Jerusalem-Coup und Antisemitismus-Debatte

credit: activestills.org

Eine sozialistische Perspektive auf den Nahostkonflikt

Donald Trump scheint immer für eine Überraschung gut, allerdings heißt das in seinem Fall nur selten etwas Gutes. In diese Kategorie kann auch sein Entschluss, die US-amerikanische Botschaft in Israel nach Jerusalem zu verlegen, gezählt werden.

Von Steve Hollasky, Dresden

Die Reaktionen waren vorhersehbar: Die Hardliner in der israelischen Regierung freuten sich, die Herrschenden in der EU vergossen Krokodilstränen und die PalästinenserInnen wurden von Wut erfasst, brennende Israel-Fahnen am Brandenburger Tor und ein Bundespräsident, der vor dem Erstarken eines neuen Antisemitismus warnt.

Was bedeutet Trumps „Hauptstadtcoup“?

Die israelische Regierung beeilte sich sehr, nach der Ankündigung Trumps Jerusalem als Hauptstadt anzuerkennen und die US-Botschaft dorthin zu verlegen, diesen Schritt als harmlos, ja – bezüglich des sogenannten Friedensprozesses – sogar als hilfreich darzustellen. Jerusalem sei nun einmal die Hauptstadt Israels, erklärte Netanjahu, und man müsse Fakten akzeptieren, wenn man Frieden wolle.

Wenn dem so wäre, dann würde das bedeuten, auch die palästinensischen Ansprüche auf Jerusalem als Fakt anzuerkennen, ebenso wie den Umstand, dass gleich alle drei Weltreligionen Jerusalem als konstituierend für ihren Glauben ansehen.

Tatsächlich stellt Trumps Maßnahme all die vielen schön klingenden Zusicherungen an die PalästinenserInnen ernsthaft infrage. Ein unabhängiger palästinensischer Staat, der wenigstens auch auf einen Teil der Stadt Jerusalem Anspruch erheben würde, scheint mit dem Schritt des US-amerikanischen Präsidenten in weite Ferne gerückt zu sein.

Wieso geht Trump diesen Schritt?

Die immer offeneren Mutmaßungen über den Gesundheitszustand des US-amerikanischen Präsidenten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Trumps Schritt Ergebnis eiskalter Berechnung war. Dabei spielten weder die Interessen noch ein angeblich bestehender politischer Druck jüdischer Kreise in den USA eine Rolle. Ganz im Gegenteil hat die weit überwiegende Mehrheit der US-amerikanischen Jüdinnen und Juden nicht Donald Trump gewählt. Von ihm erhofft sich die Mehrheit der US-amerikanischen Jüdinnen und Juden wohl kaum die Vertretung ihrer Interessen. Vielleicht versucht Trump diese Situation mit seiner Maßnahme auch – wenigstens teilweise – zu verändern und die politische Meinung von Jüdinnen und Juden in den USA zu seiner Regierung zu verändern. Ob ihm das mittels solcher Aktionen gelingen wird bleibt jedoch fraglich.

Als sicher kann hingegen angesehen werden, dass Trumps diplomatische Provokation die reaktionäre, erzkonservativ-christliche Rechte in den USA beeindrucken soll. Gerade jenes Klientel also, welches sich von Trumps Präsidentschaft so viel erhofft hatte. Dessen antimuslimische Vorurteile spricht das Weiße Haus an. Und genau diese Schicht ist über den Coup ihres Präsidenten hocherfreut.

Trumps Schritt dient zum einen als außenpolitisches Ablenkungsmanöver, um etwas Luft angesichts der vielen innenpolitischen Probleme seiner Präsidentschaft zu bekommen. Zum anderen sichert sich Trump mit der Anerkennung Jerusalems als israelischer Hauptstadt die Gunst des wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten in einer Phase, in der dort die Karten neu gemischt, die Pfründe neu verteilt werden.

