Diskussionen über Sozialismus in den USA
Vorbemerkung: Dieser Artikel ist eine Antwort auf Bhaskar Sunkara, Redakteur des Jacobin Magazine und stellvertretender Vorsitzender der Demokratischen Sozialisten von Amerika (DSA). Sunkara veröffentlichte einen Gastbeitrag in der New York Times anlässlich des Jahrestags der Oktoberrevolution in Russland und dem wachsenden Interesse an sozialistischen Ideen in den USA. Die Antwort von Alan Jones erschien zuerst auf CounterPunch.org
In einer Phase, in der die Debatten über den Sozialismus in den USA zunehmen, hat die „New York Times“ einen wichtigen Gastkommentar von Bhaskar Sunkara veröffentlicht. Dieser trägt den Titel: „Die Zukunft des Sozialismus könnte seine Vergangenheit sein“.
von Alan Jones, Mitglied des Bundesvorstands von Socialist Alternative
Sunkara, Redakteur des linken Politmagazins „Jacobin“ und stellvertretender Vorsitzender der „Democratic Socialists of America“ (DSA), versucht darin, Schlüsse aus der Russischen Revolution zu ziehen. Ferner geht er auf die Bedeutung sozialistischer und radikaler Ideen für heute ein. Er wählt einen deutlich differenzierteren und sympathischeren Ansatz als im Falle anderer Artikel, die in letzter Zeit anlässlich des 100. Jahrestags dieses historischen Ereignisses im selben Blatt erschienen sind. Eine Woche zuvor hatte die „New York Times“ noch einen Beitrag des rechtslastigen Autors Sean McMeekin abgedruckt, in dem dieser versuchte, die seit langem schon in Misskredit geratene Verschwörungstheorie zu bemühen, nach der es sich bei Lenin um einen deutschen Spion gehandelt haben soll.
Es kann kaum überraschen, dass ein großer Teil der Mainstream-Medien und prokapitalistischen KommentatorInnen wieder einmal Zeit und Ressourcen investiert, um sozialistische Ideen verzerrt darzustellen und sie zu diskreditieren. Dazu zählt auch niemand geringeres als der Präsident der US-amerikanischen Handelskammer, wie Sunkara darlegt. Diese Stör-Kampagne folgt auf das Comeback des Sozialismus, zu dem es in den USA derzeit kommt, weil der Wahlkampf eines gewissen Bernie Sanders auf ein unglaublich begeistertes Echo gestoßen ist.
Sanders rief zur „politischen Revolution“ gegen die Wall Street und „das eine Prozent“ auf. Dadurch hat er Millionen Beschäftigter und junger Leute aufgerüttelt, die sich aufgrund der tiefgreifenden gesellschaftlichen Krise des Kapitalismus radikalisiert haben. Sie haben damit begonnen, den Sinn und Nutzen des Systems in Frage zu stellen. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 1,3 Millionen Menschen zu den Massenkundgebungen von Sanders gekommen sind. Ferner kam es dazu, dass linke und sozialistische Organisationen wie „Socialist Alternative“ plötzlich ein rapides Mitgliederwachstum verzeichneten. Die „Democratic Socialists of America“ konnten die Anzahl ihrer Mitglieder von rund 8.000 vor der Wahl von Trump im vergangenen November auf nun fast 25.000 verdreifachen.
Insgesamt verteidigt Sunkara in seinem Gastkommentar die Russische Revolution als positive Entwicklung. Allein die Tatsache, dass sein Artikel im “Leitmedium der USA“ erschienen ist, ist an sich schon ein Zeichen für die Zeitenwende, die wir momentan erleben. Wie Sunkaras Artikel nahelegt, müssen wir einen Blick zurück wagen, wenn wir angesichts des maroden Ist-Zustands eine Kehrtwende einleiten wollen. Auf diese Weise können wir Lehren aus der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung ziehen. Wir müssen uns mit den besten Ideen ausstatten, wenn wir gegen Trump und die weltweit laufende kapitalistische Offensive bestehen wollen. Schließlich geht es um unsere Lebensstandards und um unsere demokratischen Rechte. Bedauerlich nur, dass Sunkara in seinem Artikel keine fertig ausgearbeitete sozialistische Alternative zu den bestehenden Verhältnissen anbietet. Stattdessen scheint er dafür einzutreten, dass in der von SozialistInnen anzustrebenden Gesellschaft ein „regulierter Markt“ fortbestehen sollte. Dabei zählt der Markt zu den Grundfesten des Kapitalismus.
Bei SozialistInnen gibt es die wichtige Tradition, solidarisch über bedeutende Themen von Strategie, Taktik und Programm zu diskutieren. Das hat bei der Ausbildung von SozialistInnen eine essentielle Rolle gespielt. Darüber sind aber auch andere AktivistInnen wie auch die breite Öffentlichkeit in die Diskussion über die besten Methoden zur Veränderung der Gesellschaft mit einbezogen worden. Wir möchten diesen Artikel als Angebot und Teil dieser Tradition verstanden wissen. Es geht uns nicht darum, Standpunkte verzerrt darzustellen, sondern darum unterschiedliche Herangehensweisen nebeneinander zu stellen.
Die „drei Endstationen“ von Sunkara
In seiner Auseinandersetzung mit dem aktuellen Zustand der Politik zeichnet Bhaskar Sunkara ein Bild von den Strömungen, die die Politik der heutigen kapitalistischen Klasse im Wesentlichen dominieren: Eine dieser Tendenzen verortet er im „Singapur Bahnhof“, den er als logische Folge der Politik von Mainstream-Neoliberalen wie Hillary Clinton und Barack Obama bezeichnet. Eine zweite Richtung ist seiner Skizze zufolge im „Budapester Bahnhof“ zu Hause, den er als die Endhaltestelle des rechten Populismus definiert, wie er z.B. von Donald Trump vertreten wird. Im Fokus seines Artikels steht natürlich die dritte Strömung, die im „Finnischen Bahnhof“ zu finden ist. Damit spielt er auf die Russische Revolution an, da dieser Bahnhof in Petrograd Anfang des Jahres 1917 für Lenin die Endstation seiner historischen Bahnreise aus dem Exil im Ausland zurück nach Russland war.
