Marxismus und die nationale Frage
Die nationale Frage ist wie ein Minenfeld. Gerade in der aktuellen Phase der kapitalistischen Entwicklung hat sie an brennender Aktualität zugenommen. An allen Ecken und Enden der Welt haben sich nationale Konflikte verschärft oder als gelöst betrachtete Konflikte sind neu aufgebrochen.
Das gilt für neokoloniale Länder wie Kaschmir, Kamerun oder Sri Lanka genauso wie für die ehemals stalinistischen Staaten, die aus der Sowjetunion hervorgegangen sind, sowie für Kurdistan, Palästina oder (Ex-)Jugoslawien und auch für entwickelte kapitalistische Staaten, siehe Schottland, Katalonien, Nordirland, das Baskenland oder die nationalen Konflikte in Belgien und Italien.
Jeder dieser nationalen Konflikte hat seinen spezifischen Charakter und bedarf der Ausarbeitung eines eigenen, konkreten Programms. Es gibt nicht auf jede nationale Frage dieselbe Antwort, sondern so viele Antworten, wie es nationale Fragen gibt.
Marxistische Methode
Diese Antworten sind aber nur zu finden, wenn man die marxistische Methode anwendet, die vor allem von Lenin ausgearbeitet und vom Komitee für eine Arbeiterinternationale (englische Abkürzung: CWI, internationale sozialistische Organisation, der die SAV angeschlossen ist) weiterentwickelt wurde.
Lenin hat die Losung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen ausgearbeitet und sie in endlosen Debatten innerhalb der internationalen Sozialdemokratie zu Beginn des Jahrhunderts verteidigt. Er konnte sich dabei auf Marx und Engels stützen, die zum Beispiel in der irischen Frage für die Freiheit Irlands eintraten oder auch nach der deutschen Revolution 1848 die Freiheit der von den Deutschen unterjochten Völker forderten. Marx betonte, dass das englische Volk seine Freiheit nicht erkämpfen kann, bevor nicht das irische Volk seine Freiheit erlangt hat. Und für Lenin war das das “grundlegende Prinzip des Internationalismus und des Sozialismus: Nie kann ein Volk, das andre Völker unterdrückt, frei sein”.
Lenin und die Bolschewiki erarbeiteten ein revolutionären Programm zur nationalen Frage, das in den Jahren nach der Oktoberrevolution die Regierungspolitik der Rätemacht bestimmte und ihnen die Unterstützung der Massen in den ehemals vom Zarentum unterdrückten Ländern sicherte. Leo Trotzki verteidigte diese Politik nach der Abkehr der Stalin-Fraktion von der revolutionären Politik Lenins.
Dringende Debatte
In der vom Manifest-Verlag herausgegebenen 177-seitigen Textsammlung findet sich eine Zusammenstellung der wichtigsten Texte Lenins und Trotzkis zur nationalen Frage. Im Text von Sascha Stanicic wird dargelegt, wie MarxistInnen in den letzten Jahren an die Analyse der nationalen Frage in Bezug auf aktuelle Konflikte herangingen.
Seine These lautet: Ohne eine korrekte Politik zur nationalen Frage wird eine revolutionäre Internationale keinen Massenanhang finden können und ohne eine korrekte Politik zur nationalen Frage während der Revolution und nach der Errichtung der Arbeitermacht wird der Erfolg der sozialistischen Revolution aufs Spiel gesetzt werden.
Nationale Gefühle sitzen sehr tief und es gibt eine große Sensibilität der Massen bezüglich der Frage, in welchem Staat sie leben. Gerade in Zeiten von ökonomischen Krisen und einer Verschlechterung der Lebenssituation der Massen bricht sie immer wieder neu auf. Die Revolution wird diese Fragen nicht automatisch lösen, sondern auch nach der erfolgreichen Errichtung der Arbeitermacht wird ein sensibler Umgang mit nationalen Minderheiten und unterdrückten Nationen von entscheidender Bedeutung sein, um zu einer weltweiten sozialistischen Gesellschaft ohne Staaten und Grenzen zu kommen.
Mit der Textsammlung Die Linke und das Recht auf Selbstbestimmung will der Manifest-Verlag einen Beitrag zu dieser dringend notwendigen Debatte leisten.
Das Buch ist im Buchhandel oder unter manifest-buecher.de erhältlich.
9,90 Euro, 177 Seiten, ISBN 978-3-96156-042-4