Auszug aus dem Buch „Iran: Freiheit durch Sozialismus“ von 2009
Ein zentraler Wesenszug religiöser Fundamentalisten ist es, Worte, Regeln und Moral aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu reißen und für allgemeingültig zu erklären. Die Islamisten begründen damit die Unterdrückung der Frau und die Herrschaft der Religion über das gesamte Leben. Auch fundamentalistische Christen und Juden benutzen, bei allen Unterschieden, diese Methode. Kern einer wirklich kritischen Untersuchung des Islam wäre es, eben nicht diese fundamentalistische Methode zu nutzen. Die unterschiedlichen selbst ernannten „Islam-KritikerInnen“ in Deutschland, von islamophoben Faschisten über SPIEGEL-Redakteure bis zu Linken oder Ex-Linken wie dem Zentralrat der Ex-Muslime erklären jedoch die reaktionären Charakterzüge, die diese Religion angeblich oder tatsächlich hat, aus den Buchstaben des Koran, aus den überlieferten Worten des Religionsgründers Mohammed. Sie selbst analysieren die Religion demnach mit religiösen Methoden, nicht mit den Mitteln der Wissenschaft.
von Claus Ludwig
Wenig überraschend tritt bei solch einer Untersuchung lediglich zu Tage, dass Bücher, die 1.400 Jahre oder älter sind, Ideen enthalten, die heute als rückständig betrachtet werden müssen; dass solch alte Schriften nicht die Idee der Gleichberechtigung der Geschlechter enthalten, die ein Produkt der gewaltigen Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus sowie der Arbeiter- und der Frauenbewegung ist. Wer aus dem Alten und Neuen Testament oder dem Koran zitiert, ohne die darin enthaltenen Verhaltensregeln, moralischen Maßstäbe und Lehrsätze in den Zusammenhang der sozialen Realitäten zum Zeitpunkt ihrer Entstehung zu setzen, hat den Erkenntnisprozess abgewürgt bevor er begonnen hat.
Religion ist eine Form von Ideologie, im Mittelalter deren nahezu ausschließliche Form, und ist nicht aus sich selbst heraus zu erklären. Sie ist ein Produkt gesellschaftlicher Kämpfe und Kräfteverhältnisse, spiegelt die Interessen bestimmter Gruppen und Klassen in der Gesellschaft in bestimmten Zeiträumen der Geschichte wider. Der islamische Glaube ist keineswegs ein unbefristet allumfassender Weltgeist der Frauendiskriminierung, sondern eine Ideologie, deren gesellschaftliche Funktion heute grundlegend anders ist als zur Zeit ihrer Entstehung oder, wie es August Bebel ausdrückt, „… dass für jede Religion der Zeitpunkt kommt, in dem sie mit den Kulturbedürfnissen der Menschheit in Widerspruch gerät, weil sie selbst nur ein vorübergehendes Produkt einer bestimmten Kulturperiode ist.“118
Die Frage, was der Islam ist, wie er sich durchsetzen konnte, wie es zur Entstehung des Fundamentalismus kam, ist keine akademische Frage. Sie hat Auswirkungen auf die Strategie der revolutionären Kräfte auch im Iran. Wer das Mullah-Regime stürzen, die klerikale Herrschaft überwinden will, muss eine Massenbewegung der Arbeiterklasse, der Bauern und der städtischen Armen aufbauen. Nach wie vor ist der islamische Glaube jedoch in Teilen des Proletariats und der Armen im Iran tief verankert. Einen antireligiösen Kampf gegen den islamischen Glauben an sich können sich die „Ex-Muslime“ unter der Führung der Ex-Kommunistin Mina Ahadi119 leisten, die in Deutschland von reaktionären Politikern und bürgerlichen Medien als Stichwortgeber gegen „falsche Toleranz“ gehätschelt und von islamophoben Rassisten als brave Ausländer120 geduldet werden. Eine revolutionäre Bewegung im Iran kann dies nicht. Sie muss das Regime bekämpfen und für die Trennung von Staat und Religion eintreten und gleichzeitig ein Angebot für die ArbeiterInnen und Armen machen, die mehr und mehr mit dem Regime zusammenprallen ohne gleich ihren Glauben aufzugeben.
SozialistInnen diskutieren mit der Arbeiterklasse nicht in erster Linie über das Himmelreich oder dessen Nicht-Existenz, denn dies ist dem Klassenkampf in dieser Welt untergeordnet. Sie diskutieren, wie das Leben im Diesseits revolutioniert werden kann oder wie Karl Marx es formuliert:
„Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks: Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.“121
Diesen Worten ist die berühmte Formulierung von der Religion als „Opium des Volkes“ vorangestellt:
„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“122
Marx geht damit über die bürgerlich-aufklärerische Religionskritik hinaus und der Religion auf den Grund. Diese ist nicht einfach eine billige Droge, welche die Herrschenden dem Volk geben, damit es sich benebelt. Natürlich wird sie auch so genutzt, aber es wäre ein grobe Vereinfachung, die zur falschen Schlussfolgerung führen würde, der Kampf gegen die Religion müsse lediglich im Sinne bürgerlicher Aufklärung betrieben werden. Die Religion ist einerseits die ideologische Form realer gesellschaftlicher Prozesse, andererseits tief im Volk verankert, weil die Realität diese Illusionen nötig macht, um erträglich zu sein.
Lenin entwickelt Marx‘ Gedanken weiter:
„Unserem ganzen Programm liegt eine wissenschaftliche, und zwar die materialistische Weltanschauung zugrunde. Die Erläuterung unseres Programms schließt daher notwendigerweise auch die Klarlegung der wahren historischen und ökonomischen Quellen des religiösen Nebels ein … Es wäre unsinnig, zu glauben, man könne in einer Gesellschaft, die auf schrankenloser Unterdrückung und Verrohung der Arbeitermassen aufgebaut ist, die religiösen Vorurteile auf rein propagandistischem Wege zerstreuen. Es wäre bürgerliche Beschränktheit, zu vergessen, dass der auf der Menschheit lastende Druck der Religion nur Produkt und Spiegelbild des ökonomischen Drucks innerhalb der Gesellschaft ist.“123
In diesen kurzen Sätzen stecken viele Ansätze für das Herangehen an religiöse Fragen auch heute. SozialistInnen aus arabischen Ländern, der Türkei und dem Iran weisen darauf hin, dass der Islam sich von den aktuellen Ausprägungen des Christentums, des Buddhismus und anderer Religionen unterscheidet und anders als diese für die Arbeiterklasse und die Linke eine konkrete Gefahr darstellt. Auch andere fundamentalistische Strömungen wie die evangelikalen Christen, wachsen. In Russland gewinnt die orthodoxe Kirche mehr Einfluss und verbindet sich mit russischem Nationalismus und imperialem Denken. Die Gefahren dieser Entwicklungen sind nicht zu unterschätzen. Richtig ist allerdings, dass der Islam eine weit stärkere politische Bedeutung erreicht hat. Die fundamentalistische Interpretation des Islams hat Massencharakter, der islamische Fundamentalismus ist in vielen muslimischen Ländern die vorherrschende Strömung.
Die reaktionäre Rolle der Religion unter der Herrschaft der Fundamentalisten beschränkt sich nicht auf Glaube, Moral, Familienleben, sondern ist eine handfeste politische Realität, der auch nicht-religiöse Familien, Viertel, Städte und Regionen nicht entkommen können. Die Islamisten haben in Pakistan, Afghanistan, Kaschmir, Irak, Sudan und anderen Ländern Terror gegen abweichende Meinungen, nicht zuletzt gegen die Linke, die Arbeiter- und die Frauenbewegung entfacht. Das Khomeini-Regime hat die physische Vernichtung der Linken organisiert.
Die muslimische Welt hat keine grundlegende Säkularisierung wie Europa erlebt. Der Islam ist einerseits eine monotheistische Religion wie andere auch, die Weiterentwicklung der abrahamitischen Religionen Juden- und Christentum. Aber seine Wirkung in der heutigen Welt ist anders. Den Grund dafür sucht man vergebens in den Suren des Koran. Im Alten und Neuen Testament, Grundlagen des Christentums, lassen sich ebenso viele Formulierungen finden, die heute als komplett reaktionär angesehen werden. Geschichtlich betrachtet sind im Namen Jesu Christi weit umfassendere Verbrechen als im Namen Allahs begangen worden, über die Kreuzzüge nach Palästina und die völkermörderische Kolonialisierung Amerikas bis zu den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, in denen die Priester die Kanonen segneten. Im klerikal-faschistischen, mit Nazi-Deutschland verbündeten Kroatien leiteten katholische Mönche die Konzentrationslager, in denen Oppositionelle, Juden und Serben ermordet wurden.