Und er bietet ihm gleichzeitig konkrete Schützenhilfe an: Die Netanjahu-Regierung gerät im Land immer stärker unter Druck. Zuletzt gingen am 3. Dezember Zehntausende gegen den Chef des regierenden Likud-Blocks auf die Straße. Sie werfen Benjamin Netanjahu Vorteilsnahme in wenigstens zwei Fällen vor. So soll Netanjahu von dem US-Filmproduzenten und mehrfachen Milliardär Arnon Milchan teure Geschenke für sich und seine Ehefrau angenommen haben.

Dem Verleger der Zeitung Jediot Ahronot soll er im Gegenzug für eine positive Berichterstattung über sich und seine Regierung versprochen haben, dem Konkurrenzblatt Israel Hayom das Leben schwer zu machen.

Und gute Presse hat Netanjahu dringend nötig: Unvergessen sind die Szenen von Hunderttausenden, die vor nunmehr sechs Jahren den Rothschild-Prachtboulevard in Tel Aviv entlangmarschierten, weil die sozialen Kürzungen des Likud-Blocks ihnen das Leben unerträglich werden ließen; noch allzu frisch sind die Erinnerungen an den israelischen Lehrer, der mit seinen zwei Kindern inmitten Gleichgesinnter auf dieser Straße campte, weil er in der vierten Woche des Monats kein Geld für seine Familie mehr hatte, obwohl er voll arbeiten ging.

Auch heute zelten AktivistInnen wieder im Freien, diesmal vor der Staatsanwaltschaft, weil sie die Anklage Netanjahus fordern.Ihre Zahlen sind weitaus geringer als 2011, aber wie sie bewiesen haben, können auch sie Zehntausende mobilisieren.

Als Anfang Dezember der israelische Pharma-Riese Teva die Streichung von weltweit 14.000 Stellen bekanntgab und erklärte allein in Tel Aviv sollten 1.700 Arbeitsplätze wegfallen, streikten nicht nur die Beschäftigten des Unternehmens. Am Sonntag, dem 17.12. folgten auch zahlreiche Angestellte des öffentlichen Dienstes – in Banken, Schulen und anderen staatlichen Einrichtungen – dem Aufruf des Gewerkschaftsdachverbandes „Histadrut“ und legten die Arbeit nieder. Selbst die Börse musste zeitweilig ihre Pforten schließen. Der Streik sollte Solidarität mit den MitarbeiterInnen von Teva erzeugen. Diese blockierten an diesem Tag sogar Straßen und öffentliche Plätze.

Eines stellt der erfolgreiche Streik unter Beweis: Die Wut der ArbeiterInnen in Israel über ihre korrupte Regierung und über Arbeitsplatzvernichtung scheint riesig zu sein.

Und dennoch versucht Trump den in Bedrängnis geratenen israelischen Ministerpräsidenten zu stützen. Die aggressive Außenpolitik des Likud-Blocks liegt auch im Interesse des US-Präsidenten. Doch Netanjahu gibt es nur im Gesamtpaket, wer seine außenpolitischen Bestrebungen will, der muss seinen Sozialabbau im Inneren akzeptieren und auch seinen Umgang mit den PalästinenserInnen, die in Netanjahus Augen bestenfalls eine eingeschränkte Selbstverwaltung unter Ägide der Herrschenden in Israel genießen sollen. Auch für ihn birgt die Handlung Trumps große Chancen, ermöglicht es ihm doch von seinen Problemen im Inneren auf die außenpolitische Bühne abzulenken.

Palästinensische Reaktionen

In der Westbank und im Gaza-Streifen, den mehrheitlich von PalästinenserInnen bewohnten Gebieten, fielen die Reaktionen heftig aus: Zusammenstöße mit der israelischen Armee und ein Generalstreik in der Westbank. Angesichts dieses spontanen Widerstands, fühlte sich die rechte, islamistische Hamas gezwungen, zu einer „dritten Intifada“, also einem Aufstand gegen Israel aufzurufen.

