Der Kapitalismus im Land kann sich auf keine ökonomische und soziale Basis stützen
Vorbemerkung: Wir veröffentlichen hier die Übersetzung eines Artikels, der schon am 11. Januar in Englischer Sprache auf socialistworld.net erschienen ist, welcher sich mit den wichtigen Protesten in Tunesien zum Jahresanfang auseinandersetzt.
. Mit dem Ausbruch neuerlicher Proteste, zu denen es seit vergangener Woche anlässlich des Haushaltsgesetzes für 2018 gekommen ist (und das eine Reihe von Maßnahmen beinhaltet, die sich gegen die Arbeiterklasse und die Mittelschicht richten), ist die Geschichte vom „erfolgreichen demokratischen Wandel“, den es den liberalen KommentatorInnen zufolge in Tunesien gegeben haben soll, abermals ins Reich der Fabeln verwiesen worden. In Wirklichkeit stellt das Land weiterhin ein offenes Schlachtfeld dar, auf dem sich die Kräfte von Revolution und Konterrevolution einander gegenüberstehen.
Von Serge Jordan (CWI) und Mitglieder von „Al-Badil al-Ishtiraki“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Tunesien)
In den vergangenen vier Tagen ist es in vielen Teilen des Landes zu sozialen Protesten gekommen. Vor allem in den marginalisierten Regionen im Landesinnern und in den Arbeitervierteln von Tunis sind auch Ausschreitungen und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen jungen Leuten und der Polizei damit einhergegangen. Indem sie zunächst nur auf eine in den sozialen Medien gestartete Kampagne namens #Fech_Nestannew #فاش_نستناو (dt.: „Worauf warten wir?“) reagiert haben, lassen die Menschen ihrer lange schon angestauten Wut über die sich verschlimmernden Lebensbedingungen nun freien Lauf.
Der am 9. Dezember 2018 verabschiedete Haushalt ist für die Armen im Land regelrecht eine bittere Pille. Das gilt vor allem für die damit einhergehende Anhebung der Mehrwertsteuer, die zur Verteuerung von Gütern des Grundbedarfs (Medikamente, Kraftstoff und Lebensmittel) führt. Aber auch die Einführung einer neuen Sozialabgabe und zusätzlicher Zölle auf Importwaren verschärft die Situation. Untersuchungen gehen davon aus, dass tunesische Haushalte dadurch bis zu 300 Dinar an durchschnittlichen Mehrausgaben im Monat zu verzeichnen haben.
Dieser umfangreiche Angriff auf die Menschen aus der Arbeiterklasse ist vom „Internationalen Währungsfonds“ (IWF) mit ausgearbeitet worden. Der IWF stimmt dem beschriebenen Vorgehen nicht nur zu sondern übt auch starken Druck aus, damit mit höherem Tempo die Verbindlichkeiten, die das Land bei den FinanzspekulantInnen hat, beglichen werden. Entgegen eines weit verbreiteten Gerüchts haben diese Schulden nichts mit den immer wieder zitierten „hohen Löhnen“ der Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu tun. Es handelt sich dabei vielmehr um die schwere Hinterlassenschaft der Mafia, die vor der Revolution von vor sieben Jahren an der Macht gewesen ist. Die tunesische Bevölkerung hat von diesen Geldern nie einen Pfifferling gesehen.
Der Staat hat mit Gewalt auf die Bewegung reagiert und hunderte von Menschen verhaftet. Auf AktivistInnen, die Erklärungen veröffentlicht bzw. zur Beteiligung an Protesten aufgerufen haben, wurde eine regelrechte Hetzjagd veranstaltet. Montagnacht soll ein 43-Jähriger in Tebourba, einem Ort 30 km westlich der Hauptstadt Tunis, von einem Polizeifahrzeug überrollt worden und dabei ums Leben gekommen sein. Den Menschen ist nicht entgangen, dass die Regierung systematisch schwerwiegende Kürzungsmaßnahmen beschlossen hat, gleichzeitig aber den Etat für das Verteidigungs- und das Innenministerium erhöht hat. Dennoch werden die Proteste kriminalisiert. Der Ausnahmezustand, der seit November 2015 immer wieder verlängert worden ist, ist ausgerufen worden, um demokratische Rechte außer Kraft zu setzen. Parallel dazu ist letztes Jahr beschlossen worden, – als Reaktion auf die sozialen Bewegungen im Süden Tunesiens – bestimmte Produktionsanlagen militärisch aufzurüsten. Im Gegensatz dazu begrüßen Trump und andere westliche Regierungschefs die jüngsten Proteste im Iran auf heuchlerische Art und Weise. Im Falle Tunesiens, das zu ihrer Einflusssphäre zu rechnen ist, verhalten sie sich hingegen seltsam ruhig.