Mit seiner Kritik an der Art von Neoliberalismus, wie er bei der Fraktion im „Singapur Bahnhof“ vorzufinden ist, liefert Sunkara wichtige Denkanstöße, zeigt aber gleichzeitig, wie begrenzt sein Ansatz doch ist. Er benennt zwar den undemokratischen Charakter und das rastlose Streben nach neoliberaler Austerität. Dabei beschreibt er ihn jedoch als vergleichsweise freundlich und unterschätzt seine Brutalität wie auch das reale menschliche Leid, das er verursacht:
„Der Singapur Bahnhof ist nicht der schlimmste aller möglichen Endhaltestellen. Dort dürfen Experten noch Experten sein, Kapitalisten dürfen akkumulieren und den einfachen Arbeitern wird der Eindruck von Stabilität zugestanden. Die Passagiere, die dort ankommen, haben allerdings keine Möglichkeit, den Zug zu stoppen oder selbst zu bestimmen, in welche Richtung sie fahren wollen.“
Diese Beschreibung ist eine dramatische Verharmlosung des Neoliberalismus und der Folgen des zügellosen Kapitalismus, den der Neoliberalismus geradezu anbetet. Das Ergebnis davon ist die drastische Absenkung der Lebensstandards der Beschäftigten im Namen des Profits, der Verlust des Zugangs zu lebenswichtigen Dienstleistungen wie der Gesundheitsversorgung, der Verlust von Millionen von Menschenleben durch Kriege um Ressourcen. Hinzu kommen die vielen und vielschichtigen Katastrophen der Deregulierung (wie etwa beim Brand des „Grenfell Towers“ in London zu beobachten) und letztlich die völlige Unfähigkeit des Neoliberalismus, den jungen Leuten und arbeitenden Menschen dieser Welt eine Zukunft bieten zu können.
Es ist exakt die Unfähigkeit und Brutalität dieses Modells, die die Tür zum „Budapester Bahnhof“ aufschlägt, in dem sich rechte Populisten wie Trump aufhalten und mit ihm die autoritären Regime von Ungarn, Polen und weiterer Länder. Auf dem Weg dorthin befinden sich Sunkara zufolge auch Teile der Mittelschicht und der Arbeiterklasse, die auf der verzweifelten Suche nach einer Alternative zur Hauptroute des Kapitalismus sind, die ihrerseits nach „Singapur“ führt.
In dem Artikel beschreibt Sunkara auch seine Vision des Sozialismus. Verortet wird dieser im „Finnischen Bahnhof“. Er erklärt, was alles dazu gehört: „Kooperativen im Besitz der ArbeiterInnen, die sich in einem regulierten Markt weiterhin im Wettbewerb miteinander befinden; staatliche Dienstleistungen, die mit Hilfe der Planung der BürgerInnen koordiniert werden; und die Bereitstellung grundlegender Dinge, um ein gutes Leben leben zu können (Bildung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung). Diese werden in Form sozialer Rechte garantiert. Mit anderen Worten: Es geht um eine Welt, in der die Menschen – unabhängig von ihrer Geburt – die Freiheit haben, ihre Potentiale auszuschöpfen.“
Auch wenn jedes Mal, da der Kapitalismus wieder eine seiner periodisch auftretenden Krisen durchlebt, die ganze Idee unter Beschuss zu geraten droht, würde eine derartige Veränderung zweifellos einen merklichen Schritt in die richtige Richtung bedeuten. Es geht hierbei allerdings nicht um das, was als Ziel des Sozialismus bezeichnet werden kann. Sozialismus bedeutet, eine weltweit klassenlose Gesellschaft zu haben, in der der organisierte repressive Apparat des Kapitalismus abgeschafft und durch eine neue politische Ordnung ersetzt ist, die auf den Organen der Masse der arbeitenden Menschen und ehemals Unterdrückten basiert. Dies ist schon immer das erklärte Ziel der sozialistischen und marxistischen Bewegung gewesen. Heute mag diese Vorstellung von vielen (sogar im linken Spektrum) als hoffnungslos utopisch betrachtet werden. Es ist aber – wie Marx ausgeführt hat – die massive Entwicklung der menschlichen Produktivität im Kapitalismus, die die materielle Grundlage geschaffen hat, um die Klassenbildung und -unterdrückung aufzuheben, die auf dem Mangel basiert.
Marxismus und der Staat
An anderer Stelle schreibt Sunkara: „Im Kern und wenn man bis an seine Wurzeln zurück geht handelt es sich beim Sozialismus um eine Ideologie radikaler Demokratie. In einer Zeit, in der Freiheiten attackiert werden, trachtet er danach, die Zivilgesellschaft in die Lage zu versetzen, an Entscheidungsprozessen teilzuhaben, die unser Leben bestimmen.“
Dennoch ist eine zentrale Lehre des Marxismus, dass die kapitalistische Demokratie nur eine Form staatlicher Herrschaft darstellt. Und Marx argumentiert, dass die dominierende Klasse in der Gesellschaft diejenige ist, die die Kontrolle über den Staatsapparat inne hat. MarxistInnen stehen schon lange für eine möglichst weitreichende und radikale Form von Demokratie. Der Marxismus hat aber auch erklärt, dass Demokratie keine abstrakte Angelegenheit darstellt. Sie muss im Zusammenhang mit dem bestehenden ökonomischen System betrachtet und verstanden werden. Im Kapitalismus wird die Demokratie immer stark eingeschränkt durch die Dominanz der kleinen besitzenden Elite, die ihre Macht einsetzt, um die Mehrheit daran zu hindern, an den Grundfesten ihres Reichtums und ihrer Privilegien zu rütteln. Anders ausgedrückt: „Radikale Demokratie“ kann nur dauerhaft erreicht werden, wenn diese dazu genutzt wird, die undemokratische Herrschaft der kapitalistischen Klasse zu beenden und die Macht in die Hände der Arbeiterklasse und der Unterdrückten übergehen zu lassen.
Bei Sunkara bleibt dieser Punkt unklar. Wenn man sich seine „grobe Skizze“ vom künftigen Sozialismus ansieht, stellt sich die Frage, was vorherrschend sein wird – die Marktkräfte oder die Kooperativen der ArbeiterInnen? Abgesehen davon schreibt Sunkara: „Zu dieser sozialen Demokratie würde auch das Bekenntnis zur freien Zivilgesellschaft gehören, vor allem in Bezug auf oppositionelle Stimmen, den Bedarf an einer Kontrolle der Institutionen und Machtverteilung. Es geht auch um eine Vorstellung davon, dass der Übergang zum Sozialismus keine >Stunde Null< braucht, um mit der Gegenwart zu brechen.“
Wenn wir aber davon sprechen, das brutale und längst hinfällige kapitalistische System zu beenden, wie kann dies dann geschehen, ohne einen grundlegenden und durchschlagenden Bruch mit der bestehenden Ordnung und dem zutiefst undemokratischen und repressiven Staatsapparat, der schließlich dazu gehört? Es scheint so, als würde Sunkara sich gegen einen solchen Schnitt aussprechen, wenn er sagt, seine Vision vom Übergang zum Sozialismus würde keine „Stunde Null“, keinen Bruch mit den bestehenden Verhältnissen benötigen. Doch genau dies war der zentrale Punkt, für den Lenin eintrat, als er im Jahre 1917 nach Russland zurückkehrte. Damals erklärte Lenin, dass die jämmerlichen Kapitalisten in Russland der Arbeiterklasse keine Wohltaten zukommen lassen konnten und wollten. Er rief die Arbeiterklasse und die verarmten Bäuerinnen und Bauern dazu auf, die Macht der Grundbesitzer und Kapitalisten zu brechen, und er wandte sich an die ArbeiterInnen in anderen Ländern, diesem Beispiel zu folgen und mit dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu beginnen, die auf Arbeiter-Demokratie basieren müsse.
