Interview mit Lucy Redler und Sascha Staničić
In diesem Jahr jährt sich die Oktoberrevolution zum hundertsten Mal. Warum sollte sie gefeiert werden?
Lucy: Die Oktoberrevolution ist der Beweis dafür, dass die Arbeiterklasse erfolgreich Revolution machen kann, dass man Willkürherrschaft und Kapitalismus stürzen und eine neue Ordnung schaffen kann. Sie ist der Beweis gegen alle Skeptikerinnen und Skeptiker, die behaupten, das sei nicht möglich.
Die vorherrschende Geschichtsschreibung würde aber schon in Frage stellen, dass der Oktoberumsturz überhaupt eine Revolution war und spricht von einem Putsch der Bolschewiki.
Sascha: Weil die offizielle Geschichtsschreibung immer die Sichtweise der Herrschenden ausdrückt. Die Russische Revolution war ein zutiefst demokratischer Prozess, der eine aktive Beteiligung der Massen zur Grundlage hatte. Womit hätten die Bolschewiki auch putschen sollen? Sie verfügten doch über keine Machtpositionen in der alten Gesellschaft, kommandierten nicht Armee und Polizei. Sie hatten aber die Unterstützung der Mehrheit der einfachen ArbeiterInnen und Soldaten gewonnen.
Lucy: Die Revolution war ja getragen von den Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten. Diese Räte waren nach dem Sturz des Zaren gebildet worden und in ihnen hatten anfangs die gemäßigten linken Parteien eine Mehrheit. In einem demokratischen Prozess gewannen dann die Kräfte die Mehrheit, Bolschewiki und linke Sozialrevolutionäre, die auch die Macht des Kapitals stürzen wollten. Demokratischer geht kaum.
Was ist für Euch das Inspirierendste an der Oktoberrevolution?
Lucy: Die Rolle der Frauen, der Arbeiterinnen Petrograds, die mit ihrem Streik im Februar (bzw. im März nach dem heute geltenden Kalender) den Sturz des Zaren und die Revolution auslösten.
Sascha: Die Weisheit der Massen. Wenn man sich die Entwicklung der Forderungen und politischen Meinungsäußerungen der Arbeiterinnen und Arbeiter Petrograds anschaut, so hatten sie vielen linken Aktivistinnen und Aktivisten zu jedem Zeitpunkt etwas voraus. Sie mussten aber die Erfahrung machen, dass die Parteien, die nach dem Sturz des Zaren die so genannte Provisorische Regierung bildeten, nicht Willens waren diese Forderungen umzusetzen. Das trieb sie geradezu in die Arme der Bolschewiki.
Lucy: Die Bolschewiki haben sozusagen das Unbewusste bewusst gemacht und den Aspirationen der Massen eine Richtung gegeben, die zu ihrer Durchsetzung führen konnte.
Und was ist Eurer Meinung nach die wichtigste Lehre der Oktoberrevolution?
Sascha: Die Notwendigkeit einer festen Organisation von Revolutionärinnen und Revolutionären. Ohne die Bolschewiki hätte es keinen erfolgreichen Machtwechsel gegeben. Dazu war die Ausarbeitung eines Programms und einer Strategie und Taktik nötig, die größtmögliche Einheit der ArbeiterInnen, Soldaten und armen Bäuerinnen und Bauern schaffen konnte und die in der Lage war, zum richtigen Zeitpunkt geschlossene Aktionen anzuleiten.
Lucy: Ich würde die Fähigkeit der Bolschewiki hinzufügen, die Massen sozusagen zu lesen. Es gelang ihnen immer am Bewusstsein der Massen anzuknüpfen und die nächsten Schritte für die Bewegung aufzuzeigen, Slogans wie „Land, Frieden, Brot“ oder „Alle Macht den Räten“ zu entwickeln, die eine Verbindung zu der breiten Masse ermöglichten, aber auch den Weg nach vorne aufzeigten.
Sascha: Und es war von größter Bedeutung, dass die Bolschewiki ihre Unabhängigkeit wahrten. Das nicht zuletzt in der Regierungsfrage. Weil sie erkannt hatten, dass die Forderungen nach einer Beendigung des Krieges, nach der Aufteilung des Grund und Bodens, nach dem Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Völker im Rahmen kapitalistischer Macht- und Eigentumsverhältnisse nicht möglich war, setzten sie auf eine sozialistische Veränderung und verweigerten sich folglich einem Eintritt in die Provisorische Regierung. Sie wussten, dass eine Koalition mit diesen Kräften sie mitverantwortlich für die Fortsetzung des Kriegs und der unhaltbaren Zustände gemacht hätte. Das ist eine Lehre, die auch für die heutigen Diskussionen über Regierungsbeteiligungen linker Parteien wichtig ist.
Aber spricht der weitere Verlauf der Geschichte nicht gegen die Oktoberrevolution? War die Diktatur Stalins nicht in dem von den Bolschewiki geschaffenen Staat angelegt?
Lucy: Die Bedingungen für den Aufbau einer sozialistischen Demokratie waren in Russland denkbar schlecht. Die Arbeiterklasse schwach, das Land rückständig und wenig industrialisiert. Dann kam nach vier Jahren Weltkrieg der von den alten Machthabern und Imperialisten aufgezwungene Bürgerkrieg hinzu, der das Land ausblutete und einen großen Teil der Revolutionärinnen und Revolutionäre tötete, die den Aufbau einer neuen Gesellschaft hätten gestalten können. Auf der Basis von Hunger, Deindustrialisierung, Not und Erschöpfung ist eine Gesellschaft nicht aufzubauen, die auf Verteilung von Überfluss und der aktiven Beteiligung der Massen basiert.
Sascha: Aber das spricht nicht gegen die Revolution. Es war richtig und nötig, die Chance zu ergreifen und damit auch den Weg für eine internationale sozialistische Umwälzung frei zu machen. Die Gelegenheit dazu bestand ja auch in vielen europäischen Ländern nach dem Endes des Kriegs. Gescheitert ist diese dann vor allem an der konterrevolutionären Rolle der Sozialdemokratie, die den Kapitalismus rettete. Dass Sozialismus isoliert in Russland nicht möglich sein würde, war den Bolschewiki klar. Sie rechneten damit, dass der neue Arbeiterstaat untergehen würde, wenn die Revolution in Deutschland oder anderswo nicht siegreich wäre.
Lucy: Untergegangen ist dann die Arbeiterdemokratie, die in der ersten Phase nach der Revolution ja bestand. Aber nicht durch eine Wiedereinführung des Kapitalismus, sondern durch eine politische Konterrevolution von innen, die von der neuen Funktionärskaste getragen wurde, die sich entwickeln konnte, weil das Land eben ausgeblutet und die Arbeiterklasse erschöpft war. Erst durch die Zerstörung des Bolschewismus in der bolschewistischen Partei wurde der Stalinismus möglich. Das war nicht zwangsläufig, aber die Opposition um Leo Trotzki wurde unterdrückt und zerschlagen.