Klassen-Gegensätze
Die unfassbare Kluft zwischen Arm und Reich, die eine wesentliche Ursache für den revolutionären Aufstand gegen das Regime von Ben Ali vor sieben Jahren war, hat sich seither noch weiter vergrößert. Selbst von der arbeitgeberfreundlichen EU wird Tunesien als „Steueroase“ der Superreichen gebrandmarkt. Gleichzeitig brechen die Preise im Bereich des Grundbedarfs (v.a. für Lebensmittel) einen Rekord nach dem anderen. Dieses Phänomen wird durch die Spekulation auf den Finanzmärkten und den strukturellen Abbau des alten Subventionssystems noch verschärft. Innerhalb von sieben Jahren hat sich das Handelsbilanzdefizit verdreifacht, was der Wert des tunesischen Dinar verfallen lässt, die Kosten für den Schuldendienst in die Höhe treibt und den Lebensstandard der „einfachen“ Leute zerstört. Da kann es kaum wundern, dass 73,3 Prozent der Befragten in einer aktuellen Umfrage angegeben haben, die Wirtschaft würde sich in „eine falsche Richtung“ entwickeln.
In den ärmeren Regionen im Landesinnern ist die Lage besonders volatil, weil die Gemeinden dort keine Veränderung oder irgendwelche bedeutenden Investitionen durch die öffentliche Hand erlebt haben. Viele junge Leute haben das Gefühl, 2010 und 2011 ihr Leben dafür aufs Spiel gesetzt zu haben, nur um heute unter noch schlechteren Lebensbedingungen und unter Erwerbslosigkeit zu leiden. Da reicht schon der geringste Funke, um einen Flächenbrand zu entfachen. Das zeigt sich am Beispiel der Ortschaft Sejnane, einer Gemeinde, in der es Ende 2017 innerhalb weniger Wochen zu zwei Generalstreiks gekommen ist. Man protestierte damit gegen Erwerbslosigkeit, Armut und die Zerstörung der öffentlichen Versorgung. Ausgelöst wurde diese Bewegung durch die Selbstverbrennung einer fünffachen Mutter, die sich vor dem Gebäude einer öffentlichen Behörde angezündet hat. Das war ein tragischer Vorfall, der Erinnerungen an den Anlass des sogenannten „Arabischen Frühling“ im Dezember 2010 wach werden lässt.
Selbst die Zahlen der „Weltbank“ belegen, dass die Mittelschichten in Tunesien seit 2011 zahlenmäßig halbiert worden sind. Allein hieran zeigt sich das Dilemma, in dem sich der Kapitalismus in Tunesien befindet: Die herrschende Klasse ist durch die Revolution von 2010 gezwungen worden, sich selbst die Last der parlamentarischen Demokratie aufzubürden. Allerdings fehlt es ihr an einer ökonomisch gefestigten Basis, auf die sie sich stützen könnte. In den letzten sechs Jahren ist es zu einem Wirtschaftswachstum von im Schnitt weniger als einem Prozent gekommen, weshalb die KapitalistInnen den abhängig Beschäftigten und den Armen keine merklichen Zugeständnisse zu machen in der Lage sind. sie konnten somit keine nachhaltige soziale Basis schaffen, die ihr umgeformtes neues politisches System dauerhaft unterstützen würde.
Ein Beleg hierfür ist, dass in den sieben Jahren nach dem Sturz von Ben Ali schon die neunte Regierung im Amt ist. Sie alle sind durch soziale Erhebungen in Straucheln geraten, mitunter gar mit starken Blessuren daraus hervorgegangen. Und der jetzigen Regierung wird es kaum anders ergehen. Die sogenannte Koalition der „nationalen Einheit“ unter Premierminister Youssef Chahed setzt sich aus vier verschiedenen Parteien zusammen, bei denen „Nidaa Tounes“ (bei der es sich im Grunde um eine „Wiederaufbereitungsanlage“ handelt, die aus der mittlerweile aufgelösten Partei RCD von Ben Ali hervorgegangen ist) und „Ennahda“ (der rechtsgerichteten islamistischen Partei, die das Land seit 2013 regiert hat) eine führende Rolle zukommt. Beide leiden unter parteiinternen Krisen und Abspaltungen.
„Nidaa Tounes“ ist auch die Partei von Caid Essebsi, dem Präsidenten der Republik. Sein Sohn, Hafedh, gehört dem Parteivorstand an. Letzterer steht auf Platz eins der Liste der unbeliebtesten Personen im Land, gefolgt von Rached al-Ghannouchi, dem Vorsitzenden von „Ennahda“. Die Prognosen deuten darauf hin, dass sich bei den anstehenden Kommunalwahlen rund 70 Prozent der Wahlberechtigten ihrer Stimme enthalten werden. Das alles spricht Bände, was die Beliebtheit des herrschenden Establishments angeht. Gekrönt wird die Situation durch eine Kabinettsumbildung, durch die nun auch wieder Personen auf der Regierungsbank sitzen, die enge Verbindungen zum Regime von Ben Ali unterhalten haben.
