Die Luther-Dekade geht auf ihren Höhepunkt zu. Am 31. Oktober 2017 gibt es in ganz Deutschland einmalig einen Feiertag. Wer freut sich nicht über einen bezahlten arbeitsfreien Tag. Aber ist der „Reformationstag“ ein Grund zum Feiern?
Von Ursel Beck
Nie zuvor wurde in Deutschland über ein ganzes Jahrzehnt ein geschichtliches Ereignis und eine Person so gefeiert wie Luther und „500 Jahre Reformation“. Im Internet kursieren nachvollziehbare Berechnungen, wonach von 2008 bis 2017 mehr als 250 Millionen Euro an Steuergeldern für die „Luther-Dekade“ ausgegeben wurden. Das Luther-Jahr 2017 wird von der Bundesregierung mit 41 Millionen Euro bezuschusst. Überall gibt es Veranstaltungen und Ausstellungen. Die Medien stürzen sich auf das Luther-Jahr. Die Vermarktung von Luther geht von Büchern über Tourismus bis zur Playmobil-Figur und jede Menge Nippes.
Augustinermönch
Martin Luther wurde am 10. November 1483 geboren und starb im Alter von 62 Jahren am 18. Februar 1546. Über das Elternhaus von Luther ist bekannt, dass sein Vater erst Bauer, dann Bergarbeiter und schließlich Hüttenbesitzer war. Diese Herkunft aus dem sich entwickelnden Bürgertum erlaubte es ihm die Lateinschule zu besuchen und zu studieren. Wenige Wochen nach Beginn seines Jurastudiums in Erfurt im Jahr 1501 geriet Martin Luther bei einem Gewitter in Todesangst. Er versprach Mönch zu werden, wenn Gott ihn das Gewitter überleben lässt. Gegen den Willen seines Vaters trat er ins Kloster der Augustinereremiten in Erfurt ein. Die theologischen Diskussionen und seine Gewissensnot als selbsterklärter Sünder brachten ihn zu der Gnadentheologie des lateinischen Kirchenlehrers Augustinus, die den Protestantismus theologisch geprägt hat. Danach kommt der Mensch nur durch die Gnade Gottes in den Himmel. Der Vorstellung die Kirche könne Sünden durch Beichte, Geldzahlungen, Pilgerreisen und andere fromme Taten erlassen, wurde von der Gnadenlehre widersprochen. Luther wurde Professor für Bibelauslegung in Wittenberg. Seine Studenten sollten die Bibel selbst lesen. In der hebräischen Originalsprache, nicht in der möglicherweise falschen lateinischen Übersetzung.
Luthers Thesen und die Folgen
Am 31. Oktober 1517 soll Martin Luther seine 95 Thesen in Latein an die Tür der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen haben. Historiker betrachten das inzwischen als Legende. In Wirklichkeit hat Martin Luther einen Beschwerdebrief gegen den exzessiven Ablasshandel an seine Kirchenoberen verfasst. Die 95 Thesen waren ein auf Latein verfasster Bestandteil dieses Briefes. Nur Gelehrte konnten das damals lesen und verstehen. Die Thesen von Luther waren noch keine rebellische Tat, sondern bewegten sich im Rahmen des religiösen Disputs zu dieser Zeit. Allerdings wollten sich der Papst und der Erzbischof von Mainz und Magdeburg, Albrecht von Brandenburg, ihr florierendes Geschäftsmodell „Sündenablass“ nicht durch einen Augustinermönch verderben lassen. Direkt nach Bekanntwerden von Luthers Thesen leitete Rom einen Ketzerprozess ein. Bei einem Verhör durch einen Bevollmächtigten des Papstes in Augsburg verweigerte Luther den Widerruf und flüchtet nach Wittenberg. Kurfürst Friedrich der Weise lehnte Luthers Auslieferung an Papst Leo X. ab.