Der Kampf für Reformen
Als MarxistInnen kämpfen wir Mitglieder von „Socialist Alternative“ für jeden Fortschritt, den die arbeitenden Menschen im Kapitalismus erringen können. Ein Beispiel dafür ist die führende Rolle, die wir im Kampf für den 15-Dollar-Mindestlohn mit Kshama Sawant eingenommen haben. Sie ist Stadträtin in Seattle, Mitglied von „Socialist Alternative“ und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Seattle die erste Großstadt ist, in der der Mindestlohn auf 15 Dollar angehoben wurde. Vor zwei Wochen haben wir mitgeholfen, dass Minneapolis die erste Stadt im Mittleren Westen der USA ist, die ebenfalls den Mindestlohn von 15 Dollar beschlossen hat. Dort hat die sozialistische Kandidatin für den Stadtrat, Ginger Jentzen, eine führende Rolle in diesem Kampf eingenommen. Und gerade einmal eine Woche ist es her, dass Sawant und die Ortsgruppe von „Socialist Alternative“ in Seattle daran beteiligt waren, einen weiteren, US-weit bedeutenden Erfolg einzufahren: die lokale Einführung einer Reichensteuer. Mit ihrer Hilfe sollen angemessener Wohnraum, Bildung und weitere lebenswichtige Dienstleistungen finanziert werden.
Im April 2017 hat Kshama Sawant sich den Fragen der Huffington Post über ihre Vorstellungen vom Sozialismus gestellt:
„[…] Will man ein System reformieren, dass von diesen riesigen und raffgierigen Konzernen dominiert wird, so stößt man schnell an ganz bestimmte Grenzen. Auf der Grundlage des Kapitalismus können Erfolge wie etwa die Anhebung des Mindestlohns nur von zeitweiliger Dauer sein. Die großen Konzerne haben viele Möglichkeiten, uns für die Krisen ihres Systems bezahlen zu lassen. Es zeigt sich wieder einmal, dass eine permanente und nachhaltige Lösung für all die Probleme, mit denen die arbeitenden Menschen konfrontiert sind, nur möglich ist, wenn die größten Unternehmen in demokratisches Eigentum überführt werden, und die Wirtschaft auf geplanter Basis neu organisiert wird. In einem solchen System könnten wir demokratisch entscheiden, wie die Ressourcen verteilt und genutzt werden. Wir könnten schnell die Abkehr von den fossilen Brennstoffen einleiten, umfangreiche Arbeitsplatz-Programme entwickeln, um die vor sich hin gammelnde Infrastruktur des Landes wieder aufzubauen, und damit beginnen, eine gänzlich neue Welt zu kreieren, in der alles darauf ausgerichtet ist, die Bedürfnisse der Mehrheit zu befriedigen statt die Profitgier einiger weniger.“
Bei den von Sunkara aufgeworfenen Aspekten von Reform und Revolution handelt es sich nicht nur um abstrakte Fragen von historischem Belang. In welchem „Bahnhof“ wir heute ankommen, hängt zwingend davon ab, wie wir die Niederlagen und Erfolge der Vergangenheit bewerten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten in den meisten westlichen Ländern bedeutende Fortschritte für die arbeitenden Menschen erreicht werden. Möglich war dies aufgrund des enormen Drucks sozialistischer und kommunistischer Parteien mit Massen an Mitgliedern und weil es in der Phase des Wiederaufbaus zu einem starken Wirtschaftswachstum kam. Hinzu kamen radikal geführte Kämpfe der ArbeiterInnen. Die zerbrechliche wirtschaftliche Lage, wie sie sich heute darstellt, ist dazu grundverschieden. Heute ist der Kapitalismus unfähig, in den Genuss eines nachhaltigen Aufschwungs zu geraten. Stattdessen muss er ohne Unterlass die Gewerkschaften attackieren und die Arbeitsbedingungen unter Beschuss nehmen. Er ist gezwungen, tiefe Einschnitte in den Haushalten zu fordern, nur um die Profitabilität aufrecht und sich selbst am Leben zu erhalten.
Wenn die neuen linken Parteien darin versagen, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, dann können sie am Ende im neoliberalen „Singapur Bahnhof“ landen, obwohl sie eigentlich den „Finnischen Bahnhof“ als Ziel auserkoren hatten. Wenn die linken Parteien ohne ein klares Programm für eine Alternative zum Kapitalismus (und eine Strategie, diese auch tatsächlich zu erreichen!) in eine Regierung gewählt werden, dann werden sie unweigerlich dazu getrieben, den Kapitalismus nur mit verwalten zu helfen. Das kann bedeuten, dass sie letztlich neoliberale Austerität durchführen, die nur noch mit netten Worten des Mitgefühls versehen ist. Reformorientierte Regierungen, die sich gegen die Austerität richten, werden am Ende vor die Entscheidung gestellt, entweder die Forderungen der Großkonzerne zu akzeptieren oder radikale und sozialistische Maßnahmen umzusetzen.
Wie Rosa Luxemburg in ihrer Schrift „Reform oder Revolution“ im Jahr 1900 erklärt hat, sind diese beiden Möglichkeiten nicht nur „unterschiedliche Wege“, auf denen man zu ein und demselben Bahnhof gelangt. Will man erfolgreich sein, so darf der Kampf um Reformen bei diesen nicht einfach stehen bleiben. Denn ernstzunehmende Reformen werden nur als Nebenprodukt von ernsthaft geführten sozialen Kämpfen erreicht. Bevor die kapitalistische Klasse zu wirklich großen Zugeständnissen bereit ist (z.B. die Einführung eines Gesundheitssystems für alle oder den 15-Dollar-Mindestlohn auf Bundesebene), muss sie zunächst einmal die Angst vor einer bevorstehenden möglichen breiten Revolte zu spüren bekommen.
Mehr noch. Wenn der Kampf um Reformen nicht dazu genutzt wird, dass Bewusstsein der arbeitenden Menschen zu schärfen und den Boden für eine durchdringende sozialistische Transformation der Gesellschaft vorzubereiten, dann werden die Kapitalisten alles daran setzen, die errungenen Reformen wieder rückgängig zu machen oder die Kräfte der Arbeiterklasse zu zerstören, die diese Reformen verteidigen. Die herrschende Klasse wird nicht zögern, auf ökonomischer Ebene den Krieg auszurufen oder sogar vom Mittel des Militärputsches Gebrauch zu machen, um gewählte linke Regierungen wieder loszuwerden. Linke Regierungen, die darauf aus sind, ihr Programm umzusetzen, werden frontal mit dem Kopf gegen die Wand der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse rennen. Das Problem ist, dass die Kapitalisten nicht nur die Schlüsselindustrien in der Gesellschaft kontrollieren, sondern auch den kapitalistisch geprägten Staatsapparat. Was alles passieren kann, lässt sich am traurigen Beispiel der Partei SYRIZA in Griechenland ablesen.
