-Zitat verstehen zu können, ist ein Blick auf die französische Arbeiterbewegung der frühen 1880er Jahre unerlässlich.
Französische Arbeiterbewegung und „Marxismus“ um 1880
Mit der blutigen Niederschlagung der revolutionären Pariser Arbeiterkommune im Mai 1871 war die französische Arbeiterbewegung für mehrere Jahre zum Erliegen gekommen. Die Angehörigen der kurzlebigen Arbeiterregierung wurden in die Illegalität oder ins Exil getrieben, offenes Auftreten mit sozialistischen Ideen war nicht möglich. Erst Ende der 1870er Jahre gelangen zaghafte Schritte der Reorganisation, die auf dem Marseiller Arbeiterkongress im Oktober 1879 zur Bildung der „Parti Ouvrier“ (PO; Arbeiterpartei) führten – Frankreichs erste sozialistische Partei. Die französischen Anhängerinnen und Anhänger der Ideen von Marx und Engels gruppierten sich zu dieser Zeit unter dem Banner des „Kollektivismus“ und waren führend an der Bildung der PO beteiligt. Sie stritten für die Kollektivierung, also Vergesellschaftung, der Produktionsmittel als zentrales Element im neuen Programm der Arbeiterpartei. Auf dem Kongress von Le Havre im November 1880 setzten sie sich endgültig gegen anarchistische, proudhonistische und ähnliche Strömungen durch, als das neue kollektivistische Programm der PO angenommen wurde, dessen kurze theoretische Einleitung Marx verfasst hatte (MEW Bd. 19, S. 238).
Schon bald entbrannten unter den siegreichen Kollektivisten allerdings heftige Fraktionskämpfe. Gegen die von Marx und Engels unterstützten kollektivistischen Anführer Jules Guesde und Paul Lafargue (Marx‘ Schwiegersohn) formierte sich eine Gruppe um Paul Brousse und Benoît Malon, die offen für reformistische Positionen eintrat, eine Arbeiterrevolution ablehnte und nur das erkämpfen wollte, was möglich (fr.: possible) ist, weshalb sie fortan „Possibilisten“ genannt wurden. Marx und Engels in London und mit ihnen Guesde und Lafargue in Paris traten entschieden gegen die possibilistische Richtung und ihren reformistischen Opportunismus auf. In der französischen Arbeiterbewegung galten Guesde und Lafargue damals als treueste Schüler von Marx und Engels und wurden von den Possibilisten – so Engels in einem Brief an Bernstein vom 25. Oktober 1881 – gar als „Mundstücke von Marx“ bezeichnet (MEW Bd. 35, S. 230). Auf der politischen Linken Frankreichs Anfang der 1880er Jahre war klar, dass „Marxisten“ in erster Linie die Gruppe um Guesde und Lafargue und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter meint. Der Begriff „Marxismus“ bürgerte sich hier wohl mit am frühesten in einer nationalen Arbeiterbewegung ein.
Die Auseinandersetzung zwischen Marx und Guesde
Im Rahmen des Kampfes zwischen Possibilisten auf der einen und „Marxisten“/„Guesdisten“ auf der anderen Seite nahm Guesde nun nebenbei eine Position ein, die Marx wiederum entschieden ablehnte: Obwohl Marx selbstverständlich für den revolutionären Sturz des Kapitalismus und die Aufrichtung eines sozialistischen Übergangsstaates als Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft eintrat (vgl. bspw. seine „Kritik des Gothaer Programms“ von 1875), war er der Auffassung, dass es eines Minimalprogramms von Forderungen bedürfe, das die Arbeiterklasse schon im Hier und Jetzt zum Kampf um schnell erreichbare Ziele mobilisieren kann – mit Potenzial zur weiteren Radikalisierung von Kämpfen durch die Durchsetzung dieser Ziele. Eine Methode, die der später von Lenin 1917 in Russland angewandten oder der von Trotzki 1938 in seinem Übergangsprogramm formulierten Herangehensweise nicht ganz unähnlich ist. Für Guesde hingegen war das Aufstellen von Minimalforderungen eine rein taktische Masche – eine Art Köder –, mit der die Arbeiterinnen und Arbeiter zum Kampf gelockt, von der Unerreichbarkeit von Reformen im Rahmen des Kapitalismus überzeugt und sofort zu einer Revolution angeleitet werden könnten. Der eigenständige Stellenwert des Kampfes um konkrete Verbesserungen und das Mobilisierungspotenzial sowie die systemsprengende Dynamik, die solche Kämpfe auslösen können, wurden in Guesdes sehr schematischem und mechanischem Modell nicht erkannt.
Als Marx nun von dieser Position Guesdes im Kampf gegen die Possibilisten hörte, sagte er zu Lafargue in London, dass – wenn diese Position den „Marxismus“ in Frankreich repräsentiere – „ce qu’il y a de certain c’est que moi, je ne suis pas Marxiste“, „dann ist eines sicher, dann bin ich kein Marxist“. Die Aussage bezog sich also lediglich auf eine sehr konkrete Frage der innerparteilichen Auseinandersetzung in Frankreich, in deren Gesamtverlauf Marx zudem deutlich Stellung für den revolutionären Sozialismus und gegen reformistische Positionen bezogen hatte.
Wer das „Ich bin kein Marxist“-Zitat heute in eine generelle Kampfansage gegen Ideen und Methoden des wissenschaftlichen Sozialismus, für den Marx und Engels ihr Leben lang gekämpft haben und der seit über einem Jahrhundert allgemein „Marxismus“ genannt wird, uminterpretieren möchte, oder suggerieren will, Marx sei nur ein „undogmatischer Denker“ gewesen, der den revolutionären Klassenkampf zum Sturz der Bourgeoisie und die Aufrichtung eines proletarischen Staates (die „Diktatur des Proletariats“) abgelehnt habe, der wird durch hundertfache Belege für diese Positionen im literarischen Nachlass von Marx und Engels Lügen gestraft und agiert im konkreten Bezug auf das hier behandelte Zitat schlicht nicht textkritisch, weil er den historischen Kontext völlig ausblendet, um Marx eine Position unterzuschieben, die dieser nie vertreten hat. Gerade im Jahr des 200. Jubiläums von Marx, in dem er von Bürgerlichen aller Couleur – egal ob liberal, konservativ oder sozialdemokratisch – zum sterilen Säulenheiligen und „großen deutschen Denker“ (Frank Walter Steinmeier) verklärt wird, können solche Klarstellungen nicht oft genug vorgebracht werden.