Die heutige Rolle des Islams ist Produkt des ökonomischen Zurückbleibens der arabischen und muslimischen Länder gegenüber dem europäischen und später amerikanischen Kapitalismus; sie ist untrennbar verbunden mit dem Aufkommen des Imperialismus und der Aufteilung der Welt durch die führenden imperialistischen Länder. Die enorme Stärkung des rechten politischen Islam in den letzten 30 Jahren ist wiederum Ergebnis der Niederlagen der Linken in der Region, Ergebnis der verpassten Chancen, den Kapitalismus zu stürzen, des Nichtumsetzens der „Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.“
Der Aufstieg des Islam
Die arabische Halbinsel war zu Beginn des 7. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung von der Aufteilung in Stämme geprägt. In der zentralen Karawanenstadt Mekka waren die vielfältigen Götter der Stämme Arabiens um die Pilgerstätte der Ka‘ba gruppiert. Die Stammesgesellschaft bedingte das Fehlen jeder Rechtssicherheit und führte zur Rechtlosigkeit gerade der Armen und der Frauen.
„Verbrechen gegen Menschen außerhalb des eigenen Stammes blieben nicht nur straflos, sondern galten überhaupt nicht als Straftaten … Häufig war es der Fall, dass der Einzelne außerhalb seines Stammes, der sozialen Identität beraubt, keinerlei Schutz und keinerlei Rechte genoss.“124
Diese Rechtlosigkeit stellte ein großes Hindernis für die Entwicklung des Handels dar, denn keine Karawane konnte sicher sein. Gleichzeitig wurden die Stämme durch den wachsenden Reichtum Mekkas und die soziale Polarisierung in der Stadt von innen ausgehöhlt, ihre Werte verfielen. Mohammed, um 570 geboren, war wahrscheinlich als Waise aufgewachsen und lebte bis zur Heirat mit seiner Arbeitgeberin, der reichen Kaufmannswitwe Chadidscha, als eine Art Handelsgehilfe. Mit seinen Thesen über den einen Gott, Allah, attackierte er ab 610 nicht nur die Ka‘ba als Wallfahrtsort für allerlei Götter, sondern forderte auch die politische und wirtschaftliche Macht der herrschenden Clans in Mekka heraus. Seine Offenbarungen, die später im Koran zusammengefasst wurden, enthielten die Botschaft einer sozialen Revolte gegen die Herrschenden in Mekka. Sein einziger, mächtiger Gott, Allah, war das Symbol für die Notwendigkeit, die Zersplitterung in Stämme zu überwinden, einheitliche moralische und rechtliche Normen für alle zu schaffen:
„Die Spannung zwischen der zivilisierenden Rolle des Handels und dem primitiven und reaktionären Eifer der Stämme bildet die eigentlich materielle, soziale Basis für den Vorstoß des Propheten Mohammed.“125
„Hierdurch wurden sie (die Ideen von Mohammed) das vorzüglichste Bindemittel, welches die bis dahin zersplitterten, jedes gemeinsamen Handelns baren Stämme vereinigte.“126
In Medina, wohin Mohammed mit seinen Anhängern vor der Unterdrückung durch die Herrschenden Mekkas geflohen war, wurde der Keim einer neuen Gesellschaft formiert. Für den Beitritt zur Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, waren ethnische, rassische oder familiäre Herkunft unbedeutend. Alle konnten sich der Bewegung anschließen, diese revolutionäre Regelung entfaltete in kurzer Zeit ein enormes Potenzial. Während der Islam heute als Inbegriff der Frauenunterdrückung gilt und dies schon den Suren des Koran zugeschrieben wird, hatten Mohammeds Formulierungen eine andere Wirkung. Der barbarische Umgang mit den Frauen in den arabischen Stämmen wurde beendet, zum ersten Mal wurden ihnen überhaupt Rechte zugestanden. Das altarabische Erbrecht wurde verändert, die Zahl der Ehefrauen begrenzt.
„Die Bestimmungen des Erbrechts verbesserten die Stellung der arabischen Frauen, die vordem kein Erbrecht besessen, wesentlich und machten sie dem Islam geneigt.“127
Entgegen landläufiger Vorurteile führten Mohammed und seine Nachfolger nicht die Verschleierung der Frau ein. Diese war schon vorher in Arabien bekannt. Einige Historiker meinen, der Schleier stamme aus dem Iran, wo er ein Symbol für die vornehme, wohlhabende Stellung einer Frau war, der türkische Archäologe Dr. Cig führt ihn auf die Tempelpriesterinnen der sumerischen Zivilisation zurück128. Auch christliche und jüdische Traditionen kennen die Verschleierung als Symbol für den Reichtum einer Frau. Auch ist für die Zeit nach der großen Expansion des Islam in Nordafrika und ganz Arabien keine umfassende Verschleierung bekannt.129 Es wäre allerdings absurd, von einer Befreiung der Frau zu reden, schließlich ging es um die Etablierung und Festigung einer auf Ungleichheit beruhenden Klassengesellschaft. Den Frauen wurde die Beziehung zu mehreren Männern verboten, das Patriarchat wurde durch die Regelungen des Koran – auf einem höheren Zivilisationsniveau als in der Stammesgesellschaft – gefestigt.
Innerhalb weniger Jahre bauten Mohammed und die ersten Muslime eine Bewegung auf, die von einer Gruppe von Flüchtlingen zu einer sozialen und militärischen Realität wurde, erst die heidnischen Herrscher von Mekka besiegte und dann die gesamte arabische Halbinsel im Sturm nahm. Nach dem Tod Mohammeds eroberten arabische Heere große Territorien der persischen und byzantinischen Großreiche. Diese hatten sich in lang anhaltenden Kriegen erschöpft, ihre Bevölkerung geplündert und terrorisiert. Sie hatten dem Ansturm der arabischen Truppen nichts entgegenzusetzen, weder militärisch noch sozial. Nur 120 Jahre nach dem Tod Mohammeds standen ganz Nordafrika, Spanien, der gesamte Nahe Osten, Persien sowie Gebiete im heutigen Afghanistan, Pakistan und Indien unter muslimischer Kontrolle.
Die heutigen Islam-GegnerInnen erwähnen den Dschihad, den „Heiligen Krieg“ und führen die muslimischen Eroberungen auf Gewalt- und Opferbereitschaft, auf den Fanatismus der muslimischen Kämpfer zurück, ziehen zu allem Überfluss Vergleiche zwischen den ersten muslimischen Eroberungen und der Migration von Menschen aus muslimischen Ländern nach Europa heute. Doch die Vorstellung, dass halbe Kontinente rein militärisch erobert, Dutzende Völker lediglich durch Fanatismus unterworfen werden können, liegt auf dem Niveau des Geschichtsverständnisses von Sandalenfilmen aus Hollywood. Byzanz und Persien verloren ebenso wie Rom rund 200 Jahre zuvor gegen die arabischen bzw. germanischen „Barbaren“, weil ihr soziales System, die Sklavenhaltergesellschaft, sozial und ökonomisch verfault war. Die Produktivität lag am Boden, die Landwirtschaft brach. Die militarisierten Riesenreiche sorgten nicht für Sicherheit, sondern verallgemeinerten die Unsicherheit. Der Ansturm der „Barbaren“ war erfolgreich, weil große Teile der BewohnerInnen der alten Reiche diese nicht als fremde Unterdrücker sahen, sondern als Befreier vom despotischen Joch.
Die rasche Ausdehnung des Islam ist laut Bebel unter anderem dem Umstand zuzuschreiben,
„dass die unterworfenen Ungläubigen mit einer im Orient bis dahin unbekannten Milde behandelt wurden und mit verhältnismäßiger Leichtigkeit sich ein gewisses Maß an Freiheit und Unabhängigkeit erkaufen konnten … In scharfem Gegensatz zu den heute in Europa noch weit verbreiteten Anschauungen, als sei der Mohamedanismus von fanatischer Unduldsamkeit gegen Andersgläubige beseelt gewesen, muss das Gegenteil konstatiert werden.“130.
