Israel/Palästina: Schluss mit den Verhaftungen von Jugendlichen und mit der Besatzung!

Foto: Haim Schwarczenberg, https://schwarczenberg.com

Internationale Solidarität nötig

Am 19. Dezember wurden die 16 Jahre alte Ahed Tamimi und ihre zwanzigjährige Cousine, Nur Tamimi, bei einer Armee-Razzia in ihrem Haus in Nabi Saleh, einem Dorf im Westjordanland verhaftet. Aheds Mutter, Neriman Tamimi, wurde festgenommen, als sie zur Polizeiwache ging, um in Erfahrung zu bringen, was mit ihrer Tochter geschieht. Die Laptops der Familie und ihre Telefone sind von der Armee konfisziert worden.

Von Neta Most, „Tnua’t Maavak Sozialisti“/„Harakat Nidal Eshtaraki“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Israel/Palästina)

All dies war das Ergebnis von Filmaufnahmen, auf denen die beiden jungen Frauen zu sehen sind, wie sie zwei bewaffneten Soldaten in gepanzerter Montur gegenüber stehen und versuchen, diese mit bloßen Händen aus ihrem Haus zu drängen. Minuten später ist ein Verwandter von Ahed, der 15-jährige Muhammad Tamimi schwer verletzt worden, nachdem er von einem Metallgeschoss mit Gummiüberzug am Kopf getroffen wurde.

Aus den Aufnahmen ist klar ersichtlich, dass die Soldaten zu keinem Zeitpunkt verletzt wurden oder irgendwie in Gefahr waren. Sie zückten zwar ihre Waffen, verließen den Ort des Geschehens aber, ohne die Frauen zu verhaften oder sie anzugreifen. Die Veröffentlichung dieses Mitschnitts löste unter israelischen Rechten einen Sturm der Entrüstung aus. Dieser reichte vom faschistischen Rechtsextremen Benzi Gupstein und „The Shadow“ (einem abgehalfterten Rapper, der zum Fürsprecher der extremen Rechten in den sozialen Medien geworden ist) über Verteidigungsminister Lieberman bis hin zum Bildungsminister Bennet, der die Inhaftierung des Mädchens forderte, das es offenkundig gewagt hatte, einen Soldaten aus ihrem Haus in den besetzten Gebieten zu werfen.

Die Verhaftungen, über die in allen Medien berichtet wurde und die von einem israelischen Armeesprecher dokumentiert und veröffentlicht worden waren, scheinen wie ein rachsüchtiger Akt, der darauf abzielt zu zeigen, dass die Soldaten dem Protest unbewaffneter Bewohnerinnen nur aus taktischen Gründen nachgegeben haben. Damit sollen junge palästinensische Frauen und Männer davon abgehalten werden, gegen die Besetzung zu kämpfen – vor allem hinsichtlich der Proteste, zu denen es nach der Ankündigung von Trump gekommen ist (wobei es um Jerusalem und den Umzug der US-Botschaft in Israel ging).

Das Militär wirft Ahed nun fünf „Angriffe“ auf Sicherheitskräfte sowie „Aufwiegelung“ vor. Ihre Mutter wird beschuldigt, zwei Situationen gefilmt zu haben und „Aufwiegelung“ in sozialen Medien betrieben zu haben. Auch Nur wird offiziell zur Last gelegt, angeblich einen Soldaten angegriffen zu haben.

Unterdessen werden die Frauen der Tamimi-Familie im Militärgefängnis „Ofer“ festgehalten, das für seine fragwürdigen Methoden bekannt ist, mit denen dort die Gefangenen gebrochen werden. Es wird von Isolationshaft berichtet, von Schlafentzug etc. Nur ist nach 16 Tagen auf freien Fuß gesetzt worden. Die Drei werden vor ein Militärgericht gestellt, das Angeklagte in fast hundert Prozent der Fälle schuldig spricht. Und weil das ursprüngliche Ereignis, für das sie ins Gefängnis gekommen sind, selbst nach den kruden Maßgaben der Militärgerichtsbarkeit nicht ausreichend gewesen ist, um ihre Inhaftierung zu rechtfertigen, fordert der Armeestaatsanwalt wiederholt die Verlängerung der Haft, um weitere Anklagepunkte hinzuzufügen, die angeblich auf Zeit vor diesem Vorfall zurückgehen. Unter diesen Voraussetzungen haben die Beschuldigten nicht nur keine Chance auf ein gerechtes Verfahren, es besteht darüber hinaus auch noch die reale Gefahr, dass ihnen jahrelange Gefängnishaft bevorsteht.