Wenn Sunkara schreibt, seine Vision vom „Übergang zum Sozialismus [braucht] keine >Stunde Null< […], um mit der Gegenwart zu brechen“, dann kommt es fast so rüber, als würde er die Idee von einer radikalen, revolutionären Transformation der Gesellschaft vorbehaltlos zurückweisen. Geht es um die Idee, den Kapitalismus gradlinig verändern zu können, um am Ende zu einer gerechten Ordnung zu gelangen, so lehrt uns die Erfahrung der letzten 100 Jahre das genaue Gegenteil. In besonderem Maße gilt dies für den Angriff des Neoliberalismus auf die Errungenschaften der Arbeiterklasse. Der im Verfall befindliche Kapitalismus bedeutet, dass es reale Grenzen für Reformen gibt und dass sogar die populärsten Errungenschaften, die womöglich mit den meisten Opfern erkämpft wurden, umkehrbar sind.
Der Aufstieg und Fall von SYRIZA
In Griechenland lag das linke Parteienbündnis SYRIZA im Januar 2009 noch bei 4,9 Prozent, bevor es dann im Januar 2015 wegen seines Anti-Austeritätsprogramms schon in die Regierungsverantwortung gewählt wurde. Wenige Monate später hat Alexis Tsipras, der SYRIZA-Vorsitzende, allerdings bedingungslos kapituliert und ein von seiner eigenen Regierung initiiertes Referendum ignoriert, in dem sich 61 Prozent der TeilnehmerInnen gegen die Austerität ausgesprochen hatten. Stattdessen stimmte die Regierung den Forderungen der Kapitalisten und der Europäischen Union zu, die Lebensstandards der Menschen durch weitere Kürzungen abzusenken. Das war ein schwerer Schlag für die internationale Linke, die von SYRIZA und Griechenland erwartet hatte, dass sie die Führung im Kampf gegen die Austerität übernehmen würde. Der Verrat des SYRIZA-Vorstands und die Verwandlung der Partei in eine Stütze des Neoliberalismus wirkten wie eine kalte Dusche. Daran zeigt sich, dass Entscheidungen über Programm, Strategie und Taktik keine abstrakte Angelegenheit sind, sondern spürbare Folgen für das reale Leben nach sich ziehen.
In einem vor kurzem erschienenen Artikel von „Xekinima“, der Schwesterorganisation von „Socialist Alternative“ und Sektion des „Committee for a Workers’ International“ (CWI) in Griechenland, wird die derzeitige Lage dort eingehend beschrieben:
„Tatsächlich wird unter der SYRIZA-Regierung der Angriff auf die Lebensstandards und Rechte der griechischen Bevölkerung noch verschärft. Das wird zwar zu vertuschen versucht, indem man von >harten Verhandlungen< und davon spricht, >alles, was gegen die »Institutionen« (so die neue Bezeichnung für die Troika aus EU, IWF und EZB) möglich ist, zu tun<. Das ist aber nichts als Theater. Die jüngste Vereinbarung vom 15. Juni sieht eine Zahlung von 8,5 Milliarden Euro an Griechenland vor, wovon 8,2 Milliarden Euro direkt genutzt werden, um Kredite zu begleichen). An den Vorschlägen, die die Institutionen im Rahmen des Eurogruppen-Treffens am 22. Mai gemacht haben, hat die Regierung rein gar nichts geändert.
Die jüngste Übereinkunft sieht im Zeitraum von 2019 bis -22 zusätzliche Lasten in Höhe von rund fünf Milliarden Euro für die Masse der Bevölkerung vor. […] Auf alle Waren sind die indirekten Steuern angehoben worden. Auch die grundlegenden Bedarfsgüter wie griechischer Kaffee und das traditionelle Souvlaki sind von der 20-prozentigen Steueranhebung betroffen. Die Renten werden um weitere neun Prozent im Durchschnitt gesenkt. Die Regierung wendet Maßnahmen an, die (die ehemaligen Regierungsparteien) ND und PASOK einmal als nicht durchsetzbar erachtet haben. Jetzt wird hingegen das umfangreichste Privatisierungsprogramm umgesetzt, das es je gegeben hat. Der Arbeitsmarkt bleibt ein Dschungel, in dem die große Mehrheit der Beschäftigten in der Privatwirtschaft noch auf die Löhne der letzten zwei Monate wartet. Der Grad der Ausbeutung hat ein unbeschreibliches Maß angenommen. […]
Die Folge all dessen ist, dass das vorherrschende Gefühl der arbeitenden Menschen aus massiver Wut und gleichzeitig aus dem Gefühl der massenhaften Demoralisierung besteht.“
Auf die Frage eingehend, ob die Kapitulation unumgänglich war, heißt es im selben Artikel:
„Die Kapitulation von SYRIZA gegenüber der Troika war nicht unumgänglich. Sie war das Ergebnis des mangelnden Verständnisses der Parteiführung davon, wie die realen, im Gang befindlichen Prozesses einzuordnen sind. Es ist naiv, wenn nicht gar kriminell, die Ansicht zu vertreten, dass diese Prozesse „Griechenland und ganz Europa verändern“ werden, wie Tsipras vollmundig meinte. Darüber hinaus ist ein weiterer Grund für die Kapitulation im mangelnden Verständnis des Klassen-Charakters der EU und dem vollkommenen Fehlen an Vertrauen in die Arbeiterklasse, die Gesellschaft verändern zu können, zu suchen. Als Tsipras leibhaftig zu spüren bekam, was es wirklich bedeutet, mit der herrschenden Klasse aneinander zu geraten, verzweifelte und kapitulierte er. Er war vollkommen unvorbereitet in diese Situation gegangen.“
Die Alternative, die von einigen linken Organisationen in Griechenland (darunter auch „Xekinima“) entwickelt und beworben wurde, ging in die Richtung, dass die Politik mit dem Kapitalismus brechen und mit dem sozialistischen Wiederaufbau der Gesellschaft beginnen müsse. „Xekinima“ erklärte, wie eine wirklich linke Regierung vorzugehen habe:
„Einführung von Kapitalkontrollen, Verweigerung der Schuldenzahlung, Verstaatlichung der Banken, schnelle Rückkehr zur alten Landeswährung, der Drachme, Einsatz der aus dieser Währung bestehenden Barmittel zur Finanzierung einer Großzahl an Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst, um den weiteren Niedergang der Wirtschaft aufzuhalten und zu neuem Wachstum zu gelangen, Streichung aller Schulden der Kleinbetriebe, die wegen der Krise aufgenommen werden mussten, und Bewilligung von Krediten zu Vorzugsbedingungen, damit sie wieder ins Geschäft kommen und der Wirtschaft einen raschen Auftrieb verleihen.
Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, Planwirtschaft inklusive eines Außenhandelsmonopols des Staates (damit es im Sinne der viel zitierten 99 Prozent der Bevölkerung zu nachhaltigem Wachstum kommt und nicht wieder nur die Profite einer Handvoll Schiffseigner, Industrieller und Bankiers gesteigert werden). In jedem Industrie- und Bergbau-Zweig müssen spezielle Planungsausschüsse gegründet werden. Besonderes Augenmerk müssen diese auf die Sektoren Landwirtschaft und Tourismus legen, da sie eine Schlüsselfunktion für die Wirtschaft des Landes und somit enormes Potential haben. Durch die Kontrolle und Verwaltung der Beschäftigten auf allen Feldern und Ebenen der Betriebe muss die Demokratie Einzug in die Wirtschaftsabläufe halten. Es müssen Appelle an die ArbeiterInnen im Rest Europas ergehen, um von ihnen Unterstützung und Solidarität zu erhalten. Sie müssen aufgerufen werden, sich am gemeinsamen Kampf gegen die EU der Arbeitgeber und der multinationalen Konzerne zu beteiligen. Für eine freiwillige, demokratische, sozialistische Union der Völker Europas. Kurz gesagt muss es um eine antikapitalistische, gegen die EU gerichtete Offensive auf Grundlage eines sozialistischen Programms und der Solidarität der internationalen Arbeiterklasse gehen – das hätte die Antwort auf die Erpressungen der Troika sein müssen.
Aufgrund der Erfahrung mit SYRIZA müssen wir konstatieren, dass neue linke Formationen sich durchaus in Richtung des von Sunkara beschriebenen „Finnischen Bahnhofs“ auf den Weg machen, stattdessen aber im „Singapur Bahnhof“ ankommen. Um in einer Zeit, die von der kapitalistischen Krise gekennzeichnet ist, effektiv gegen Austerität zu kämpfen, brauchen wir ein marxistisches Programm für fundamentalen Wandel und einen Plan für die Mobilisierung der ArbeiterInnen, jungen Leute und der verarmten Schichten, damit diese sich aktiv für o.g. Programm einsetzen.
Zur Frage des heutigen Bewusstseins
Trotz der gewaltigen Kämpfe, die wir in der jüngeren Vergangenheit in Griechenland, Spanien und Portugal aber auch in Form des Aufstiegs von Jeremy Corbyn in Großbritannien erleben durften (das letztgenannte Beispiel steht für nicht weniger als eine politische Revolte der Arbeiterklasse und jungen Leute), müssen wir feststellen, dass sich bisher kein sozialistisches Massenbewusstsein herausgebildet hat. Das Bewusstsein unter den Aktiven richtet sich im Großen und Ganzen weiterhin gegen die Konzerne und ist manchmal als antikapitalistisch zu bezeichnen. Es besteht aber Unklarheit darüber, wie es darüber hinaus weitergehen kann. Das ist von großer Bedeutung, da es um den Ausgangspunkt nicht nur für die Analyse sondern auch für die korrekte Planung der künftigen Kämpfe geht.
Unter den jungen Leuten ist der Kapitalismus zwar in Verruf geraten, dennoch herrscht nur wenig Verständnis darüber, wie das System bekämpft oder wodurch es ersetzt werden kann. Die meisten Menschen, die sich an Protesten beteiligen, haben kaum Erfahrung mit länger anhaltenden Bewegungen, Organisationen oder Kämpfen, die Siege erringen können. Der Grund dafür ist in den Niederlagen zu finden, die der Arbeiterbewegung in den letzten Jahrzehnten beigebracht worden sind und in deren Folge der Einfluss der Gewerkschaften zurückgegangen ist. Auch auf internationaler Ebene waren Rückschritte zu verzeichnen.
Das war aber nicht immer so. Sunkara schreibt, dass „ArbeiterInnen in der gesamten westlichen Welt [im 20. Jahrhundert] dazu übergegangen sind, eine Art Klassenkompromiss zu akzeptieren“. In Wirklichkeit haben die arbeitenden Menschen in Europa – von Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg über den Spanischen Bürgerkrieg bis hin zu den revolutionären Erhebungen im Frankreich des Jahres 1968 und 1974 in Portugal – unzählige Male Bewegungen aufgebaut, um den Versuch zu unternehmen den Kapitalismus zu Fall zu bringen. Die sozialdemokratischen und stalinistischen Führungen haben diese Bewegungen dann mit der Perspektive vom „gradlinigen“ Wandel zurückgehalten. Allzu oft bestand das Ergebnis dieses Vorgehens in einer zügellosen Reaktion der politischen Rechten.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist dann der Zusammenbruch des Stalinismus mitsamt seiner monströsen Bürokratie genutzt worden, um jede Idee von Planwirtschaft in Misskredit zu bringen und einer massiven Kampagne gegen den Sozialismus Tür und Tor zu öffnen. Das Ziel bestand darin, allen einzutrichtern, dass zum Kapitalismus und dem Markt „keine Alternative“ besteht. Während die Systeme in der Sowjetunion und in Osteuropa in keiner Weise als Beispiel für wirklichen Sozialismus herangezogen werden können, so bedeutete ihr Zusammenbruch dennoch eine schwere politische Niederlage für die internationale Arbeiterklasse.
In den letzten Jahrzehnten sind die sozialdemokratischen Parteien auf dramatische Weise nach rechts gerückt. Sie haben Austerität umgesetzt, ihre früheren demokratischen Strukturen zerstört und die große Mehrheit ihrer aktiven Basis verloren. Das alles geschah noch vor der Finanzkrise, die 2008 einsetzte. Vor diesem Hintergrund hat das Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI) die Notwendigkeit erklärt, breit aufgestellte linke Parteien der Arbeiterklasse aufbauen zu müssen.
In letzter Zeit verzeichnen links-populistischer Ansätze einen Aufschwung. Darauf deuten die atemberaubenden Wahlerfolge von Jeremy Corbyn in Großbritannien ebenso hin wie das Abschneiden der Wahlkampagne von Mélenchon bei den letzten Wahlen in Frankreich oder aber der Aufstieg der Linken in Gestalt der Partei PODEMOS in Spanien. Im selben Atemzug zu nennen sind die Erfolge der revolutionären Linken in Irland und der historische Wahlkampf von Sanders in den USA (wo auch das Mitgliederwachstum der „Demokratischen Sozialisten von Amerika“ und anderer Kräfte dazu zu zählen ist). All diese Entwicklungen stehen für den Beginn einer Suche nach einer radikal-sozialistischen Ausrichtung. Junge Leute und Teile der Arbeiterklasse suchen nach einem Wag aus dem Sumpf des Kapitalismus.