Die Unterstützung der Hamas war in den letzten Jahren deutlich gesunken: Die Versorgungsschwierigkeiten, Korruption und die Unterdrückung grundlegender Rechte im Gaza-Streifen, haben das Bild der Hamas bei den palästinensischen Massen stark verändert. Zuletzt streikten am 12. Dezember Beschäftigte des öffentlichen Dienstes im Gaza-Streifen und forderten die Auszahlung des ausstehenden Novembergehalts. Die Hamas hatte die Entlohnung von Lehrerinnen und Lehrern und Verwaltungsangestellten mit Blick in die leeren öffentlichen Kassen unterbunden. Mit ihrem Aufruf zur Intifada versucht die Hamas Kontrolle über die Situation zu erlangen und verlorene Unterstützung wieder gut zu machen.

Scheinbar gerät die Hamas auch durch islamistische Splittergruppen unter Druck, die in den letzten Wochen mehrmals Raketen in Richtung Israel abfeuerten. Von denen wird der Beschuss von jüdischen Siedlungen als Widerstand gegen die Besatzung verkauft, obwohl er für die unterdrückten PalästinenserInnen nichts bewirkt, aber die israelische Zivilbevölkerung in die Arme der Netanjahu-Regierung treibt.

Und genau hierin liegt das Problem: Das Vorgehen der Hamas spaltet die Menschen in Israel und Palästina entlang ethnischer und religiöser Linien. Den Herrschenden in Israel werden die Raketeneinschläge nicht gefährlich, aber sie eignen sich bestens, um Angriffe auf den Gaza-Streifen zu legitimieren. Und wenn die Angriffe der Hamas auf Israel überhaupt irgendwen bedrohen dann – das zeigen alle Erfahrungen mit dieser Art des Kampfes – lediglich unschuldige Israelis.

Dabei war der Instinkt der palästinensischen Massen sich mittels eines Generalstreiks gegen Trumps Hauptstadtcoup zur Wehr zu setzen genau richtig. Nur wird die Hamas genau in diesem Kampf keine Hilfe sein.

Gemeinsam kämpfen lernen

Die einfachen ArbeiterInnen und Jugendlichen auf beiden Seiten der nationalen Spaltungslinie leiden unter der angespannten Sicherheitslage und unter Armut, Sozialabbau und der Dominanz der „eigenen“ kapitalistischen Eliten. Was in Israel und Palästina fehlt ist eine starke unabhängige, sozialistische Bewegung, die die soziale Frage in den Mittelpunkt rückt und auf der Basis einer gegenseitigen Anerkennung des nationalen Selbstbestimmungsrechts die gemeinsamen sozialen Interessen der israelisch-jüdischen und der palästinensischen Arbeiterklasse formuliert.

Auf der Grundlage wäre es möglich, den Sozialabbau in Israel und die Unterdrückung in den Palästinensergebieten zu beenden. Und die aktuelle Lage scheint dafür Möglichkeiten zu bieten: Allein im Dezember gab es in Israel und in den den Gebieten der PalästinenserInnen vier Massenkämpfe, es gab Streiks, Demonstrationen und Straßenbesetzungen. Eine sozialistische Bewegung würde versuchen diese Kämpfe zu vernetzen und die Gemeinsamkeiten in den Interessenslagen erkennbar werden zu lassen: Wie die Angestellten des öffentlichen Dienstes im Gaza-Streifen angesichts ausstehender Gehaltszahlungen Angst um ihre Existenz haben, so verzweifelt und wütend sind die israelischen Beschäftigten bei Teva. So wie die Israelis zunehmend die Likud-Regierung mit Netanjahu an der Spitze nicht mehr bereit sind zu ertragen, so sehr hassen die palästinensischen Massen diese Regierung, weil sie sie bedroht, bombardiert und jeden Ansatz für einen eigenen Staat zunichte macht.