1521 musste sich Luther in Worms vor dem Kaiser verantworten. Auch hier verweigerte er einen Widerruf. Der berühmte Satz „Hier stehe ich und kann nicht anders“ soll in diesem Zusammenhang nicht gefallen sein. Er wurde Luther später in den Mund gelegt. Die Verweigerung des Widerrufs führte dazu, dass Luthers Lehre verboten wurde. Außerdem wurde die Reichsacht über ihn verhängt. Das heißt er wurde für vogelfrei erklärt und jeder durfte ihn töten. Luther entzog sich einer Verfolgung durch Untertauchen als „Junker Jörg“ auf der Wartburg. 1529 wurde auf dem Reichstag zu Speyer die Reichsacht gegen Luther verlängert. Die Luther-Anhänger unter den Fürsten und Reichsstädten protestierten dagegen. Dadurch entstand der Begriff Protestantismus für die evangelische Kirche.
Luthers Absicht war nicht, die Kirche zu spalten. Er war zunächst nur gegen den sogenannten Peterserlass, den Ablasshandel des Papstes. Gegen den Ablass- und Reliquienhandel des Kurfürsten von Sachsen, der Luther beschützte, hatte er nichts einzuwenden. Die heftige Reaktion des Papstes auf die eigentlich milde Kritik ließ den Streit eskalieren. Als der Papst 1520 eine Bulle mit der Androhung des Banns an Luther schickte, verbrannte Luther diese mit seinen Studenten öffentlich. Das war ein bis dahin nicht dagewesener Affront gegen den Papst und stellte dessen Allmacht erstmals offen in Frage. Sein hitzköpfiger und derber Charakter führten Luther zu immer heftigeren Attacken und Hasstiraden bis hin zur Morddrohung gegen Papst und Kirchenfürsten.
„So wir Diebe mit Strang, Mörder mit Schwert, Ketzer mit Feuer strafen, warum greifen wir nicht viel mehr an diese schädlichen Lehrer des Verderbens als Päpste, Kardinäle, Bischöfe und das ganze Geschroürm (= Geschwür) der Römischen Sodoma mit allerlei Waffen und waschen unsere Hände in ihrem Blut ?“
„Der Papst ist der Teufel; könnte ich den Teufel umbringen, warum wollte ich´s nicht tun?“
Der mit Heftigkeit geführte Streit zwischen Luther und dem Papst war eine Art Katalysator für die sozialen, politischen und theologischen Aufbrüche und Umwälzungen im 16. Jahrhundert. Viele Mönche und Nonnen folgten dem Beispiel Luthers, verließen die Klöster, heirateten und verbreiteten die Lehre Luthers. Durch die Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache und das Predigen in Deutsch wurde der Inhalt der Bibel weit verbreitet. In Kirchen und auf öffentlichen Plätzen traten Prediger auf und verbreiteten die Reformationsideen. Das waren oft eigene theologische und sozialrevolutionäre Interpretationen, die nicht mit Luthers Ideen kompatibel waren.
Luther als Interessenvertreter von Fürsten und Bürgertum
Für Fürsten und das entstehende Bürgertum war Luther der rechte Mann zur rechten Zeit. Sie wollten nicht länger akzeptieren, dass sich der Papst mit dem Geld aus dem Ablasshandel den prächtigen Petersdom finanzierte. Sie wollten selber mehr Reichtum und Macht. Protestantische Fürsten ließen Klöster schließen. Die Besitztümer der Orden eignete sich der Adel an. Am meisten profitierte der Kurfürst von Sachsen, Friedrich der Weise, von Luther. Die Universität Wittenberg wurde in der Zeit von Luther zur größten deutschen Universität. Luthers Veröffentlichungswut führte dazu, dass sich Druckunternehmen in Wittenberg ansiedelten. Das verhalf Bürgertum und Stadt zu weiterem wirtschaftlichen Aufschwung.
Von Prunk und Protz befreite Kirchen und die Verschlankung der Kirche in jeder Hinsicht, war im Interesse von Fürsten und des Bürgertums. Weniger Geld der Untertanen an die Kirche erhöhte den Spielraum für staatliche Steuern und für Investitionen in Handwerk und Industrie. Weniger Feiertage, weniger Messen, weniger Wallfahrten bedeuteten, dass die arbeitende Klasse der Bauern, Handwerker und Lohnarbeiter mehr Zeit für produktive und für die besitzende Klasse gewinnbringende Arbeit verbrachten. Hinzu kam ein Theologie die nicht nur Gehorsam, sondern Fleiß und hartes Arbeiten zur religiösen Pflicht erklärte. Der Protestantismus war also ein enormer Vorteil für die Durchsetzung des Kapitalismus.