Im vergangenen Jahr hat die Regierung versucht, ihr Ansehen durch eine lautstark gepriesene „Anti-Korruptionskampagne“ zu verbessern. Die Korruption ist heute ein noch stärker verbreitetes Phänomen als noch unter Ben Ali. Trat sie damals nur stark kontrolliert und zentralisiert im inneren Machtzirkel der Diktatur in Erscheinung, so ist sie heute allerorten vorhanden. Die zum Himmel schreiende Korruption der Regierungselite war ein ganz wesentlicher Faktor für den Ausbruch der Revolution, was den heutigen PolitikerInnen sehr bewusst ist. Die o.g. Anti-Korruptionskampagne bestand vor allem darin, dass einige wenige Personen mit Rang und Namen verhaftet worden sind, die sich am Schmuggel und an Schmuggler-Netzwerken beteiligt haben. Die Öffentlichkeit hat jedoch kein Vertrauen in die Regierung, dass diese sich des Problems ernsthaft annehmen würde. Das gilt vor allem seit vergangenem September, als im Parlament ein „Versöhnungsgesetz“ beschlossen worden ist, das seinen Namen nicht verdient und das im Prinzip dazu dient, um Staatsbedienstete, die sich unter Ben Ali der Korruption schuldig gemacht haben, wieder eine „weiße Weste“ bekommen.
Verräterische Rolle der Gewerkschaftsspitzen
Trauriger Weise habe die zentralen VertreterInnen des „allgemeinen Gewerkschaftsbunds der ArbeiterInnen Tunesiens“ (UGTT) gegenüber der Regierung eine äußerst kooperative Haltung angenommen, was deren Austeritätsvorhaben angeht; und das, obwohl die aktuelle Bewegung sie dazu gezwungen hat, sich zumindest verbal von der Regierung zu distanzieren. Über das gesamte Jahr 2017 hinweg waren die Mainstream-Medien voll des Lobs für den UGTT-Vorsitzenden Noureddine Taboubi, weil seine Wahl an die Spitze des Gewerkschaftsbunds den weiteren Schritt in Richtung einer offeneren Form der Klassen-Kollaboration dargestellt hat. Nachdem sie wie die „Sozial-BeraterInnen“ des derzeitigen neoliberalen Kabinetts agiert und nichts dafür getan hat, um den Kampf gegen den unsozialen Krieg dieser Regierung vorzubereiten (der sich gegen ArbeiterInnen und Arme richtet), versucht die Führungsriege der UGTT nun so zu tun, als stünde sie auf der Seite der Unterdrückten. Korrekter Weise haben die Protestierenden nicht auf ein mögliches Signal der Gewerkschaftsspitze gewartet, um auf die Straße zu gehen. Hätten sie dies getan, würden sie wahrscheinlich immer noch darauf warten.
Nun wundern sich die Gewerkschaftsvorstände über den Ausbruch der Gewalt und die Plünderungen. Gewiss müssen derartige Aktionen verurteilt werden, weil sie dem Staat in die Hände spielen und Argumente liefern, mit denen sich Versuche rechtfertigen lassen, die Forderungen der Bewegung zu diskreditieren und hart auch gegen friedliche DemonstrantInnen vorzugehen. „Agents provocateurs“ und Plünderer müssen von der Bewegung isoliert und an den Rand gedrängt werden. Die Verantwortung für diese Entwicklungen liegt aber ebenfalls bei den bereits angesprochenen GewerkschaftsführerInnen. Tatsächlich werden viele verarmte und entfremdete junge Leute fehlgeleitet und zu verzweifelten Aktionen ver-leitet, weil diese „führenden Instanzen“ ihren Job nicht gemacht haben. Die Gewerkschaftsvorstände haben keine ernsthaften Initiativen ergriffen, die auch nur im Entferntesten zu einem entschlossenen Vorgehen gegen die nicht hinnehmbaren sozialen Bedingungen geführt hätten, unter denen die Jugend im Lande leidet.