Es ist beinahe überflüssig zu erwähnen, dass jüdische SiedlerInnen, denen Übergriffe auf PalästinenserInnen, linke israelische AktivistInnen oder sogar auf PolizistInnen und SoldatInnen nachgewiesen werden konnten, nicht nur dem Militärgericht sondern trotz all ihrer Vergehen fast immer jeglicher juristischer Verfolgung entgehen.

Medienberichterstattung leugnen die Realität

Die Diskussion in den Mainstream-Medien in Israel drehte sich fast ausschließlich um die Frage, ob der Offizier sofort hätte handeln und Gewalt gegen Tamimi hätte anwenden müssen oder ob es doch besser war, vor der Kamera Zurückhaltung an den Tag zu legen. Das Bild, das gezeichnet wird, ist das eines Soldaten, der unschuldig vor Ort ist, als zwei junge Mädchen ihn zu konfrontieren versuchen und zu einer gewaltsamen Reaktion zwingen während eine Kamera mitläuft. Unterzieht man die Tatsachen einer genaueren Betrachtung, dann wird hingegen deutlich, dass der Ablauf eher umgekehrt war: Die Armee ist die Instanz, die provokativ in das Dorf eingedrungen ist, um die BewohnerInnen zu einer Reaktion zu drängen und so stärkere Maßnahmen gegen sie rechtfertigen zu können.

Verschiedene KommentatorInnen sind unterdessen noch weiter gegangen und haben die 16-jährige Ahed als Provokateurin oder wahlweise als ausgebildete Schauspielerin dargestellt, die bewusst Situationen herbeiführt, um SoldatInnen der israelischen Armee (IDF) vor den Kameras „schlecht aussehen“ zu lassen. Als ob die Familie Tamimi die SoldatInnen eingeladen hätte, ihr Haus zu durchsuchen, nur um sie „schlecht aussehen“ zu lassen. Und als ob es ein Mädchen irgendwo auf der Welt gäbe, das sich wünscht geboren worden zu sein, um unter der Besatzung einer ausländischen Armee zu leben. Seit der Erklärung von Trump sind mindestens 610 PalästinenserInnen von der israelischen Armee verhaftet worden, mehr als 170 von ihnen sind Kinder oder Jugendliche. Haben sie alle ihre Verhaftungen bloß „eingefädelt“, nur um die SoldatInnen schlecht aussehen zu lassen?

Die meisten Medien in Israel ignorieren den wesentlichen Aspekt des Ganzen: den Grund für das Betreten des Hauses in Nabi Saleh durch die Soldaten! Nur eine Handvoll JournalistInnen hat überhaupt erwähnt, dass es im Dorf zu Protesten der EinwohnerInnen gegen die Besatzung und den Raub der Wasserquelle des Dorfes durch die benachbarte Siedlung Halamish gekommen war. Diese Proteste sollten von den SoldatInnen unter Kontrolle gebracht werden.

Das Wasser aus dieser Quelle, die sich auf privatem palästinensischen Land befindet, wird von den palästinensischen Bäuerinnen und Bauern aus Nabi Saleh genutzt, und wenn sie von den SiedlerInnen übernommen wird, dann können die Felder nicht mehr bearbeitet werden. Die israelische Armee ist vor Ort, um den Raub der Wasserquelle durch die SiedlerInnen abzusichern und die ortsansässige Bevölkerung daran zu hindern, gegen die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfährt, zu protestieren. In den meisten Fällen werden die Demonstrationen unterdrückt, indem brutale und oft auch tödliche Gewalt gegen unbewaffnete ZivilistInnen zum Einsatz kommt. Eine Folge davon war, dass in den letzten zwei Jahren zwei DemonstrantInnen ums Leben gekommen sind: Mustafa und Rushdi Tamimi.