Deutsche Sprache – Deutsche Nation
Anfang des 16. Jahrhunderts war die Amtssprache und die Sprache der Kirchenmessen Latein. Vor Luther gab es keine einheitliche deutsche Sprache. Durch die Flugschriften und die Luther-Bibel und deren Verbreitung wurde sie erstmals geschaffen. Zwischen 1520 und 1526 sollen etwa 11.000 Flugschriften mit schätzungsweise einer Gesamtauflage von elf Millionen Exemplaren erschienen sein. 1534 erschien die Vollbibel erstmals in Hochdeutsch. Im Laufe von Luthers Leben wurde davon ein halbe Million Exemplare verkauft. Auf Luther werden viele Wortschöpfungen und Redewendungen zurückgeführt: Lästermaul, Lockvogel, Gewissensbisse, Schandfleck, Bluthund, Feuereifer „der Wolf im Schafspelz“, das „Buch mit sieben Siegeln“, „Zähne zusammenbeißen“, „ein Herz und eine Seele“, „Perlen vor die Säue werfen“. Die Vereinheitlichung der Sprache durch die Reformation war ein Faktor zur Entwicklung einer nationalen Identität.
Im 16. Jahrhundert gab es keine deutsche Nation. Das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ erstreckte sich von Flandern, Lothringen und Burgund im Westen bis Schlesien im Osten und von der Nordsee bis Oberitalien. Es war ein in unabhängige Territorien und freie Städte zersplittertes Reich. Hier lebten etwa 15 Millionen Menschen, davon nur knapp ein Viertel in Städten. Wegen des Fehlens einer weltlichen Zentralgewalt, hatte der Papst mehr Einfluss als in Frankreich und England.
Die Fürsten nutzten Luthers Opposition gegen den Papst, um dessen Einfluss zurückzudrängen und die eigene Macht auszubauen. Luther setzte in seiner Schrift „an den christlichen Adel deutscher Nation“ auf die nationale Karte, um die Fürsten zu Verbündeten zu machen: „Wie kommen wir Deutschen dazu, dass wir solch Räuberei, Schinderei unserer Güter vom Papst leiden müssen“. Glaubensbrüder und –schwestern in Italien, Frankreich und anderswo interessierten ihn nicht.
„Erster Rebell der Neuzeit“?
Für den „Spiegel“ ist Luther „Der erste Rebell der Neuzeit“…. ein moralischer Krieger… Das Erbe Luthers ist groß. Es gibt kaum jemanden, der dieses Land, seine Kultur und seine Menschen so geprägt hat, wie er.“ („Spiegel“ 44/2016). Margot Käßmann, offizielle Luther-Botschafterin der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), erklärt sich zur Verehrerin von Luther und schreibt: „Luthers Freiheitsbegriff hat große Konsequenzen nach sich gezogen. ‘Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’ als Parole der Französischen Revolution hat im Gedanken der Freiheit eines Christenmenschen durchaus Wurzeln. Am Ende ist der Bogen bis zur Aufklärung zu spannen.“
Die Ehrung, die Luther hier zuteil wird, hält einer geschichtlichen Prüfung nicht stand.
Luther war nicht der erste Rebell der Neuzeit. Vor ihm gab es Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Thomas Morus. Sie lehnten die kirchliche Lehre ab, wonach das Leben nur dazu da sei, sich auf das Jenseits vorzubereiten. Sie wandten sich dem Diesseits zu und stellten den Menschen in den Mittelpunkt. Sie hatten erkannt, dass der Mensch einen eigenen Willen und die Fähigkeit hat, eine menschliche Gesellschaft zu entwickeln. Thomas Morus hatte bereits 1516 sein Utopia geschrieben, in der er die Vorstellung von einer Gesellschaft mit gemeinschaftlichem Besitz und Religionsfreiheit entwickelte. Durch Beobachtung und Erforschung von Mensch und Natur wurden Erkenntnisse gewonnen, die die Dogmen der Kirche vom Sockel stürzten. So hatte Kopernikus bereits erkannt, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums steht.