Wenn diese Führungspersonen nicht bereit sind, ernstzunehmende Maßnahmen zu ergreifen mit denen die aktuelle Bewegung ausgeweitet und gestärkt werden kann, dann sollten sie durch Personen ersetzt werden, die dies zu tun in der Lage sind. Die Notwendigkeit des Aufbaus einer mächtigen Streikbewegung gegen das Haushaltsgesetz steht ganz oben auf der Agenda. Das sollte für jede Gliederung der UGTT im ganzen Land gelten. Es war immerhin die organisierte Phalanx der Arbeiterklasse, die vor sieben Jahren mit all ihrer Macht das Schicksal von Ben Ali besiegelt hat. Und es ist genau diese Macht, mit der all jene bezwungen werden können, die versuchen, mit der Wirtschaftspolitik des alten Regimes fortzufahren.
Die Spitzen des Linksbündnisses namens „Volksfront“ liegen richtig, wenn sie zu verstärkter Mobilisierung aufrufen. Ihr parallel dazu gestarteter Ruf nach vorgezogenen Neuwahlen greift angesichts der derzeitigen Lage hingegen zu kurz. Natürlich sind wir nicht prinzipiell gegen Wahlen, die diese Regierung vorzeitig abberufen würde. Wenn sie diese Forderung aber auf dem Höhepunkt einer kämpferischen Bewegung aufstellen, dann üben sie damit Verrat den sonst üblichen Überlegungen der führenden VertreterInnen der „Front populaire pour la réalisation des objectifs de la révolution“, so der volle Name der „Volksfront“. Denn eigentlich will man doch eben nicht, dass die Basis der sozialen Kämpfe in die sicheren Bahnen institutionalisierter Politik abgeleitet wird. Viele haben noch klar vor Augen, dass diese führenden Köpfe 2013 zwei hervorragende revolutionäre Möglichkeiten mit einer ganz ähnlichen Strategie vertan haben.
Aus unserer Sicht muss eine starke Einheitsfront organisiert werden, die die Kampagne-FührerInnen von „Fech Nestannew“, ArbeiterInnen, GewerkschafterInnen, Erwerbslosen-Organisationen und die Kommunen vor Ort, politische und soziale AktivistInnen im Kampf miteinander vereint und eskaliert wird bis das ätzende Haushaltsgesetz wieder außer Kraft gesetzt und die dafür verantwortliche Regierung Chahed aus dem Amt getrieben worden ist. Doch wie die Erfahrung der vergangenen sieben Jahre so anschaulich gezeigt hat, wird die kapitalistische herrschende Klasse so lange irgendwelche Regierungskonstellationen zusammenstellen, wie die Bewegung es nicht vermag, sich auf politischer Ebene eigenständig und unabhängig Ausdruck zu verschaffen. Das muss auf Basis der Forderungen der Revolution geschehen. Ansonsten wird es immer neue Koalitionen geben, die den Interessen des Kapitals entsprechen und die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung zerstören. Um zu verhindern, dass es wieder und wieder dazu kommt, sollten in den Betrieben und Kommunen Aktionskomitees der Massen aufgestellt werden, um darüber die Bewegung von unten aufzubauen und einen politischen Kampf der Massen zu koordinieren, der darauf abzielt, die Regierung zu Fall zu bringen und die Gründung einer revolutionären Volks-Regierung vorzubereiten, die sich auf von ArbeiterInnen, armen Bäuerinnen und Bauern sowie jungen Leuten demokratisch gewählte VertreterInnen gründet. Mit einer demokratischen und sozialistischen Politik, die auf dem öffentlichen Eigentum an den Banken, Fabriken, Agrar-Holdings und Energieunternehmen basiert, kann für die Mehrheit der Bevölkerung eine radikal andere Zukunft geschaffen werden.
Wir fordern:
- Rücknahme des Haushaltsgesetzes – die Schuldenzahlungen müssen abgelehnt werden!
- Rücknahme der Preiserhöhungen – staatliche Subventionen müssen verteidigt und ausgeweitet werden – für Löhne und Sozialleistungen, die zur Deckung der Lebenshaltungskosten reichen!
- Umgehende Freilassung aller inhaftierten AktivistInnen – der Ausnahmezustand muss sofort aufgehoben werden!
- Für eine Serie von Generalstreiks in Vorbereitung eines landesweiten 24-stündigen Generalstreiks, um die Regierung Chahed zu Fall zu bringen!
- Für einen umfassenden Plan für öffentliche Investitionen in die Infrastruktur und die Entwicklung der Regionen im Landesinnern, um Arbeitsplätze mit angemessenen Löhnen zu schaffen und die Erwerbslosigkeit zu verringern!
- Verstaatlichung der Banken, Schlüsselkonzerne und Agrar-Holdings unter demokratischer Kontrolle der Bevölkerung!
- Für eine Regierung des Volkes, die sich auf die VertreterInnen der abhängig Beschäftigten, der Armen und jungen Leute stützt, welche in den Betrieben, Kommunen und Universitäten demokratisch gewählt werden müssen!