Am Tag, als es zu dem auf Video aufgezeichneten Vorfall kam, bei dem sich Ahed und ihre Cousine den Soldaten entgegen gestellt haben, hat es die Armee nicht dabei bewenden lassen, gegen die Demonstrationen wegen der Übernahme der Trinkwasserquelle vorzugehen. Sie sind sogar in das Dorf eingedrungen, um den BewohnerInnen klar zu machen, dass es nichts bringt dagegen zu protestieren. Bei dem Versuch, die Demonstrationen abzuwürgen, die sich gegen das Eindringen der Armee in das Dorf richteten, ist Muhammad Tamimi am Kopf getroffen worden. Die Armee ist deshalb vor Ort, um die Übernahme der Quelle durch die SiedlerInnen abzusichern, obwohl diese Quelle von der ortsansässigen Bevölkerung genutzt wird. Außerdem zielt das Vorgehen der Armee darauf ab, die unterdrückerische Logik der Besatzungspolitik durchzusetzen. Jüdische SiedlerInnen haben damit die Lizenz zu stehlen, während PalästinenserInnen das Recht entzogen wird auch nur zu protestieren.

Solidarität und Perspektiven des Kampfes

Ironischerweise hat die brutale und willkürliche Inhaftierung der Angehörigen der Familie Tamimi nun erst zu der Solidarität geführt, die die Regierung und die Armee bereits anlässlich des Videos von einer jungen palästinensischen Frau befürchtet hatten, die sich einem bewaffneten Soldaten entgegen stellt. ArbeiterInnen und junge Leute verfolgen weltweit die Haft des Mädchens. In verschiedenen Ländern kam es schon zu Demonstrationen, die ihre Freilassung fordern.

Diese Reaktion offenbart die Grenzen der Macht des Besatzungsregimes, wenn dieses plötzlich der Zivilbevölkerung gegenüber steht. Dadurch ist es definitiv möglich, dass noch mehr junge Menschen zu dem Entschluss kommen sich dagegen zu erheben. „Ahed steht für eine neue Generation junger Menschen, junger FreiheitskämpferInnen […] Sie müssen zum neuen Herzen der Bewegung werden und unserer Revolution neues Leben einhauchen“, schreibt ihr Vater in einem Offenen Brief an seine inhaftierte Tochter Ahed Tamimi.

Eigentlich sollte die Verhaftung der Tamimi-Töchter allen zeigen, wie hoch der Preis ist, den man zu zahlen hat, wenn man sich gegen das Militärregime in den besetzten Gebieten richtet. Netanjahus Regierung mit ihrer Siedlungspolitik und das Großkapital versuchen auf arrogante Weise den Widerstand gegen die Besetzung zu brechen, indem sie auf tödliche Unterdrückungsmaßnahmen zurückgreifen. Ferner versuchen sie den Konflikt auf Kosten der Zukunft der palästinensischen ArbeiterInnen und Jugendlichen „zu managen“ – aber auch auf Kosten der Israelis. Die Attacken der Regierung müssen aufhören, nicht nur die Haft der jungen palästinensischen Frauen, die sich gegen diese Angriffe zur Wehr gesetzt haben. Der Kampf für den Abzug der Armee aus den besetzten Gebieten und den Rückbau der dortigen Siedlungen ist ein Kampf für den Frieden.

• Ja zum Protest und den Solidaritätsdemonstrationen, die die Freilassung der Tamimis fordern.
• Für das Ende der willkürlichen Verhaftungen und Festsetzungen ohne Gerichtsverfahren. Die behördlich veranlassten Festnahmen müssen ein Ende haben. Das Recht aller Gefangenen auf Rechtsbeistand muss gewährleistet sein, damit die Anklagepunkte bekannt sind und ein faires Verfahren möglich ist.
• Das Militär muss aus den besetzten Gebieten abziehen! Die Besetzung der palästinensischen Gebiete und der Siedlungsbau müssen beendet werden.
• Lasst alle palästinensischen politischen Gefangenen frei. Ein faires Verfahren unter klaren Bedingungen und unter Beobachtung unabhängiger VertreterInnen von Menschenrechts- und Arbeiterorganisationen von Seiten beider Konfliktparteien. Israelis und PalästinenserInnen müssen gleich behandelt werden, wenn sie Gewaltakte begangen haben, die mit dem Konflikt zu tun haben.
• Ja zu einem unabhängigen, demokratischen und sozialistischen palästinensischen Staat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Ein solcher Staat muss neben einem demokratischen und sozialistischen Israel existieren, das seinen Minderheiten gleiche Rechte gewährt. Eingebettet muss dieses Ziel sein in den Kampf für einen sozialistischen Nahen Osten und Frieden in der gesamten Region.