Gegen den Humanisten Erasmus von Rotterdam hetzte Luther: „Wer den Erasmus zerdrückt, der würget eine Wanze, und diese stinkt noch tot mehr als lebendig.“ Die Vernunft bezeichnete Luther als „des Teufels Hure“. Selbst den astronomischen Erkenntnisses des Kopernikus widersprach Luther, weil sie das Weltbild in der Bibel widerlegten.
Innerhalb der Kirche gab es schon 100 Jahre vor Luther Kirchenreformer. Der bekannteste war Jan Hus sowie sein Mitstreiter Hieronymus von Prag. Sie wetterten gegen den Ablasshandel, gegen die Gier und Scheinheiligkeit von Kirchenoberen und stellten den Papst als oberste Instanz der Religion in Frage. Viele Kirchenoberhäupter seien Abgesandte des Teufels. Das Konzil von Konstanz verdammte Jan Hus für seine Position und verbrannte ihn am 6. Juli 1415 wegen Ketzerei bei lebendigem Leib. Hieronymus von Prag endet im Mai 1416 auf dem Scheiterhaufen. Im Jahr 1439 machte die anonyme Schrift „Reformatio Sigismundi“ die Runde. Sie formulierte eine umfassende Gesellschaftskritik – auch an der Kirche: „Es ist ungeheuer, dass ein Christenmensch zum anderen sagen darf: Du bist mein Eigentum!“ Die Schrift fordert die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Entlastung der hörigen Bauern, die Enteignung der Kirche und gleiche Rechte für alle Menschen. Im Jahr 1476 wurde die Schrift gedruckt und war bald im ganzen Reich bekannt. Hinzu kamen radikale Prediger, wie Hans Böheim. Er wurde bekannt als „Pfeiferhänslein“ und hatte 30.000 Bauern hinter sich. Sein Plan war ein bewaffneter Aufstand gegen den Bischof von Würzburg. Er wurde jedoch vor dem geplanten Aufstand festgenommen und am 19. Juli 1476 verbrannt.
Freiheit des Christenmenschen
Die Evangelische Kirche prahlt mit dem Freiheitsbegriff Luthers. Monatelang wurde dieses Jahr im öffentlichen Raum das Luther-Zitat plakatiert: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“ Dieser von Luther viel zitierte Satz wird offensichtlich bewusst missinterpretiert. Es wird unterschlagen, dass der Text bei Luther wie folgt weitergeht: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Wie löst sich dieser Widerspruch auf? Im theologischen Sinne bedeutet die von Luther formulierte Freiheit, die Freiheit der geistigen Natur, oder der Seele, von der physischen Natur. Der Seelenzustand kann nur durch den Glauben und nicht durch äußere Umstände verändert werden. Heilige, Priester, Bischöfe und Päpste bedarf der Mensch nicht um in Kontakt mit Gott zu kommen. Darin bestand die mit der „Freiheit des Christenmenschen“ formulierte Attacke gegen den Papst. Gegenüber der politischen Obrigkeit bleibt für Luther die Knechtschaft und das Untertanendasein. Mit der von Luther gemeinten Freiheit war auch nicht Religionsfreiheit für andere reformatorischen Strömungen wie die Calvinisten oder die (Wieder)Täufer gemeint. Gegen sie war Luther auch ein Bündnis mit den Katholiken recht, um sie zu verfolgen.
Luther erhob seine Theologie zur Gotteslehre und verband damit einen Absolutheitsanspruch. Um die freie Interpretation der Bibel zu unterbinden, verlangte Luther bald, dass jeder Prediger einen Nachweis von der Amtskirche nachweisen müsse. Wenn nicht, sollte er dem Henker übergeben werden.