Bolschewismus und Stalinismus sind nicht dasselbe
Wenn in internationalem Maßstab wieder einmal wirklich sozialistische Ansätze zum Bezugspunkt für die Massen in ihrem Streben nach einer neuen Gesellschaft werden, dann werden wir nicht umherkommen, die Erfahrungen der Russischen Revolution, die die Bolschewiki und Lenin 1917 gemacht haben, offen und ehrlich zu diskutieren.
Die Russische Revolution hat die gesamte politische Geschichte der letzten 100 Jahre beeinflusst, und sie steht für einen kolossalen Versuch, eine neue sozialistische Welt zu errichten. Weltweit sind Millionen von Menschen inspiriert worden, nicht nur für eine „leichter verträgliche“ Version des Kapitalismus zu kämpfen, sondern für eine neue sozialistische Welt, die auf Solidarität basiert und in der es weder Krieg noch Ausbeutung gibt. Viele der Errungenschaften und Reformen, die von den arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt erreicht worden sind (darunter der Achtstundentag, das Frauenwahlrecht, kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung sowie eine breit angelegte soziale Absicherung), folgten im Nachgang der revolutionären Welle, die durch die Russische Revolution losgetreten wurde.
Die Russische Revolution mit ihren Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten (den sogenannten „Sowjets“) war durch und durch demokratisch, weil von unten aufgebaut. Sämtliche Parteien waren vertreten. Die Bolschewiki waren anfangs eine kleine Minderheit in den Sowjets und wurden im Laufe des Jahres 1917 zur führenden Kraft in der Revolution. Auf demokratische Art und Weise konnten sie die Masse der Bevölkerung für sich und ihr Programm gewinnen, um so die Reaktion zu bezwingen, den Krieg zu beenden und die Armut zu beseitigen.
Seit der Pariser Kommune von 1871 und der ersten Russischen Revolution von 1905 gehören von unten aufgebaute Arbeiterräte zum festen Bestandteil revolutionärer Kämpfe. Zu vergleichbaren Entwicklungen kam es in der Phase von 1925 bis -27 in China, in der spanischen Revolution von 1931 bis -37, im Frankreich des Jahres 1968 und in Chile vor dem Militärputsch von 1973, um nur einige Beispiele zu nennen. Weltweit haben wir in beinahe jeder größeren Aufstandsbewegung, in der die Arbeiterklasse das revolutionäre Subjekt dargestellt hat, ganz ähnliche Phänomene „revolutionärer Demokratie“ gesehen.
Was die demokratische Rolle angeht, die die Sowjets gespielt haben, scheint Sunkara nicht gut informiert zu sein. Schließlich deutet er sogar an, dass an der Russischen Revolution etwas zutiefst Undemokratisches gewesen sei. Zwar ruft er zur Rückkehr in den „Finnischen Bahnhof“ auf, besteht aber darauf, dass die Dinge diesmal anders ablaufen müssen. Der wesentliche Unterschied, so sagt er, müsse darin bestehen, dass „die Menschen diesmal abstimmen können. Nun ja, debattieren und beraten und dann abstimmen“. Aber die Bolschewiki haben „debattiert und beraten und dann abgestimmt“, ziemlich oft sogar. Wenn sie das – sowohl intern wie auch in den Sowjets – nicht getan hätten, dann wäre die Oktoberrevolution sicher nicht erfolgreich verlaufen.
Die Strategie und Taktik der Bolschewiki entsprach einer sich rasch verändernden Gemengelage im Jahr 1917. Weil sie die Illusionen in die verschiedenen prokapitalistischen „provisorischen Regierungen“ zerstören wollten (diese hatten es abgelehnt, auch nur eines der drängenden Probleme zu lösen, die zur Februarrevolution geführt hatten), kämpften die Bolschewiki unter dem Banner: „Frieden, Land und Brot!“. Sie halfen einen verfrühten Versuch der Arbeiterklasse in Petrograd aufzuhalten, mit dem bereits im Juli die Macht errungen werden sollte. Dieser Vorstoß wäre im Blut der Massen ertränkt worden. Als die große Mehrheit der Bewegung sich vollends gegen die Provisorische Regierung gerichtet hatte, setzten die Bolschewiki alles daran, die ausgebeuteten und unterdrückten Menschen für das Ende des Krieges, die Enteignung der Großgrundbesitzer und die Errichtung einer Planwirtschaft zu mobilisieren. All diese Strategien und Taktiken waren zuvor nicht nur in der Bolschewistischen Partei debattiert und abgestimmt worden, sondern auch unter der demokratischen Beteiligung der Masse an ArbeiterInnen, Soldaten, Bäuerinnen und Bauern in den Sowjets und anderen Gremien wie etwa den Fabrikausschüssen.
Demgegenüber scheint Sunkara in seinem Beitrag davon auszugehen, dass das totalitäre stalinistische Regime, das sich erst später herausbildete, die logische Fortsetzung Lenins und der Bolschewiki gewesen ist, denn er schreibt: „100 Jahre nach Lenins Ankunft mit dem versiegelten Eisenbahnwaggon im Finnischen Bahnhof und dem Ingangsetzen der Ereignisse, die zu Stalins Gulags führten“. An diesem Punkt sind sowohl die stalinistische wie auch die kapitalistische Propaganda im Westen vollkommen einer Meinung.
Das erste Argument, das von den meisten, die die Bolschewiki diskreditieren wollen, vorgebracht wird, lautet, dass sie angeblich alle Macht zentralisieren und jegliche Opposition eliminieren wollten. Das war aber nicht alles, was im Russland des Jahres 1917 passiert ist. In Wirklichkeit hat es sich dabei um die demokratischste revolutionäre Erhebung gehandelt, die es jemals gegeben hat. Nachdem die Bolschewiki im Oktober mit überwältigender Unterstützung der Sowjets an die Macht gekommen waren, liefen die anderen politischen Parteien eine nach der anderen zur Seite der bewaffneten Konterrevolution über und halfen mit, das Land in den Bürgerkrieg zu stürzen. Zur gleichen Zeit marschierten 21 Armeen in die Sowjetunion ein, darunter die USA, Großbritannien, Frankreich und Japan. Neben der internationalen Solidarität bestand der einzige Grund für das Überleben der Bolschewiki darin, dass sie die die überwältigende Unterstützung der Bevölkerung genossen. Diese kämpfte gegen die mörderische, prokapitalistische Reaktion, und so konnte man sogar den lang anhaltenden Bürgerkrieg, die feindlichen Invasionen, Hungersnöte und die Zerstörung des Landes überdauern.