Der ehemalige Vorsitzende der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), Abdullah Öcalan, fasst in seinem historischen Überblick „Gilgameschs Erben“ zusammen:
„Für den Islam ist es nicht schwer, nicht nur für die Wüstenstämme, sondern für alle Völker der Imperien dieser Zeit zu einer Inspiration der Erlösung zu werden. Ein wenig Gerechtigkeit und Respekt vor ihren Kulturen reicht schon aus, um sich Akzeptanz zu verschaffen.“131
Errungenschaften des frühen Islam
Der Islam vollendete die geschichtliche Aufgabe, die das Christentum begonnen hatte, schuf mit der Mobilisierung der Menschen aus den Randgebieten der Wüste, die bis dahin nicht den großen Reichen unterworfen waren, die militärische und soziale Kraft, welche die Reste der Sklavenhaltergesellschaf zertrümmerte:
„Der Islam erschließt weniger neue Gebiete der Zivilisation, als dass er bisher von der Zivilisation ausgeschlossenen Wüstenaraber und in ähnlicher Position befindliche Gruppen anderer Völker als frisches Blut der Zivilisation benutzt, die unter seiner eigenen ideologischen Identität erneuert wird. Im Kern der psychologischen Überlegenheit des Islam liegt das Zerbrechen der erniedrigenden mentalen und moralischen Struktur des Sklaventums und die Etablierung einer neuen Identität, die dem Menschen Ehre, Respekt und Gerechtigkeit verspricht. Ohne Zweifel hat der Islam die hervorstechendsten militärischen und politischen Aufgaben der feudalen Revolution übernommen.“132
Der Koran formulierte die Interessen der aufsteigenden Händlerklasse. Allah war der einzige Gott für alle Stämme und Völker, weil der Handel einen allgegenwärtigen Gott brauchte, der nicht willkürlich handelt, sondern allgemein verbindliche Regeln festlegt. Die Schari‘a war in dieser Phase der sozialen Entwicklung keine Ansammlung grausamer Bestrafungen sondern ein in sich geschlossenes Rechtssystem mit, soweit dies in einer Klassengesellschaft möglich ist, rechtlichen Garantien für Alle.133 Große Teile der Stämme und Völker in Nordafrika und dem Nahen Osten schlossen sich der muslimischen Gemeinschaft freiwillig an. Islamische Regierung und Rechtssystem erschienen als Garantie für Handel, ökonomischen Aufschwung und sozialen Aufstieg.
„Durch die Etablierung verlässlicher Staaten zwischen den großen Produktionszentren wird der Islam von Atlantik zum Pazifik, vom Indischen Ozean bis in die Steppen Sibiriens zu einer unabdingbaren Kraft der Entwicklung der Zivilisation.“134
Die Ausbreitung des Islams schuf stabile Regierungen und ermöglichte eine gewaltige Ausdehnung des Handels. Wissenschaften wie Medizin, Literatur und Mathematik entwickelten sich in den muslimischen Zentren im Übergang zum Hochmittelalter weiter als in Europa. Nichts könnte falscher sein, als den Islam als eine Ideologie zu bezeichnen, die von Beginn an rückständig und zerstörerisch gewesen sei. Das Kalifenreich war ein hoch organisierter Staat, im gesamten Reich gab es ein entwickeltes Post-, Münz- und Gewichtswesen. Es gab, anders als im zersplitterten Europa, keine Zoll- oder Handelschranken. Mit Staatsgeldern wurden umfangreiche Bewässerungssysteme vor allem an Euphrat und Tigris gebaut. Die Karawanseraien waren staatlich finanzierte Unterkünfte für Menschen und Tiere, um auch Mittellosen das Reisen zu ermöglichen. Auf dem Gebiet der Landwirtschaft und Gartenkultur war das islamische Reich weit fortgeschritten, die AraberInnen kultivierten Obstbäume und Gemüsearten wie zum Beispiel den Spargel und machten große Fortschritte bei der Konservierung von Obst und Gemüse.
Ebenfalls wurde eine Kultur der Debatte und der geistigen Auseinandersetzung gefördert und beeinflusste so die geistige Entwicklung Europas. Dissidenten und Oppositionelle wurden nicht auf den Scheiterhaufen geworfen, sondern durften ihre Ideen öffentlich vorstellen, zumindest während der Blütezeit des Kalifats, bevor das Regime immer despotischer wurde. Es gab verschiedene Sekten und religiöse Gruppen, einige wie die Motaziliten gingen so weit, allein die menschliche Vernunft zum Maßstab zu erheben und beschrieben den Koran lediglich als das Werk eines von Gott begeisterten Menschen, sahen darin keine göttliche Offenbarung. Die Zahiriten vertraten eine rein materialistische Auffassung, lehnten die Vorstellung eines Schöpfers ab und sahen im Lauf der Geschichte nur die Umgestaltung von Materie.135
Es besteht kein Zweifel, dass die europäische Renaissance, das Anknüpfen an den antiken Wissenschaften durch die entstehende bürgerliche Klasse, in jeder Hinsicht durch die Errungenschaften der arabisch-islamischen Wissenschaft, Technik und Kultur entscheidend befördert wurden. Islamische Expansion und das Kalifat retteten die Kenntnisse der antiken Kultur ins Mittelalter hinüber und trugen dazu bei, die Grundlagen der kapitalistischen Entwicklung Europas zu schaffen. Warum aber geriet diese weit entwickelte Region so sehr ins Hintertreffen, warum erfasste die Aufklärung nicht Persien, das Osmanische Reich und Arabien? Warum durchlief der Islam keine Reformation, die Region keine grundlegende Befreiung von der Dominanz der Religion, keine Säkularisierung?
Die Bourgeoisie in Europa
Keineswegs war die starre Ideologie des Islam die Ursache. Dieser war im Hochmittelalter weit flexibler als das Christentum. Auch die banale eurozentrische Sicht, das die heute armen Regionen schon immer arm waren, ihre Unterentwicklung demnach gar nicht erklärt werden müsse, haben wir oben widerlegt. Aufklärung und Modernisierung in Europa sind nicht vom Himmel gefallen, waren nicht die Erkenntnis schlauer Menschen. Neue Ideen brauchen einen Träger, eine soziale Klasse, welche die Ideen entwickelt und sie in materielle Realität umsetzt. Aufklärung und Säkularisierung sind Ausdruck der Interessen der Klasse der Kapitalisten, der Bourgeoisie. Sie sind ihre Waffen im Kampf gegen die Herrschaft von Adel und Feudalherren, zur Herausbildung kapitalistischer Produktionsverhältnisse, von Nationalstaaten und kolonialer Expansion.
Kein islamisches Land hat diese bürgerliche Klasse hervorgebracht. Während das rückständige, bornierte, karge, zersplitterte Europa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert Umwälzungen und Bürgerkriege erlebte, sich in den Städten neue Schichten und Klassen formierten und um die Macht kämpften, sich Produktion und Verteilung änderten, hatten die Machtkämpfe, Kriege und Eroberungen in Persien und dem Osmanischen Reich keine größeren Folgen für die Produktions- und Herrschaftsverhältnisse. Bauernaufstände entwickelten sich nicht zu machtvollen Klassenkämpfen – ihnen fehlten sowohl der verarmte Landadel als auch die städtischen Bürger als Bündnispartner – sondern blieben regional begrenzt und scheiterten an der Repression der mächtigen Zentralreiche. Statt zu Revolutionen kam es lediglich zu kläglichen Palastrevolten und der Ablösung der einen Dynastie durch die nächste:
„Die … Epoche vom 15. bis zum 20. Jahrhundert lässt sich für die islamischen Gesellschaften als eine undurchdringliche Finsternis beschreiben. Nirgendwo lässt sich ein Anzeichen von Entwicklung ausmachen.“136
Die islamische Ausdehnung leistete zwar einen wichtigen Beitrag zur Beseitigung der Sklavenhaltergesellschaft und zur Durchsetzung feudaler Verhältnisse, doch die Produktionsverhältnisse im Kalifat und seinen Nachfolgereichen waren genau genommen nicht feudalistisch. Stattdessen herrschte in den islamischen Staaten die von Karl Marx so genannte „asiatische Produktionsweise“.