Antijüdische Haltung
Die religiöse Intoleranz von Luther traf auch die Juden. Nachdem der Versuch gescheitert war, sie zum Christentum zu bekehren, hetzte Luther gegen sie:
„Die Juden sind ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes Ding, dass sie 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen…; Man sollte ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecken, … unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien (…) ihre Häuser desgleichen zerbrechen und zerstören.“
Damit wurde Luther für den Faschismus zum Stichwortgeber für den Völkermord an den Juden. Hitler hat sich als Rechtfertigung für die Judenverfolgung auch auf Luther bezogen: „Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung, sah den Juden, wie wir ihn erste heute zu sehen beginnen.“
Und der evangelisch-lutherische Landesbischof Martin Sasse aus Eisenach erklärte nach der Reichspogromnacht: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird … die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt.“
Religiöser Fundamentalismus und Teufelsglaube
In der christlichen Religion spielt der Teufelsglaube eine große Rolle. Er wurde von Luther nicht ausgeräumt, sondern auf die Spitze getrieben. Luther selbst fühlte sich vom Teufel bedroht. Dieser Teufelsglaube führte dazu, dass in protestantischen Gegenden die Hexenverfolgung noch schlimmer war als in katholischen Gegenden. Luther war eindeutig ein religiöser Fundamentalist. Es stimmt nicht, wenn Margot Käßmann Luther als Vordenker der Französischen Revolution und der Aufklärung sieht. Er stand nicht für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Im Gegenteil. Er predigte: „Seid untertan der Obrigkeit“… „Der Christ muss sich, ohne den geringsten Widerstand zu versuchen, geduldig schinden und drücken lassen; weltliche Dinge gehen ihn nicht an, er lässt vielmehr rauben, nehmen, drücken, schinden, Schaben fressen und toben, wer da will, denn er ist ein Märtyrer auf Erden… Wo die Christenheit ist, da muss Blut kosten oder sind nicht rechte Christen. Es sind nicht Weideschafe, sondern Schlachtschafe, immer eins nach dem andern hin.“
Luthers reaktionäres Frauenbild
Luther forderte Bildung für beide Geschlechter. Es ging ihm dabei vor allem darum, dass jede und jeder die Bibel lesen könne. Gleichzeitig war er durch und durch frauenfeindlich.
„Der Tod im Kindbett ist nichts weiter als ein Sterben im edlen Werk und Gehorsam Gottes. Ob die Frauen sich aber auch müde und zuletzt tot tragen, das schadet nichts. Lass sie nur tot tragen, sie sind darum da.“
„Es ist ein arm Ding um ein Weib. Die größte Ehre, die das Weib hat, ist, dass wir allzumal durch die Weiber geboren werden.“
„Die Ordnung fordert Zucht und eher, dass Weiber schweigen, wenn die Männer reden.“
„Unkraut wächst schnell, darum wachsen Mädchen schneller als Jungen.“
„Eine Frau hat häuslich zu sein, das zeigt ihre Beschaffenheit an; Frauen haben nämlich einen breiten Podex und weite Hüften, daß sie sollen stille sitzen.“
Die Haltung Luthers gegenüber Frauen kann nicht mit der Beschränktheit seiner Zeit erklärt werden. Frauen bewegten sich im Mittelalter sehr wohl außerhalb der häuslichen Sphäre. Auf dem Land gab es eine gewisse Selbstverwaltung, die von den DorfbewohnerInnen geregelt wurde. Frauen standen hier in einem kameradschaftlichen und gleichberechtigten Verhältnis zu den Männern. Auch bei den Bauernaufständen spielten Frauen eine Rolle. Historische Untersuchungen des Aufstands des „Armen Konrad“ von 1514 ergaben, dass in dokumentierten Einzelaktionen von etwa 170 Aufständischen, 91 Frauen erwähnt sind, darunter 79 Mütter. Frauen hatten die Naturmedizin entwickelt und waren Hebammen. Der berühmt Arzt Paracelsus (1493 bis 1541) gestand: „Alles Wissen, das ich über die Medizin und die Wirkung von Heilkräutern habe, weiß ich von den Hexen und den weisen Frauen.“ Frauen halfen dort wo die Priester nicht halfen und verfügten über Wissen, das zumindest im medizinischen Bereich begrenzten Einfluss auf das Leben nahm und damit für eine gewisse Selbstbestimmung sorgte. Die katholische und protestantische Kirche fühlte sich dadurch in ihrer Macht bedroht. Mit der Hexenverfolgung sollten die Frauen zurückgedrängt werden. Lieber sollten Frauen und Kinder bei der Geburt sterben und Menschen an heilbaren Krankheiten ihr Leben verlieren, als dass Frauen Gott ins Handwerk pfuschen.