Zur Entwicklung des Stalinismus
Leo Trotzki, neben Lenin einer der wichtigsten Köpfe der Russischen Revolution, schrieb, dass ein „ganzer Strom von Blut“ die Bolschewiki vom Stalinismus trennte. Die Bolschewistische Partei war wohl – und neue historische Untersuchungen belegen dies – die demokratischste Partei der arbeitenden Menschen, die es bis dato gegeben hat. Gleichzeitig war sie die erfolgreichste Formation, die die Arbeiterklasse an die Macht brachte. Lenin und Trotzki verstanden die Revolution in Russland als Vorspiel für die Revolution in Europa und darüber hinaus. Sie begriffen, dass Sozialismus nur auf internationaler Grundlage und in Form einer freiwilligen Föderation sozialistischer Staaten funktionieren kann. Das musste auch die ökonomisch am weitesten entwickelten Staaten umfassen. Sie verstanden, dass der globale Kapitalismus gegen einen neuen Arbeiterstaat würde kämpfen müssen und dass ein sozialistisches Land (und erst recht eines, das wirtschaftlich so rückschrittlich war wie Russland) nicht allein überleben kann.
Der Stalinismus ist nicht aus dem Bolschewismus hervorgeganen, sondern konnte sich wegen der Isolation der Revolution in der jungen Sowjetrepublik, aufgrund des Hungers, der rückschrittlichen Ökonomie und infolge der kulturellen Bedingungen sowie der Tatsache, dass im Verlauf des Bürgerkriegs die aufopferungsvollsten ArbeiterführerInnen umgekommen sind, durchsetzen. Die Enttäuschung der Massen über das Scheitern der Revolution in Europa war ein weiterer wesentlicher Aspekt. Dies gilt vor allem im Falle Deutschlands in den Jahren von 1918 bis -23.
Diese Bedingungen ermöglichten den Einzug des Stalinismus ins sowjetische Beamtenwesen, das den Einsatz und die Verteilung der knappen Ressourcen in zunehmendem Maße kontrollierte und sich somit in die Lage versetzte, sich selbst mit Privilegien auszustatten. Eine Vorbedingung für den Aufstieg dieser privilegierten stalinistischen Bürokratie war die Zerstörung der demokratischen Traditionen des Bolschewismus. Dazu zählte die Zerschlagung der Demokratie der Sowjets, die massenhafte Unterdrückung der linken Opposition, die Auslöschung praktisch des gesamten Zentralkomitees der Bolschewiki des Jahres 1917 und letztlich die Ermordung von Leo Trotzki im Jahre 1940. Der Aufstieg des Stalinismus untergrub zuerst die Planwirtschaft, indem die Demokratie zerstört wurde, die nötig ist, damit eine Ökonomie überhaupt geplant werden kann. Und schließlich führte der Stalinismus zu dem, was Trotzki als die Bürokratie beschrieb, die den ersten Arbeiterstaat „verkonsumiert“ hat.
Der Leninismus war nicht die Hinleitung zum Stalinismus. Stattdessen brauchte es sogar eine blutige Konterrevolution der Bürokratie, um viele der demokratischen Errungenschaften der Russischen Revolution wieder umzukehren und den Kampf der ArbeiterInnen der Welt für den Sozialismus zu behindern. Rund um den Globus stellten die kommunistischen Parteien den Kampf für grundlegenden Wandel ein und wurden zu Stützen für Stalin und den Bedarf seiner Bürokratie. Ideologisch wurde dies mit Stalins Doktrin vom „Sozialismus in einem Land“ verteidigt. Heute werden SozialistInnen mit Fragen zur Russischen Revolution und über die totalitären Karikaturen des „Kommunismus“ konfrontiert. Wir müssen klare Antworten auf diese historischen Probleme haben und die Lehren von 1917 in die Arbeiterbewegung von heute hineintragen, die unter ganz anderen und sich rasch ändernden Bedingungen agiert.
Die zwei Seelen der Sozialdemokratie
In seinem Artikel bringt Sunkara einiges an Sympathien für die Bolschewiki zum Ausdruck. Er formuliert aber auch: „[Wir] mögen sie zwar als Menschen mit guten Absichten betrachten, die aus einer Krise heraus versuchten eine bessere Welt aufzubauen. Es gilt jedoch herauszuarbeiten, wie wir die von ihnen gemachten Fehler verhindern können“. Natürlich müssen wir aus Fehlern lernen, aber dasselbe Prinzip muss auch auf die politischen Entscheidungen der Zweiten Internationale im frühen 20. Jahrhundert angewendet werden, der Sunkara nachzueifern scheint. Bhaskar Sunkara stellt zu Beginn seines Beitrags korrekter Weise fest, dass die kommunistische Bewegung „aus dem Gefühl heraus entstanden ist, von den moderateren linken Parteien der Zweiten Internationale verraten worden zu sein“. Er fährt fort zu erklären, wie diese sozialdemokratischen Parteien mit ihrer Ablehnung, Widerstand gegen den Ersten Weltkrieg zu leisten, die Arbeiterklasse verraten haben.
Leider macht sich Sunkara nicht die Mühe zu erklären, warum die Parteien der Sozialdemokratie „das Schlachten [des Ersten Weltkriegs] begünstigten, das 16 Millionen Menschenleben forderte“.
Sunkara führt aus, dass „die Bolschewiki sich einmal als >Sozialdemokraten< bezeichnet haben“. Oberflächlich betrachtet ist das richtig; in dem Sinne, dass die Bolschewiki – um Sunkaras Worte zu benutzen – „Teil einer breiten Bewegung wachsender Parteien waren, die für mehr politische Demokratie kämpfen und auf den Reichtum und die neue arbeitenden Klasse zurückgreifen wollten, die der Kapitalismus geschaffen hatte. Sie wollten eine Ausweitung der demokratischen Rechte auf gesellschaftlicher und ökonomischer Ebene, was kein Kapitalist zulassen würde“.
Doch auch an dieser Stelle muss eine wichtige Unterscheidung vorgenommen werden. Die frühen SozialdemokratInnen (von der Zeit der Gründung der Zweiten Internationale im Jahr 1889 unter Anleitung durch Engels bis zu dessen Tod) hielten zumindest in ihren Worten an revolutionären marxistischen Ansichten fest, wenn es um Schlüsselfragen ging. Sie standen weiterhin für den Sturz des Kapitalismus und für Sozialismus. Heute steht der Begriff des „Sozialdemokraten“ für einen Weg der Reform innerhalb des Kapitalismus und die explizite Ablehnung der Revolution, des Marxismus und Leninismus.