Der europäische Feudalismus war gekennzeichnet durch die abhängige Bauernschaft, welche gegenüber den einzelnen Feudalherren zu Abgaben verpflichtet und an den Boden gebunden war. Die Zentralmacht war schwach entwickelt, es gab keine einheitliche Rechtsprechung oder Währung. Die Städte waren keine Verwaltungszentren großer Reiche, keine großzügig angelegten architektonischen Wunder wie in den islamischen Staaten, waren viel kleiner als Bagdad, Córdoba oder Isfahan. Aber sie hatten ein höheres Maß an Unabhängigkeit. In ihnen entwickelten sich Formen der Produktion, die sich von der agrarischen Wirtschaft lösten, entwickelten sich über Handwerk und Handel neue Klassen, die mehr und mehr in offenen Interessengegensatz zu Feudalherren, Königen und Kirche gerieten. Die Bourgeoisie, die sich zuerst in den norditalienischen Stadtstaaten zu einer neuen Klasse formierte, wurde zum Gegengewicht gegen Kirchen und Königtum und beschränkte zunehmend deren Macht.
Die asiatische Produktionsweise ist im Gegensatz zum europäischen Feudalismus von einer starken Zentralmacht geprägt, die während des historischen Aufstiegs eines Landes in der Lage ist, große Infrastrukturmaßnahmen auf den Weg zu bringen. Oftmals, allerdings nicht im Fall des Iran, ist die im großen Maßstab organisierte Bewässerung ein Kennzeichen der asiatischen Produktionsweise. Statt unabhängiger und vielfältiger Zwischenklassen existieren große Bürokratien oder Aristokratien, welche in den Provinzen die Zentralmacht vertreten und für die Eintreibung von Steuern zuständig sind. Die bäuerlichen Massen sind nicht gegenüber den einzelnen Feudalherren tributpflichtig, sondern gegenüber dem Reich. Ein Teil des bäuerlichen Mehrprodukts wird direkt durch die bürokratischen Vertreter der Zentralmacht angeeignet. Das führt dazu, dass sich der Klassenkampf zwischen den Bauern und den Herrschenden als Kampf um die Höhe der Steuern entwickelt.
In der Phase der islamischen Expansion wuchsen auch die Staatsfinanzen. Durch das System, Steuern zuerst nur von tributpflichtigen Nicht-Muslimen zu kassieren und diesen dafür ihre religiösen und kulturellen Freiheiten zu belassen, floss reichlich Geld in die staatlichen Kassen. Doch daraus resultierte auch eine hohe Bereitschaft, zum Islam zu konvertieren. Zur Finanzierung des umfangreichen staatlichen Apparates mussten schon bald indirekte Steuern von allen erhoben werden:
„Früher waren im Kalifenreich Konsumsteuern unbekannt, diese wurden jetzt in ausgedehntem Maße erhoben … es kam vor, dass die verschiedenen Steuern mehr als die Hälfte des Bodenertrages oder des Einkommens verschlangen.“137
Viele islamische Städte waren prächtig, aber zu groß. Der Aufwand zu ihrer Ernährung und Finanzierung war enorm, zu große Anteile des Mehrprodukts wurden für die Aufrechterhaltung von Staatsapparat, Bürokratie und – vor allem während des lang dauernden Niedergangs des Osmanischen Reiches – für den Hof, den Luxus einer kleinen Schicht von Herrschenden verbraucht:
„Als die Produktivität stagniert, wird es immer schwerer, die Existenz der in Anzahl und jeweiliger Größe rapide gewachsenen Städte aufrechtzuerhalten. Übermäßige Verstädterung und hohe Lebenshaltungskosten sind einer der zentralen Faktoren des Zerfalls.“138
Dieses System führte dazu, dass die Anreize, die Produktivität zu steigern, sehr gering waren. Die Bauern litten unter der Belastung durch Abgaben. Die Provinz-Bürokratien trieben das Geld für den Zentralstaat ein, behielten aber immer mehr für sich selbst. Die Macht des Kalifats und seiner Nachfolger verfiel faktisch. Nominell war das Osmanische Reich während seiner Stagnation ein hoch zentralisierter Staat, faktisch schwand die Kontrolle über die Provinzen. Die örtlichen Bürokratien konnten sich nicht zu einer unabhängigen Klasse entwickeln. In Europa existierte ein Landadel, der auf der Grundlage der Kleinstaaterei den Spielraum besaß durch Raub und Betrug seinen Besitz zu vergrößern. Die Bürokraten in den Osmanischen und Persischen Reichen zogen ihre Vorteile aus der Bewahrung des status quo. Natürlich gab es auch in Persien und Arabien Klassenkämpfe. Aber diese führten nicht zu Durchbrüchen. Die Städte konsumierten, es entwickelte sich dort keine unabhängige Klasse von Handwerkern und Händlern, welche den Kampf mit der Zentralmacht führen konnten. Die Rebellion der Bauern kehrte periodisch wieder, erschütterte die Gesellschaft jedoch nicht.
Die Dynamik des kulturell primitiven europäischen Feudalismus wird am Beispiel der iberischen Halbinsel besonders deutlich. Ohne Zweifel hatte die islamische Eroberung der Region einen großen kulturellen Aufschwung verschafft. Bebel erwähnt die Hygiene, die Architektur, den hohen Bildungsgrad, die Stellung der Frau im arabischen Reich auf spanischem Boden und die Lage der Juden:
„Am wohlsten befanden sich in Spanien die Juden im Gegensatz zu den Zeiten ihrer Verfolgung und Unterdrückung durch die Christen; sie erwiesen sich den Arabern sehr dankbar und wurden die eifrigsten Verfechter der neuen Ordnung der Dinge.“139
Den christlichen spanischen Feudalherren und der Kirche gelang jedoch über Jahrhunderte eine Mobilisierung vor allem der armen christlichen Massen gegen die maurisch-islamische Besetzung. Ab dem 8. Jahrhundert bis 1492 lief die Reconquista, die christliche Rückeroberung Spaniens. Das Bildungs- und Kulturniveau des christlichen Widerstandes lag weit unter dem der Mauren. So wurde Baden von den Christen als heidnische Sitte betrachtet, öffentliche Bäder daher zerstört. Bei der Eroberung islamischer Städte wurden Hochschulen und Bibliotheken gebrandschatzt, allein Kardinal Ximenes rühmte sich, die Vernichtung von einer Million Bücher angeordnet zu haben.140 Muslime und Juden, die am Besten ausgebildeten und fähigsten BewohnerInnen, wurden ausgeraubt und außer Landes gewiesen. Vor allem Juden waren mörderischen Verfolgungen ausgesetzt. Die Vernichtung von Kultur und Wissen und die Vertreibung der Muslime und Juden führte zum schnellen Verfall Spaniens, seiner Wirtschaft, seiner Städte.
Und doch war die Reconquista ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung des Kapitalismus. Die spanischen Ritter waren oft analphabetische Lumpen, auf niedrigem kulturellen Niveau, getrieben von der Aussicht, bei der Plünderung reiche Beute zu machen. Doch sie bildeten eine enorm dynamische soziale Schicht, waren Abenteurer und Raubritter. Die Beute aus der Plünderung des eroberten islamischen Kalifats schwand schnell, doch die spanischen Ritter entwickelten sich zu Konquistadoren, zu den Eroberern und Plünderern Lateinamerikas.
Abenteurer wie Pizarro und Hernandez mordeten sich durch das Reich der Inka, der Azteken und andere in Teilbereichen hoch entwickelten Imperien, die auf einer sehr starren Variante der asiatischen Produktionsweise basierten und führten deren schnellen Zusammenbruch herbei. Sie wurden damit zu wichtigen Exekutoren der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation, der Anhäufung von – meist durch Raub zusammengerafftem – Kapital in den Händen der Unternehmer und Bankiers in Europa. Spanien und Portugal selbst verarmten in kurzer Zeit und sanken zurück in mittelalterliche Dumpfheit. Aber das Silber, was die spanischen Eroberer durch die Sklavenarbeit von Millionen Indigenen den Anden entrissen, bildete den Grundstock für die Herausbildung großer kapitalistischer Unternehmen zuerst in England und Holland, den wahren Profiteuren der Eroberung Lateinamerikas.
Die wissenschaftlichen und künstlerischen Errungenschaften der islamischen Mauren in Spanien verschwanden in kurzer Zeit, zu starr war ihre Gesellschaft. Die kulturlosen Zerstörer der Reichtümer von Granada und Córdoba, der arme Landadel Spaniens hingegen, spielten ihre Rolle als Geburtshelfer des Kapitalismus und damit einer weiter entwickelten Stufe der Kultur.