Fürsten diktierten Religion
Die Reformation brachte der Bevölkerung keine Religionsfreiheit. Auf dem Reichstag in Augsburg 1555 wurde beschlossen „wessen Land, dessen Religion“ Gemäß dieses sogenannten „Augsburger Religionsfriedens“ mussten die Untertanen die Religion ihrer jeweiligen Fürsten übernehmen. Die religiöse Spaltung Deutschlands wurde besiegelt. Preußen wurde protestantisch. Menschen im Einflussbereich der Hohenzollern-Dynastie waren bis zur Übernahme durch Preußen 1850 katholisch. Der Einflussbereich der Habsburg-Monarchie blieb katholisch. Jeweils Andersgläubige mussten sich anpassen, als Märtyrer sterben oder auswandern. Nur in den freien Reichsstädten hatten beide Religionen das Recht zur Ausübung. Die Fürsten wurden durch die Reformation zusätzlich kirchliche Oberhäupter der protestantischen Kirche, die Priester ihre Beamten. Der Dreißigjährige Krieg (1618 bis 1648) mit geschätzten bis zu acht Millionen Toten war kein Religionskrieg, sondern ein religiös aufgeladener Krieg um Macht und Einfluss zwischen der kaiserlichen Zentralgewalt und den Landesfürsten. Aber wie bis heute in vielen Kriegen und Bürgerkriegen wurde die religiöse Spaltung genutzt, um die Bevölkerung gegeneinander aufzuhetzen und kriegswillig zu machen.
Luther und der Bauernkrieg
Zur Zeit von Luther, waren die Bauern die wichtigste produzierende Klasse. Der größte Teil ihrer Produktion wurde unproduktiv von Fürsten, Kaiser und Papst, Bischöfen, deren Kriege und Kreuzzüge, für Bau und Unterhaltung ihrer prunkvolle Burgen, Schlösser, Klöster und Kirchen verbraucht. Der Gegensatz zwischen den verarmten Bauern und ihren reichen Ausbeutern führte bereits seit 1470 immer wieder zu lokalen Unruhen und Aufständen. Auch die bereits vorhandene Schicht ausgebeuteter städtischen Handwerker und Lohnarbeiter beteiligte sich daran. Als Luther seine Theologie des direkten Kontakts mit Gott, der göttlichen Gnade und der Freiheit des Christenmenschen postulierte und die Allmacht des Papstes offen in Frage stellte, war das Ventil für das allgemeine Aufbegehren des „gemeinen Volkes“ geöffnet. Hinzu kam, dass die deutsche Übersetzung der Bibel für eine Schicht von Lesekundigen eine eigene Interpretation der Bibel ermöglichte und durch die Bibel die Bereitschaft zum Lesenlernen und die Lesefähigkeit enorm zunahm.
„Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann“? fragten die Ausgebeuteten und Unterdrückten und volksnahen Prediger, wie Thomas Müntzer. Thomas Müntzer hatte sich zunächst Martin Luther angeschlossen, der ihn als Prediger nach Zwickau sandte. Er traf dort auf die „Zwickauer Propheten“ um Nikolaus Storch. Sie prangerten die ungerechte Verteilung des Reichtums an und setzten sich für die Durchsetzung der Gerechtigkeit Gottes im Diesseits ein. Diese radikale Theologie der Befreiung führte zum Konflikt mit Luther und der Zwickauer Obrigkeit. 1521 musste Müntzer Zwickau verlassen. In Prag verfasste er ein Manifest. Müntzer erklärte: „Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volk.“ Statt Privateigentum sollte es Gütergemeinschaft geben. Bauern, Bergleute und Handwerker wurden zu seinen Anhängern. Luther warnte die Fürsten 1524 in einem „Brief an die Fürsten zu Sachsen” vor dem aufrührerischen Geist. Thomas Müntzer schlug zurück mit einer Anti-Luther-Schrift gegen das „gaistlose sanfftlebene Fleysch zu Wittenberg.“
Der Aufstand der Bauern war nicht mehr aufzuhalten. In zwölf Artikeln legten sie dem Adel ihre Forderungen vor. Das waren unter anderem die Abschaffung der Leibeigenschaft, Entlastung von Frondienst und dem Zehnten, Rückgabe der Wälder und Weiden der Fürsten und Klöster an die bäuerliche Gemeinde, und die Wiedereinsetzung früherer Rechte. Zur Durchsetzung dieser Forderungen hatten die Bauern geheime lokale und regionale Organisationen wie den „Armen Konrad“ oder den „Bundschuh“ aufgebaut und einen bewaffneten Aufstand vorbereitet. Ausgehend vom Südwesten breitete sich der Aufstand 1524/25 schnell nach Franken, Hessen und Thüringen aus. Anführer waren oft verarmte Adlige und radikale Prediger wie Thomas Müntzer. Die aufständischen Bauern wurden jedoch von einer militärischen Übermacht verschiedener Fürsten beider Konfessionen niedergeschlagen und von anfänglichen Verbündeten in den Städten verraten. 100.000 Bauern wurden abgeschlachtet. Thomas Müntzer wurde gefangen genommen, gefoltert und am 27. Mai 1525 hingerichtet.
Anfangs hatte Luther die Forderungen der Bauern unterstützt und warf den Fürsten vor, dass sie durch ihre gnadenlose Ausbeutung selbst daran schuld seien, wenn sie die Bauern gegen sich aufbrächten. Doch er war nur für einen friedlichen Ausgleich. Im Bauernkrieg stellte sich Martin Luther auf die Seite der Fürsten und lieferte ihnen die theologische Rechtfertigung. In seinem Aufruf „wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“ hetzt er: „Man soll sie zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund totschlagen muss! Darum, liebe Herren, loset hie, rettet da, steche, schlage, würge sie, wer da kann, bleibst du darüber tot, wohl dir, seligeren Tot kannst du nimmermehr bekommen.“ Die Hetze gegen Aufklärer, gegen Andersgläubige, gegen Frauen und die aufständischen Bauern, seine Aufrufe zu Mord und Totschlag zur Durchsetzung seiner religiös-fundamentalistischen Ansichten, charakterisieren Luther nach heutigen Maßstäben als Hassprediger. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Luther nicht der erste Rebell der Neuzeit war. Er war allerdings der erste Rebell der Neuzeit, der den Schutz von Fürsten hatte und deshalb nicht auf dem Scheiterhaufen landete. Seine Rebellion richtete sich nur gegen den Papst und dessen Bischöfe und Kardinäle. Die Geister, die er damit rief konnte er nicht mehr kontrollieren. Aber Luther „dieser Mönch verhinderte alles wirklich Progressive in der Reformation“ so Karl Marx.
Die von Luther ausgehende protestantische Kirche, die Entwicklung der deutschen Sprache, das von ihm geförderte Nationalbewusstsein machten Luther zu einem Helden für die herrschende Klasse. Das hat sich bis heute nicht geändert. In Zeiten in denen immer mehr Menschen den Kirchen den Rücken kehren und gleichzeitig der Islam an Einfluss gewinnt, geht es den wirtschaftlich Mächtigen, ihrem Staat und Kirchenfürsten darum Werbung zu machen für die angeblich beste aller Religionen. Das ist der Hintergrund für den Hype um Luther. Das rechtfertigt aus Sicht der Herrschenden den Einsatz von Millionen Euro an Steuergeldern und einen Tag Produktionsausfall am 31. Oktober 2017 von 0,1 Prozent des Wirtschaftswachstums oder zehn Milliarden Euro.
Ursel Beck ist Sprecherin der LINKE Stuttgart – Bad Cannstatt und in der Mieterbewegung aktiv. Sie ist Mitglied des SAV-Bundesvorstands