Zur Zeit Lenins und noch vor dem Jahr 1917 kam es im breit aufgestellten Lager der „Sozialdemokratie“ zu einer ideologischen Schlacht zwischen der Idee von der Reform und der Idee der Revolution. Am deutlichsten zeigt sich dies an der sich lange hinziehenden Debatte, die innerhalb der Sozialdemokratie anlässlich des „Revisionismus“ entbrannte. Es ging dabei um die Frage, wie die Arbeiterklasse an die Macht kommen würde.
Der wichtigste reformistische Theoretiker der Sozialdemokratie dieser Zeit war Eduard Bernstein. Er meinte, dass für die ArbeiterInnen keine Notwendigkeit bestehe, die Macht an sich zu reißen, und dass der Sozialismus durch die schrittweise Ausweitung demokratischer Rechte, den Ausbau von Kooperativen, Gewerkschaften und der öffentlichen Versorgung von selbst kommen würde. Andere ReformistInnen wendeten ein, dass die ArbeiterInnen die Macht de facto übernehmen würden, indem sie nur von den bestehenden parlamentarisch-demokratischen Institutionen Gebrauch machen. Bernstein sagte, dass „das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, mir nichts, die Bewegung alles“ ist. Neben Karl Kautsky (bevor dieser im Jahr 1910 seine frühere Position zu „verleugnen“ begann) wies Rosa Luxemburg die Ansichten Bernsteins zurück. Sie argumentierten, dass die Arbeiterklasse die Macht an sich reißen müsse und der Sturz des Kapitalismus die einzige Möglichkeit ist, um den Widerstand der herrschenden Klasse zu brechen und den neuen Arbeiterstaat zu verteidigen.
Die besagten reformistischen Sichtweisen sind nicht einfach so vom Himmel gefallen. Sie waren Ausdruck der konservativen Perspektiven der FunktionärInnen in Parlament, Gewerkschaft und Partei. Diese hatten damit begonnen, sich unter den Bedingungen einer längeren Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs vor dem Ersten Weltkrieg (als der Kapitalismus noch in der Lage war, die Produktivkräfte der Gesellschaft weiter zu entwickeln) ins Regime des Kapitalismus zu integrieren. Als die Krise des Kapitalismus zum Krieg zwischen den kapitalistischen Mächten führte, führte der Verrat der sozialdemokratischen Führungsfiguren, die sich plötzlich hinter ihre „eigene“ herrschende Klasse stellten, zur vollkommenen Verwirrung der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung in ganz Europa und weltweit.
Es waren Lenin und die bolschewistische Partei, die neben einer Handvoll InternationalistInnen wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Deutschland Widerstand gegen den Ersten Weltkrieg leisteten und die Traditionen der „revolutionären Sozialdemokratie“ und des Marxismus verteidigten. Die Diskreditierung des Kapitalismus während des drei Jahre andauernden Abschlachtens von 16 Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern Europas half, den Boden für die Revolution in ganz Europa zu bereiten. Den Beginn machte Russland. Millionen von Menschen auf der ganzen Welt kamen zu Kundgebungen zusammen, um die Russische Revolution und die neue Dritte Internationale zu unterstützen.
Wenn wir die Geschichte der Sozialdemokratie diskutieren, dann müssen wir klar zwischen der frühen und revolutionären Sozialdemokratie unterscheiden, die in Opposition zur konservativen, reformistischen Sozialdemokratie stand, und eben dieser reformistischen Sozialdemokratie, die den Weg in den Krieg wies und sich darauf ausrichtete, zusammen mit dem Kapitalismus gegen die revolutionären Bewegungen der Arbeiterklasse vorzugehen.
Debatte hält bis heute an
Ob es Erfolg hat, den massenhaft vorhandenen Widerstand gegen die Austerität und die anderen Übel des kapitalistischen Systems in effektive Aktionen gegen Rassismus, Sexismus, Krieg, Armut und Erwerbslosigkeit übertragen zu können, hängt davon ab, ob ein mutiges kämpferisches Programm mit dazugehörigen Strategien und Taktiken zum Einsatz kommt. Genau wie die Bolschewiki im Jahr 1917 müssen auch wir eine sich schnell weiterentwickelnde Situation analysieren, um die besten Vorschläge und Parolen zu erdenken, mit denen die Menschen zu aktivem Handeln zu motivieren sind. Das erfordert auch ArbeiterInnen, die ihre eigene unabhängige Massenpartei entwickeln. Diese muss demokratisch aufgebaut und in der Lage sein, die jungen Leute mit der Arbeiterklasse und den verarmten Schichten zu vereinen, um einen entschlossenen Kampf gegen die gesellschaftliche Klasse der Milliardäre zu kämpfen.
Die Geschichte zeigt, dass Ideen, Programm und die Art der Führung bedeutsam sind, und dass es durchaus Möglichkeiten gibt, um den Kapitalismus herauszufordern. Diese werden aber nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn die Ideen des Marxismus sich mit einer organisierten sozialistischen Linken in der Arbeiterklasse durchsetzen.
Abgesehen davon, dass sie mit dem Aufbau der Bewegung gegen die Attacken von Trump und den „Republikanern“, die an der Macht sind, beginnen müssen, müssen SozialistInnen in den USA sich auch weiterhin an einer konstruktiven Debatte darüber beteiligen, wie die Bewegung aufgebaut werden muss und die politische Macht in die Hände der arbeitenden Menschen übergehen kann. Bewegungen werden heute und hier nicht exakt nach dem Muster entstehen wie es in den letzten Jahren in Griechenland oder vor 100 Jahren mit der Russischen Revolution der Fall war. Aus all diesen Erfahrungen heraus müssen jedoch wichtige Lehren für heute gezogen werden.
Heute stellen sich der sozialistischen Bewegung zwei wesentliche Aufgaben: Einerseits geht es um die Frage, wie wir SozialistInnen, progressive Strömungen und neue Kräfte in einer breiten und vereinten Aktion zusammenbringen. Es geht darum, den gemeinsamen Kampf und Widerstand zu organisieren, um die politische Rechte und die neoliberale Offensive zu bezwingen. Wir müssen aber auch das Ziel vor Augen haben, die fortschrittlichsten Schichten der Arbeiterklasse und jungen Leute davon zu überzeugen, dass ein mutiges sozialistisches Programm den einzigen Weg bietet, um aus der Krise des Kapitalismus herauszukommen. Darüber hinaus geht es um die Notwendigkeit, eine revolutionäre Organisation aufzubauen, die in der Lage ist, den Kampf zur Durchsetzung eines solchen Programms anzuführen.
Wichtige Debatten wie diese, die an der Geschichte der Arbeiterklasse, dem internationalen Kampf, der Strategie und dem Programm ansetzen, müssen fortgeführt werden, wenn wir gemeinsam daran arbeiten wollen, die gesellschaftliche Klasse der Milliardäre zu bezwingen und eine mächtige sozialistische Bewegung neu aufzubauen.