Säkularisierung von oben
In den früh entwickelten kapitalistischen Ländern, in denen eine revolutionäre Bourgeoisie entstand, waren und sind die Ideen der bürgerlichen Gleichheit und der Trennung von Staat und Kirche in den Massen tief verankert. In der ersten großen bürgerlichen Revolution Mitte des 17. Jahrhunderts in England mobilisierte die Bourgeoisie noch mit religiösen, protestantischen Parolen. Doch die New Model Army des Kriegsherrn des Parlaments, Oliver Cromwell, war in ihrem Kern keine religiös-sektiererische Truppe, sondern eine politische Armee, eine Klassenarmee, zur Durchsetzung bürgerlicher Normen und der kapitalistischen Produktionsweise. Die Heere der französischen Revolution ab 1789 brauchten die Sprache der Religion nicht mehr, sie kämpften offen unter den bürgerlichen Parolen von Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit.
Es dauerte bis tief ins 20. Jahrhundert, bis auch in den rückständigen europäisch-christlichen Ländern die Macht der Kirchen entscheidend eingeschränkt wurde, zuletzt im nach-frankistischen Spanien, in der die Kirche während der faschistischen Diktatur von 1936 bis 1975 eine wichtige Rolle bei der Herrschaftssicherung spielte. Auch in Europa existieren heute viele Formen von religiösem Obskurantismus, in rückständigen Regionen übt die Kirche weiterhin ihre Macht aus, gehört auch immer noch zu den größten Grundbesitzern. Im ökonomisch mächtigsten Staat Europas, Deutschland, ist bis heute nicht die vollständige Trennung von Staat und Kirche vollzogen, dort kassiert der Staat die Kirchensteuer und in staatlichen Schulen werden christliche Lehren im Unterricht verbreitet. Doch ohne Zweifel gibt es zur Zeit kein Land christlicher Tradition, in der die Errichtung einer klerikalen Diktatur durch eine fundamentalistisch-christliche Strömung droht.
Dies hat jedoch nichts, aber auch gar nichts mit dem Charakter der christlichen Religion zu tun. Der mittelalterliche Katholizismus war totalitär, hat eine geistige Schreckensherrschaft über die Bauernmassen ausgeübt. Der frühe Protestantismus hat keineswegs die Philosophie bereichert, sondern war intellektuell vernagelt. Sein Verdienst besteht vor allem darin, die Tür geöffnet und die Allmacht der katholischen Kirche gebrochen zu haben. Die umfassende und tief gehende Säkularisierung der Massen in Europa ist Produkt des revolutionären Wirkens der Bourgeoisie und des Anknüpfens der Arbeiterbewegung an den Ideen der Aufklärung. Die europäischen Länder durchliefen daher mindestens zwei Wellen der Säkularisierung, erst unter der aufstrebenden Kapitalistenklasse, dann, gründlicher, bewusster, mit dem Aufstieg der Arbeiterbewegung. In der islamischen Welt fehlte jede revolutionäre Bourgeoisie und damit deren Ideenwelt.
Aufklärung, Säkularisierung und bürgerliche Ideologie traten den islamischen Ländern von außen entgegen, in Form des kolonial-imperialistischen Strebens der weiter entwickelten kapitalistischen Staaten, und später in Form von bürokratischen, teils repressiven Maßnahmen der eigenen herrschenden Elite. Der daraus resultierende Widerstand gegen die imperialistische Ausbeutung entwickelte eine widersprüchliche Form. So nahm im Iran die schiitische Geistlichkeit an diesem Widerstand teil. Anstatt immer unwichtiger zu werden, wurde ihre politische Rolle in der Gesellschaft gestärkt. Als 1890 die schwache und korrupte iranische Herrscherfamilie der Kadscharen der britischen Imperial Tobacco Corporation of Persia das Tabakmonopol für 50 Jahre übergab, führte das zur ersten Massenbewegung im modernen Iran, zu einem erfolgreichen Tabakboykott. Dabei verbündete sich das kleine städtische Bürgertum mit der schiitischen Geistlichkeit. In Abwesenheit einer starken nationalen Bourgeosie „fiel der schiitischen Geistlichkeit eine gewissermaßen ,nationale‘ Rolle zu: die des Hüters der Belange der iranischen Bevölkerung gegen ausländische Einflüsse einerseits, gegen die Konzessionsvergabe und Modernisierungsversuche der Kadscharenschahs andererseits.“141
Im Iran und der Türkei wurde versucht, eine Modernisierung von oben durchzusetzen. Mit den Atatürkschen Reformen der 20er Jahre wurden europäische Rechtsnormen und das lateinische Alphabet eingeführt. Die Trennung von Staat und Religion wurde formal sehr scharf durchgesetzt, bis hin zum Verbot für Studierende und Beamte, in öffentlichen Gebäuden das Kopftuch oder osmanische Kopfbedeckungen wie den Fez zu tragen. Der Kemalismus, die türkisch-nationalistischen, laizistischen Ideen des Präsidenten Mustafa Kemal Pascha, genannt Atatürk, wurden zur offiziellen Ideologie des militärisch-bürokratisch geprägten Einparteienstaates. Doch tiefe Wurzeln schlugen diese Reformen bei den Bauernmassen nicht. Lediglich die dünne städtische Schicht, die eng mit dem kemalistischen Staatsapparat verbunden war, fühlte sich mit diesen Ideen eng verbunden. Erst die großen Klassenkämpfe der jungen und dynamischen Arbeiterbewegung der Türkei ab Mitte der 1960er Jahre führten dazu, die Vorherrschaft traditioneller islamischer Ideen bei den Massen zurück zu drängen und moderne Werte und Ideen bei den Bauern und Arbeitern zu verankern. Die Säkularisierung in der Türkei hatte die Form bürgerlich-demokratischer Ideen überwunden, Aufklärung und Modernisierung erschienen den Massen in Form sozialistischer Ideen.
Im Iran versuchte der neue, selbst ernannte Schah Reza Khan eine kapitalistische Modernisierung des Landes ab 1925 durchzusetzen. Er verbot den Schleier und schränkte die Tätigkeit der Geistlichen ein. Doch er und ab 1941 sein Sohn stützten sich nicht auf eine breite soziale Basis, sondern auf eine dünne Schicht von Unternehmern, einen großen Beamten- und Militärapparat und – bis Anfang der 1960er Jahre – auf die Großgrundbesitzer. Sie traten den armen Massen als Beauftragte der imperialistischen Ausbeutung des Landes entgegen. Das Verbot des Schleiers ließ sich nicht durchhalten, vor allem Frauen aus ärmeren Schichten trugen diesen weiter. Der erste ernsthafte Versuch, die Verhältnisse auf dem Land zu verändern, die Weiße Revolution der frühen 60er Jahre, führte zu erbittertem Widerstand der schiitischen Geistlichkeit. Diese bekämpfte die Agrareform zwar aus reaktionären Gründen, konnte aber wegen ihres Widerstandes gegen das verhasste Pahlavi-Regime auch bei den armen Schichten an Ansehen gewinnen.
Auch im Iran war es vor allem die Entwicklung der Arbeiterbewegung, das Wachstum der Tudeh-Partei nach dem 2. Weltkrieg und die Entwicklung der Fedayin sowie der studentischen Gruppen in den 1970er Jahren, welches die Ideenwelt von Teilen der Arbeiterklasse und der Bauern sowie der städtischen Intellektuellen grundlegend und tiefgehend modernisierten und säkularisierten. Nicht der Schah, seine modernen Technokraten und die schwache, vom Imperialismus abhängige Bourgeoisie waren in der Lage, das Denken der Volksmassen entscheidend zu modernisieren, nur die Arbeiterbewegung hatte diese geistige Kraft.
Niederlagen der Arbeiterbewegung
In der Periode nach dem 2. Weltkrieg entstanden im Nahen Osten kommunistische Massenparteien, meist moskau-stalinistischer Prägung. Linke Ideen dominierten die öffentliche Diskusssion, der politische Islam spielte nur eine Nebenrolle. In einer Reihe von Ländern ergaben sich Möglichkeiten für die Arbeiterklasse, den Kapitalismus zu stürzen. Diese Möglichkeiten wurden nicht genutzt, weil die KPen sich nur als Hilfstruppe ihrer bürgerlichen Bündnispartner sahen. Die starke Kommunistische Partei des Irak sah ab 1958 den nationalistischen General Qasim als Repräsentanten des bürgerlichen Fortschritts, als „alleinigen Führer“ und blieb politisch in seinem Schlepptau. Sie verschob, „in einem Kniefall vor Moskau, das den Irak nur als Handelsmasse im Kalten Krieg ansah“, die Verstaatlichung der Ölindustrie. Bis 1963 verlor sie ihre Basis und konnte nach dem Putsch der Baath-Partei blutig unterdrückt werden.142 Im Iran versagten Tudeh-Partei und Fedayin 1978/79 dabei, die Khomeini-Bewegung korrekt zu analysieren und ein unabhängiges Programm für eine Machteroberung der Arbeiterklasse zu entwickeln.
