Italien und EU gehen gegen Flüchtende und Rettungsinitiativen vor
Über 10.000 Menschen sind seit 2014 beim Versuch, über das Mittelmeer zu fliehen, ertrunken. Allein in den vier Monaten von Januar bis April 2017 starben laut UN-Angaben über 1300 Flüchtlinge. Die Regierungen Europas stellen nicht nur selber immer weniger Ressourcen für Seenotrettung zur Verfügung, sie ergreifen obendrein auch noch Maßnahmen gegen die Arbeit der NGOs und freiwilligen Initiativen, die Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten wollen.
Von Shane McInerny, Mannheim
Bis November 2014 war, aufgrund öffentlichen Drucks, die Operation „Mare Nostrum“ der italienischen Marine bis in libysche Küstengewässer hinein tätig und rettete in dieser Zeit 130 000 Menschen. Die EU weigerte sich, eine Fortführung zu finanzieren. Das Programm wurde eingestellt.
Die aktuellen EU-Operationen „Triton“ und „Sophia“ verstehen sich in erster Linie als ‚Grenzsicherungs‘- und nicht als Seenotrettungsmissionen. Es ist kaum verwunderlich, dass ein immer größerer Anteil der Seenotrettung von nicht-staatlichen Initiativen durchgeführt wird: 2014 erfolgten nur ein Prozent der Rettungen durch private Akteure wie NGOs, 2016 waren es schon 25 Prozent.
Zunehmend setzen die EU und Italien auf Zusammenarbeit mit der libyschen „Regierung“ (die nur eine von mehreren konkurrierenden Regierungen ist und nur einen kleinen Teil des Landes kontrolliert) und anderen fragwürdigen Figuren, um Flüchtende fernzuhalten. Es wird auch verstärkt gegen die Schiffe der NGOs vorgegangen, die Menschen vor dem Ertrinken retten wollen. Anfang August startete Italien eine militärische Operation vor der libyschen Küste – in Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache. Letztere ist nichts anderes als eine von einem Warlord angeführte Miliz, die mehrfach gewalttätige Übergriffe auf Flüchtlingsboote und NGOs verübt hat. Dennoch erhält sie großzügige finanzielle und materielle Unterstützung durch die EU.
EU hindert Retter
Gleichzeitig legte die italienische Regierung mit Billigung der EU den Seenotrettungs-NGOs ein Verhaltenskodex zum Unterzeichnen vor – was mehrere der betroffenen Initiativen aus gutem Grund verweigert haben. Unter anderem müssten sie die Anwesenheit bewaffneter Polizeikräfte auf ihren Schiffen dulden. Vor allem müssten sie nach jeder Rettungsaktion mehrere Tage das Einsatzgebiet verlassen um die Geretteten in einen Hafen zu bringen, anstatt sie an andere Schiffe zu übergeben und die Rettungsmission vor Ort fortzusetzen. Die Beschlagnahme des Schiffs der Initiative „Jugend rettet“, die eine Unterzeichnung des Verhaltenskodex verweigert hatte, lässt erahnen, dass die italienischen Behörden rücksichtslos gegen diejenigen vorgehen werden, die diese Regelungen nicht einhalten wollen.
Hintergrund der verschärften Gangart seitens Italiens ist ein Konflikt mit den anderen EU-Staaten. Die italienische Regierung möchte, dass andere Mittelmeer-Anrainerstaaten sich an der Aufnahme der Geretteten beteiligen. Aktuell werden diese grundsätzlich in italienische Häfen gebracht.
Der gemeinsame Nenner der rivalisierenden EU-Staaten besteht darin, die Anzahl derer, die übers Mittelmeer flüchten, möglichst gering zu halten. Es ist das ausdrückliche Ziel im Rahmen der neuen italienischen Militäroperation an der libyschen Küste, Flüchtende direkt nach Libyen zurück zu schicken. Dort werden Zehntausende unter unvorstellbar grausamen Bedingungen in überfüllten Lagern gefangen gehalten. Krankheiten grassieren, es mangelt an Wasser, Nahrung und medizinischer Versorgung. Internierte berichten von Folter, Zwangsarbeit und sexuellen Übergriffen.
Lager-Politik
Vor diesem Hintergrund ist es auch realitätsfremd und menschenverachtend, wenn einige europäische PolitikerInnen fordern, „Auffanglager“ in Libyen zu errichten, dort Asylverfahren durchzuführen und erst die Anerkannten nach Europa einreisen zu lassen. Abgesehen davon, dass selbst „geordnete“ Asylverfahren Existenznot nicht als Fluchtursache anerkennen: Libyen ist ein Land im Chaos. Niemand wäre in der Lage, ‚faire‘ Asylverfahren und menschenwürdige Bedingungen in den Lagern zu garantieren. Das totale Versagen der EU bei der Umsetzung der bescheidenen Zusagen, Geflüchtete aus Italien und Griechenland auf andere EU-Länder zu verteilen, zeigt deutlich, dass Maßnahmen dieser Art nur dazu dienen, die Geflüchteten auf Abstand zu halten.
Gegen Schlepper?
Der Kampf gegen die Flüchtlinge wird der Öffentlichkeit derweil als „Kampf gegen die Schlepper“ verkauft. Wenn das ernst gemeint wäre, müsste man die Geflüchteten sicher über das Mittelmeer bringen und die Fluchtursachen beseitigen.
Diejenigen, die mit Krieg, Waffenexport, wirtschaftlicher Ausbeutung und Umweltzerstörung die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen zerstören, hindern diese mit tödlicher Gewalt daran, sich ein besseres Leben zu suchen – und produzieren allen Sonntagsreden zum Trotz weiterhin Fluchtursachen. Das Problem, das Millionen vor menschenunwürdigen Bedingungen fliehen, wird nicht dadurch gelöst, dass man ihnen die Möglichkeit zur Flucht nimmt und sie gewaltsam zum Verharren in einer unmenschlichsten Existenz zwingt. Notwendig sind vielmehr sichere und legale Fluchtwege, eine Beseitigung der Zustände, die Menschen zur Flucht veranlassen und des kapitalistischen Systems, dessen Bestandteil diese Zustände sind.