Antisemitismus-Debatte in Deutschland

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnte unlängst vor dem Wiedererstarken antisemitischer Stimmungen in der deutschen Bevölkerung. Anlass zu dieser Warnung war eine Demonstration palästinensischer Gruppierungen vor dem Brandenburger Tor, die als Antwort auf den Schritt der USA gedacht war. Dabei wurden israelische Flaggen verbrannt.

Angesichts der deutschen Geschichte und des Holocausts ist es nachvollziehbar, dass das Verbrennen einer Fahne, die den Davidstern trägt, auf Empörung stößt. Genauso ist aber die Wut von PalästinenserInnen auf den Staat Israel nachvollziehbar, der für die Vertreibung Hunderttausender PalästinenserInnen und für jahrzehntelange Unterdrückung verantwortlich ist. Dass sich diese Wut auch gegen Symbole des unterdrückenden Staates richtet, ist nicht verwunderlich, wenn auch unklug, weil solche Aktionen nur den Effekt haben, die Debatte von der Verantwortung des israelischen Staates für millionenfaches Leid abzulenken und eine Antisemitismus-Debatte auszulösen, die heuchlerisch ist und sich immer mehr pauschalisierend gegen muslimische MigrantInnen richtet.

Das Argument, der Antisemitismus ziehe durch palästinensische Demonstrationen wieder in Deutschland ein, ist in ungefähr so schlüssig, wie die AfD/PEGIDA-Logik, nach der in Deutschland sexualisierte Gewalt gegen Frauen erst mit dem vermehrten Ankommen von Geflüchteten zu einem Problem geworden sei. Antisemitismus ist nicht mit den Protesten der PalästinenserInnen in Deutschland aufgetaucht. Er hat eine lange und ungebrochene Tradition. Und so sehr pauschalisierende Aussagen gegen Jüdinnen und Juden auf solchen Demonstrationen zurück gewiesen werden müssen, sind die Proteste in Solidarität mit Palästina alles andere als antisemitisch.

Die Linke und Palästina

Linke Gruppen und Parteien haben die Aufgabe den Kampf der Unterdrückten weltweit zu unterstützen und zu vernetzen. In Palästina ist das umso bedeutender, weil das Fehlen starker sozialistischer Kräfte den Kampf dort erschwert und Gruppen wie der Hamas Rückenwind verpasst. Der Kampf für ein befreites Palästina bedeutet Kampf gegen die Herrschenden in Israel. Der wird jedoch nur erfolgreich sein, wenn die ArbeiterInnen in Israel verstehen, dass sie mit den unterdrückten PalästinenserInnen weit gemein haben als mit den Herrschenden in ihrem Land. Einen solchen Kampf kann nur organisieren, wer mit den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen bricht. Der Kampf um ein friedliches Zusammenleben im Nahen Osten ist ein Kampf gegen den Kapitalismus. Frieden wird es nur geben, wenn die Internationale der Beherrschten ihn gegen die Internationale der Herrscher, der Trumps und der Netanjahus durchsetzen wird. Deshalb treten wir für ein sozialistisches Israel und ein sozialistisches Palästina – mit zwei Hauptstädten in Jerusalem – ein, in dem die Menschen frei entscheiden können, wie sie zusammen leben und ob sie sich zu einer Föderation sozialistischer Staaten im Nahen Osten zusammenschließen wollen. Das könnte, wie die Sozialistische Bewegung „Kampf“ in Israel und Palästina schreibt „einen angemessenen Lebensstandard, gleiche Rechte, Bewegungsfreiheit, Religionsfreiheit ermöglichen und gleichzeitig religiösen Zwang überwinden. In einer solchen Gesellschaft könnte Jerusalem als pluralistische Stadt aufblühen ohne verarmte Ghettos, ohne Diskriminierung und ohne Betonmauern.“