Der sogenannte „arabische Sozialismus“ der bürokratischen und Militär-Eliten um Nasser in Ägypten oder die Baath-Parteien in Irak und Syrien war kein Sozialismus, sondern Nationalismus. Die Regime dieser Prägung waren nicht willens, den Kapitalismus zu stürzen, in der Folge blieb auch ihr Panarabismus, die Idee, Arabien politisch und ökonomisch zu einigen, wirkungslos, weil alle Regime sich auf ihren eigenen Staatsapparat und ihre nationale Kapitalistenklasse stützten. Irak, Ägypten und Syrien entwickelten sich zu Diktaturen gegen das einfache Volk; Saddam Hussein organisierte im Irak eine brutale national-religiöse Unterdrückung von Kurden und Schiiten bis hin zum Massenmord. Die Enttäuschung mit dem für links gehaltenen Panarabismus führte dazu, dass der Widerstand gegen die Regime z.B. in Ägypten, Algerien und Teilen des Irak sich auf islamistische Ideen beruft.
In Palästina erwies sich die weltlich orientierte, bürgerlich-nationale Führung um Arafats PLO als korrupt und unfähig, die Befreiung der besetzten Gebiete und überhaupt irgendeinen Fortschritt zu erreichen. Die linken Organisationen wie die PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas), die Anfang der 1970er Jahre noch über einen großen Einfluss verfügten, hatten kein von der PLO unabhängiges Programm. Sie blieben im Rahmen des Nationalismus, waren nur „radikaler“ in ihren Kampfmethoden und trieben den individuellen Terrorismus auf die Spitze. Dieser politische Bankrott führte dazu, dass in Palästina islamistische Gruppen wie die Hamas einen Massenanhang gewannen.
Die islamischen Länder waren nicht immer von fundamentalistischen Strömungen dominiert. Während des Aufschwungs der Arbeiterbewegung wurden religiöse Ideen in den Hintergrund gedrängt, blieben aber vor allem in der Landbevölkerung, den Mittelschichten sowie bei den städtischen Armen verankert. Die verpassten Chancen der Arbeiterbewegung, der Niedergang der arabisch-nationalen Regime sowie die Unfähigkeit der bürgerlich-nationalen und linken Organisationen, bezüglich der Befreiung vom Imperialismus Fortschritte zu machen, führten zu einer Diskreditierung bürgerlich-demokratischer und sozialistischer Ideen. Der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten Osteuropas vertiefte diese ideologische Krise. In dieses Vakuum stießen die Islamisten. Das führte zu einer religiösen Durchdringung auch in Ländern, in denen die Stärke linker Ideen die Dominanz weltlicher Ideen ermöglicht hatte, wie im Irak und in Palästina.
Verstärkt wurde dieser Prozess durch die weltweite Durchsetzung neoliberaler Verhältnisse. Der Abbau staatlicher Dienste und Subventionen vertiefte erneute die massenhafte Armut im Nahen Osten. Dies nutzen islamistische Organisationen, finanziert von reichen Hintermännern z.B. in Saudi-Arabien und den Golfstaaten. Sie boten gut ausgestattete Koranschulen als Alternative zu qualitativ schlechten staatlichen Schulen an, organisierten Hilfen für die Armen, als die Staaten ihre Sozialleistungen und Subventionen kürzten. Diese Methoden setzen Islamisten auch in Europa ein, im Nahen Osten entfalteten sie eine größere Wirkung.
Die westlichen Staaten, vor allem der US-Imperialismus, sahen die Islamisten als kleineres Übel und setzten sie ab Mitte der 1970er Jahre bewusst gegen die Linke und den Sowjetblock ein. In Afghanistan wurden die reaktionären Mudschahedin vom CIA ausbildet und finanziert, um das mit der Sowjetunion verbündete stalinistische Regime zu zerschlagen. Dieses hatte erstmals Freiheitsrechte für die afghanischen Frauen eingeführt – wenn auch mit komplett falschen, stalinistischen Methoden. Frankreich ließ Khomeini während des revolutionären Aufstandes 1979 in den Iran reisen, seine Reden wurden auf persisch in den Iran hinein gesendet. Für den Imperialismus war der Ayatollah das kleinere Übel verglichen mit einer erfolgreichen Arbeiterrevolution im Iran. Die türkischen Putschgeneräle von 1980 zerschlugen die Linke gewaltsam und gaben islamistischen Gruppen den Spielraum, das geistige Vakuum zu füllen, was die Linke hinterließ. Sie schwächten das staatliche Bildungswesen und erweiterten die Möglichkeiten für Koran-Schulen.
In den islamischen Ländern fehlt die ökonomische und Klassenbasis für eine Aufklärung bürgerlichen Typs. Nur eine neu aufzubauende sozialistische Arbeiterbewegung wird in der Lage sein, eine geistige Modernisierung dieser Länder herbeizuführen. Der afghanische Intellektuelle Nadschim ud-Din Bammat schrieb 1959:
„Der heutige Islam muss eine Reihe von Revolutionen gleichzeitig durchleben: eine religiöse Revolution wie die Reformation; eine intellektuelle und moralische Revolution wie die Aufklärung des 18. Jahrhunderts; eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Revolution wie die europäische industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts.“143
Hinzugefügt werden muss, dass all diese Aufgaben heute zusammenwachsen in der Aufgabe der Arbeiterklasse, den Kapitalismus abzuschaffen. Ohne diesen Kampf werden die islamischen Länder Horte der Rückständigkeit bleiben.
Massenreligiosität im Iran
Teile der iranischen Bevölkerung, vor allem Frauen und Jugendliche, hassen das islamistische Regime aus tiefem Herzen. Die Grausamkeiten, die Lügen, die Borniertheit sind für viele kaum auszuhalten. Die weite Verbreitung moderner Kommunikation und das relativ hohe Bildungsniveau machen den Widerspruch zum Regime des mittelalterlichen Stumpfsinns nur schärfer. Das Mullah-Regime weist in seiner totalitären Ausprägung Elemente auf, die denen des Faschismus ähnlich sind. Die Basidschi-Schläger, rekrutiert aus ärmeren Schichten, finanziell vom Regime unterstützt, erinnern an die SA, Pasdaran und andere „Sittenwächter“ bespitzeln die Bevölkerung wie Blockwarte.
Es sind vor allem diese Frauen und Jugendlichen, welche eine Speerspitze des Kampfes gegen das Ahmadinedschad-Regime bilden. Sie waren am Beginn auf der Straße, sie haben geholfen, die Proteste zu radikalisieren, sie haben geholfen, dass nicht nur der Ruf „Wo ist meine Stimme?“ durch die Straßen von Teheran, Täbris und Isfahan schallt, sondern dass auch gerufen wird „Nieder mit der islamischen Republik“ oder „Tod dem Diktator“. Viele von ihnen hassen nicht nur das Regime, sondern auch die islamische Religion. Das ist verständlich und die Forderung nach Trennung von Staat und Religion ist zentral. Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass breite Schichten der iranischen Bevölkerung – gerade der Landbevölkerung und der städtischen Armen – sich als islamisch sehen. Ahmadinedschad ist nicht der Schah. Auch er stützt sich in erster Linie auf Repression und Angst, aber gleichzeitig verfügt er über eine breitere gesellschaftliche Basis als der Schah 1978.
Den politisch bewussten Schichten der Jugend, der Frauen und der ArbeiterInnen fällt daher eine besondere Verantwortung zu: Während sie entschlossen gegen die klerikale Diktatur kämpfen, sollten sie nicht der Versuchung erliegen, einen Kampf gegen die Gläubigen selbst zu führen. Während es wichtig ist, dass Frauen das Kopftuch ablegen, um ihre Unabhängigkeit von der Diktatur zu demonstrieren, sollte das Ablegen des Kopftuches nicht als Bedingung definiert werden, um als Verbündete im Kampf akzeptiert zu werden. Das führt uns zurück an den Anfang des Kapitels, zu Lenins Formulierungen. In seinem schon oben zitierten Text „Sozialismus und Religion“ heißt es weiter:
„… Die Einheit dieses wirklich revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für ein Paradies auf Erden ist uns wichtiger als die Einheit der Meinungen der Proletarier über das Paradies im Himmel …“
Nach Lenin dürfe nicht zugelassen werden, dass der revolutionäre Kampf geschwächt werde „… um drittrangiger Meinungen oder Hirngespinste willen (…), die rasch jede politische Bedeutung verlieren und durch den ganzen Gang der ökonomischen Entwicklung bald in die Rumpelkammer geworfen werden …“144
Rukhsana Manzoor vom Socialist Movement Pakistan, der pakistanischen Sektion des CWI, konkretisiert dies in Bezug auf die im Iran und in Europa viel diskutierte Frage des Schleiers:
„Medien, Politiker und religiöse Führer versuchen den Eindruck zu vermitteln, dass (der Schleier) die zentrale Sache für die Frauen ist …. Aber das Entscheidende für die Frauen ist nicht der Schleier sondern die Notwendigkeit sich von Ausbeutung und entsetzlichen Lebensbedingungen zu befreien … Häusliche Gewalt, soziale, politische und wirtschaftliche Diskriminierung, Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger, Bildung, Gesundheit und geschlechtliche Diskriminierung sind die zentralen Probleme, denen sich die Frauen aus der Arbeiterklasse gegenüber sehen – mit Schleier und ohne.“145
Dies ändert nichts daran, dass jeder Kampf der Frauen gegen den Schleier- und Kopftuchzwang unterstützt werden muss, dass dieser Kampf gerade im Iran zu einem wichtigen Symbol werden kann. Aber aus dieser Analyse folgt, dass SozialistInnen es nicht zur Bedingung eines gemeinsamen Kampfes machen, die Verschleierung als Problem zu sehen, dass sie dafür streiten, dass diese Frage nicht die Klassenfrage überdeckt. Die Wirtschaftskrise, Kürzungen und Privatisierungen werden zu Angriffen auf die Arbeiterklasse und zu Möglichkeiten des Widerstandes führen, auch religiöse Schichten geraten mehr und mehr in Gegensatz zum Regime. Es ist die Aufgabe der sozialistischen Kräfte in der Bewegung, Losungen und Strategien vorzuschlagen, welche die zentralen demokratischen Forderungen mit den sozialen Interessen der Arbeiterklasse verbinden. Entscheidend bleibt, die Gemeinsamkeiten der Klasse zu betonen, über religiöse Grenzen hinaus.
Islamophobie in Europa
Die Frage des Islams ist nicht nur für den Kampf im Iran wichtig. Für iranische ExilantInnen hierzulande aber auch für die Linke insgesamt stellt sich die Frage, wie mit dem Islam in Europa umzugehen ist. Während der Fundamentalismus im Iran, Mittelasien und Arabien eine reale Gefahr für die Arbeiterbewegung und die Linke ist, basieren die Warnungen vor einer „Islamisierung Europas“ auf Hysterie oder dem Kalkül, dieses spaltende Thema in den Vordergrund zu schieben.
Das offensichtlich Reaktionäre am Fundamentalismus wird von bürgerlichen Politikern und vielen Medien gezielt benutzt, um damit die ganze Religion, deren AnhängerInnen und die EinwanderInnen aus vorwiegend muslimischen Ländern, ungeachtet ihres persönlichen Glaubens, zu diskreditieren. Dem Islam insgesamt werden Phänomene zugeschrieben, die wie Terroranschläge nur von extremen Fundamentalisten gutgeheißen werden. Dem Islam zugeschriebene frauenfeindliche Elemente wie die Verschleierung, die Abschottung der Töchter, die aggressive Diskrimierung Homosexueller, die sogenannten „Ehrenmorde“, sind hingegen keine originär islamischen Regeln, sondern sind – in unterschiedlicher Ausprägung – Elemente vieler feudaler, patriarchalischer Gesellschaften.
Die meisten rassistischen und faschistischen Gruppen sind in Richtung des Kampfes gegen den Islam umgeschwenkt. Angesichts der unleugbaren Realität der multiethnischen Gesellschaften und der strukturellen Schwäche des klassischen Rassismus nutzen die Rechten das Thema, um breitere Schichten zu erreichen. Die Feindschaft gegen den Islam ist die freundlich-liberale Maske, hinter der die Fratze des Rassismus steckt.
Einige der unzähligen „Islam-Gegner“, welche das Internet bevölkern, mögen es ernst meinen mit Liberalität, Gleichberechtigung von Frauen und Ablehnung von Antisemitismus. Doch wer glaubt, eine Form von Diskriminierung fördern zu können und die anderen dabei zurückzudrängen, der täuscht sich. Die „Islam-KritikerInnen“ aus dem liberalen oder ex-liberalen Lager wie Ralph Giordano oder Necla Kelek machen einen Denkfehler. Sie denken, sie könnten gnadenlos auf die islamische Religion eindreschen und am Ende würde damit nur die „Islam-Kritik“ gestärkt. Tatsächlich führt die aggressive „Islam-Kritik“ zur Ethnisierung der gesamten politischen Debatte und trägt Antisemitismus und Rassismus im Huckepack. Sie sagen „Islam“, aber bei denjenigen, die offen dafür sind, nationale oder religiöse Gruppen für soziale und politische Missstände verantwortlich zu machen, kommt was anderes an. Diese machen nicht den feinen Unterschied zwischen Arabern und Juden, für sie ist die Agitation gegen Muslime eine Bestätigung ihrer Abneigung gegen „Ausländer“, „die Türken“ oder „die Verrückten aus dem Nahen Osten“. Gruppen wie ProNRW und das Islamhasser-Blog Politically Incorrect machen sich dies bewusst zu Nutze. Sie sehen die Propaganda gegen Moscheen, Minarette und den Islam als Einfallstor, um grundlegend rassistische Ideen zu verbreiten und den Hass gegen Nicht-Deutsche zu steigern. „Antideutsche“ und bürgerliche „Islam-KritikerInnen“ hingegen befördern dumpf-deutsche Ideen zumeist durch ihre Ignoranz.
Die Gleichsetzung der Fundamentalisten mit dem Islam ist von bürgerlichen Politikern und Medien nach 9/11 vorangetrieben worden, um die Kriege in Afghanistan, Irak und anderswo ideologisch abzusichern. In Deutschland spielt die Anti-Islam-Propaganda auch bei der Debatte um Bildungschancen und Arbeitslosigkeit eine Rolle. So sollen „Bildungsferne“ und „mangelnde Integration“ junger Menschen aus muslimischen Ländern angeblich für deren schlechten Ausbildungsstand verantwortlich sein, nicht etwa die Unterfinanzierung des Bildungswesens, die frühe Auslese in den deutschen Schulen, die Arme und MigrantInnen benachteiligt, die Diskriminierung bei der Jobsuche. Die Hetzreden des ehemaligen Berliner Finanzsenators Sarrazin (SPD) gegen Araber und Türken146 verbinden Islamophobie mit offenem Klassenhass eines Kapitalvertreters gegen die Armen und haben seitens vieler Zeitungskommentatoren und bürgerlicher Politiker Zustimmung bekommen.
MarxistInnen fordern von den MigrantInnen nicht die „Integration“ in die deutsche Gesellschaft. Sie fordern gleiche Rechte, gleiche Freiheiten, gleichen Respekt für alle. Und argumentieren für die gegenseitige Integration deutscher und migrantischer Arbeiter und Jugendlicher im Kampf für ihre Klasseninteressen. Die Hindernisse für diesen gemeinsamen Kampf müssen aus dem Weg geräumt werden. Auch hier gilt, dass der Streit über die verschiedenen Auffassungen über das Himmelreich und die dazugehörigen Traditionen die Frage des gemeinsamen Klassenkampfes nicht überlagern darf. Eine abstrakte anti-religiöse Haltung, die religiösen Menschen den Respekt verweigert, beinhaltet jedoch die Gefahr, dass dieses Ziel nicht erreicht wird. Die Trennung von Staat und Religion ist eine notwendige Maßnahme, die Subventionierung der katholischen und evangelischen Kirchen mit Steuergeldern und konfessioneller Unterricht an staatlichen Schulen gehören abgeschafft. Die Kehrseite dieser Forderung ist allerdings, dass die Linke Religion als Privatsache betrachten und für deren Freiheit eintreten muss. MarxistInnen sind nicht dafür, dass Moscheen gebaut werden. Aber wir lehnen es ab, dass der deutsche Staat das Recht einschränkt, mit privaten Geldern Moscheen zu errichten, wir verteidigen das Recht auf den Bau von Moscheen, nach eigenen Vorstellungen und Bauplänen.
Wir kämpfen in den islamischen Ländern gegen den Zwang zum Kopftuch oder Schleier. Wir lehnen es ab, dass ein Staat Menschen vorschreibt, welche Kleidung sie tragen, was sie denken sollen, wie sie ihre Sexualität ausleben. Das heißt allerdings auch, dass wir in Deutschland und anderen Ländern das Recht von Frauen verteidigen, Kopftuch, Schleier oder auch Burka zu tragen. In vielen Fällen ist das Tragen des Kopftuches ein Ausdruck patriarchalischer Herrschaft über oder Ausdruck der Akzeptanz patriarchalischer Ideologie durch die Frau. Viele Muslima in Deutschland und Europa sehen jedoch das Kopftuch auch als Symbol des Stolzes, der Selbstbehauptung gegenüber einer Gesellschaft, von der sie sich zunehmend entfremdet fühlen. Auffällig ist, dass es oftmals gut gebildete junge Frauen sind, die bewusst das Kopftuch tragen.
MarxistInnen stehen in dieser Auseinandersetzung auf der Seite der Frau. Wenn eine Frau ausbrechen will aus patriarchaler Unterdrückung, sich von Mann und Familie trennen oder den Schleier ablegen will, dann unterstützen wir sie. Wir unterstützen homosexuelle MigrantInnen, die sich gegen die Homophobie in vielen Migranten-Communities zur Wehr setzen. Wir lehnen es allerdings ab, dass europäische Staaten eine Kleiderordnung erlassen. Es wäre absurd zu glauben, dass der deutsche Staat, der den MigrantInnen seit Jahrzehnten Rechte vorenthält und sie in den letzten Jahren zu Sündenböcken gemacht hat, Schritte zur Befreiung der Frau unternehmen will oder kann. Staat und Politiker, die angeblich für die Rechte der Frauen eintreten, handeln tatsächlich entgegengesetzt. Sie haben durch Änderungen im Ausländerrecht die Frauen stärker an ihre Ehemänner gefesselt, auch wenn diese gewalttätig sind147.
Wir können es nachvollziehen, wenn Linke aus dem Iran oder der Türkei auf Grundlage ihrer Erfahrungen mit dem Islamismus auch in Deutschland ungeduldig sind und Repressionen des deutschen Staates gegen die Ausübung des Islams gutheißen und beispielsweise den Bau von Moscheen ablehnen. Aber dieser Weg führt in die Irre. Der Kampf für demokratische Rechte ist unteilbar. Die Unterdrückung einer Religion, auch wenn sie in der milden Form von Ablehnung von Bauanträgen für Moscheen oder per Kopftuchverbot für Lehrerinnen erfolgt, treibt den Keil tiefer in die Arbeiterklasse hinein, spaltet entlang religiöser und nationaler Linien, führt dazu, dass die öffentliche Diskussion ethnisiert und kulturalisiert wird, dass von den sozialen Widersprüchen und Interessen abgelenkt wird.
Die Arbeiterbewegung und die Linke in Deutschland müssen den MigrantInnen, vor allem der Jugend, beweisen, dass sich ein gemeinsamer Kampf lohnt, dass durch die Einheit der Lohnabhängigen und der Armen das Leben für Alle verbessert werden kann. So kann die Entfremdung junger MigrantInnen von der deutschen Gesellschaft gestoppt, eine Integration in die gemeinsame Arbeiterklasse befördert werden, denn die „… Einheit dieses wirklich revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für ein Paradies auf Erden ist uns wichtiger als die Einheit der Meinungen der Proletarier über das Paradies im Himmel …“148
118 August Bebel, Die Mohamedanisch-Arabische Kulturperiode, S. 61. August Bebel war einer der Begründer der Arbeiterbewegung in Deutschland und bis zu seinem Tod 1913 Vorsitzender der SPD. Als führender Marxist verfasste er viele wichtige und bekannte Schriften, so z.B. „Die Frau und der Sozialismus“. Die hier zitierte Schrift über die Geschichte des Islams, die zu seinen unbekannteren Werken gehört, ist vor allem eine Polemik gegen die christlich-eurozentrische Sicht, welche das Abendland als einzigen Träger der Kultur beschreibt. Heute wird der Begriff mohammedanisch im Deutschen nicht mehr verwendet, stattdessen wird muslimisch bzw. islamisch verwendet.
119 www.ex-muslime.de/indexVerein.html.
120 Das Islamhasser-Blog Politically Incorrect erwähnt Mina Ahadi lobend und interviewt sie. Unbekannt ist, ob Ahadi wusste, von wem sie interviewt wird; www.pi-news.net/2009/11/video-interview-mina-ahadi/.
121 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, S. 378ff.
122 Ebd.
123 W.I. Lenin, Sozialismus und Religion, in Nowaja Schisn Nr. 28., 3. Dezember 1905, nach: Lenin, Werke, Band 10, S. 70-75.
124 Reza Aslan, Kein Gott außer Gott, S. 50-51, München, 2008.
125 Abdullah Öcalan, Gilgameschs Erben, Bd. I, S. 229, Bremen 2003.
126 August Bebel, Die Mohamedanisch-Arabische Kulturperiode, S. 79.
127 Ebd., S. 133.
128 Rukhsana Manzoor, The veil and Muslim Women, www.socialistworld.net/z/bin/kw.cgi/show?id=2436.
129 Ebd.
130 August Bebel, Die Mohamedanisch-Arabische Kulturperiode, S. 79.
131 Abdullah Öcalan, Gilgameschs Erben, S. 255.
132 Ebd., S. 256.
133 „Es genügt hervorzuheben, dass die Araber das einziger Volk im ganzen Mittelalter waren, die ein wissenschaftlich bearbeitetes Rechtssystem besaßen. Wie ihre Gelehrten sich bemühten, die Überlieferungen Mohammeds und seiner ersten Nachfolger gewissenhaft zu sammeln und zu ordnen und kritisch zu beleuchten, so fuhren sie fort, alle Gebiete des Staats- und öffentlichen Lebens gewissenhaft zu untersuchen und überall Rechtsnormen aufzustellen. Dadurch bildeten sich sehr frühzeitig juristische Schulen und Lehrsysteme …“, August Bebel, Die Mohamedanisch-Arabische Kulturperiode, S. 131.
134 Abdullah Öcalan, Gilgameschs Erben, Bd. I, S. 258
135 August Bebel, Die Mohamedanisch-Arabische Kulturperiode, S. 145
136 Abdullah Öcalan, Gilgameschs Erben, Bd. I, S. 280
137 August Bebel, Die Mohamedanisch-Arabische Kulturperiode, S. 106
138 Abdullah Öcalan, Gilgameschs Erben, Bd. I, S. 285
139 August Bebel, Die Mohamedanisch-Arabische Kulturperiode, S. 160
140 Ebd., S. 160
141 Monika Gronke, Geschichte Irans, München 2003, S. 93.
142 Tariq Ali, Bush in Babylon, London/New York/München 2003, S. 73ff.
143 Der Islam und die Aufklärung, Übersetzung eines englischsprachigen Textes von Neil Davidson, http://marx21.de.
144 W.I. Lenin, Sozialismus und Religion, Dezember 1905, Nowaja Schisn Nr. 28., 3. Dezember 1905, nach: Lenin, Werke, Band 10, S. 70-75.
145 Rukhsana Manzoor, The veil and Muslim Women, www.socialistworld.net/z/bin/kw.cgi/show?id=2436.
146 Interview mit Lettre International, September 2009, http://de.wikipedia.org/wiki/Thilo_Sarrazin#Interview_mit_Lettre_International.
147 „In Sonntagsreden fordern Politiker besseren Schutz von Ausländerinnen vor Gewalt in der Ehe. Doch die Behörden drohen den geschundenen Frauen nach Angaben von Hilfsorganisationen immer öfter mit Abschiebung. Die Folge: Migrantinnen bleiben bei ihren prügelnden Ehemännern.“ SPIEGEL-Online, 13.10.2007.
148 W.I. Lenin, Sozialismus und Religion, S. 70-75.