Per-Åke Westerlund über den russischen Revolutionär
Per-Åke Westerlund ist Vorsitzender der Rättvisepartiet Socialisterna (Sozialistische Gerechtigkeitspartei), der schwedischen Schwesterorganisation der SAV, Redakteur der Zeitung „Offensiv“ und Vorstandsmitglied des Komitees für eine Arbeiterinternationale (Committee for a Workers‘ International), in dem auch die SAV Mitglied ist.
Von Wolfram Klein
Sein Büchlein „Der wahre Lenin“ wurde 1999 als Einleitung für eine schwedische Neuauflage von Lenins grundlegender Schrift „Staat und Revolution“ verfasst und in diesen Frühjahr im Manifest-Verlag auf deutsch veröffentlicht.
Westerlund beginnt seine Schrift mit einem bekannten Zitat aus Lenins „Staat und Revolution“, wonach RevolutionärInnen zu ihren Lebzeiten verfolgt und verleumdet, aber nach ihrem Tod in harmlose Götzen verwandelt wurden. Lenin blieb dieses Schicksal erspart. Er wird bis heute von den Herrschenden verleumdet. Westerlund stellt sich die Aufgabe, diese Verleumdungen zu entkräften. Dabei weist er darauf hin, dass die Bürgerlichen und StalinistInnen über weite Strecken das gleiche Zerrbild von Lenin malen, nur dass die einen verurteilen, was die anderen preisen. Zweck der Verleumdungen Lenins ist es, die Idee der Revolution und des Kommunismus zu diskreditieren.
Westerlund skizziert den politischen Werdegang Lenins seit der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) über deren Spaltung in Bolschewiki und Menschewiki 1903, die Revolution 1905-1907, die Jahre der Reaktion nach der Niederlage der Revolution, den neuen Aufschwung der Klassenkämpfe in Russland ab 1912, den Ersten Weltkrieg bis zur Revolution 1917.
Lenin undemokratisch?
Bei der Schilderung der Spaltung von 1903 widerspricht Westerlund der Legende, dass Lenin für ein besonderes undemokratisches Organisationsmodell eingetreten sei. Außerdem setzte sich Lenin 1903 in der Organisationsfrage mit seiner Formulierung des Parteistatuts gar nicht durch, die erst 1906 bei der (vorübergehenden) Wiedervereinigung mit den Menschewiki angenommen wurde. Zur Spaltung kam es 1903 tatsächlich in der Frage der personellen Zusammensetzung der Redaktion der Parteizeitung und des Zentralkomitees, wo Lenin das Recht des Parteitags verteidigte, die Zusammensetzung der Redaktion demokratisch zu bestimmen. Zu Recht betont Westerlund dass Lenin in organisatorischen Fragen flexibel war. Auch Lenins Behauptung in seiner Schrift „Was tun“, dass ArbeiterInnen von selbst nur ein gewerkschaftliches Bewusstsein entwickeln könnten, war Teil einer Tagespolemik und wurde von Lenin später wieder zurückgenommen. Das Organisationsprinzip des Demokratischen Zentralismus beinhaltete erstens Wählbarkeit, Rechenschaftspflicht und Absetzbarkeit der FunktionärInnen, Wahrung der Rechte von Minderheiten und der Autonomie der Parteigliederungen. Zweitens war es keine Leninsche Besonderheit, sondern wurde auf dem gemeinsamen Parteitag der Bolschewiki und Menschewiki 1906 (auf dem die Menschewiki die Mehrheit hatten) einmütig beschlossen.
Auf die Darstellung der Debatten zwischen Bolschewiki und Menschewiki über den Charakter der Revolutionen 1905 und 1917, auf den Revolutionsverlauf und die weitere politische Entwicklung kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden.
Staatsfrage
Da das Büchlein als Einleitung zu Lenins „Staat und Revolution“ entstanden ist, wird diese Schrift, in der Lenin die Marxsche Staatstheorie wiederherstellte und von den reformistischen Entstellungen befreite, ausführlich gewürdigt. Lenin erklärte, dass die marxistische Formulierung vom „Absterben des Staates“ sich keineswegs auf den kapitalistischen Staat bezieht. Die kapitalistische Staatsmaschinerie muss vielmehr zerschlagen werden. Der sie ersetzende Arbeiterstaat (mit 1. Wählbarkeit und jederzeitiger Absetzbarkeit, 2. Arbeiterlohn, 3. Rotation – alle werden zeitweise „Bürokraten“, damit niemand „Bürokrat“ wird, 4. Ersetzung des stehenden Heeres durch das bewaffnete Volk) kann dann allmählich absterben. Westerlund betont, dass, wenn Lenin von einer Diktatur des Proletariats sprach, dies keineswegs die landläufige Vorstellung von Diktatur im Gegensatz zur Demokratie bedeutete, sondern eine enorme Ausweitung der demokratischen Rechte für die ArbeiterInnen.
Der letzte Teil der Schrift erklärt dann, wie es entgegen diesen demokratischen Zielen Lenins zum Stalinismus kommen konnte. Unter den Bedingungen der Verwüstung Russlands durch Weltkrieg und Bürgerkrieg, der Rückständigkeit Russlands und Isolation der Revolution konnte sich ein bürokratischer Parteiapparat unter Stalin herausbilden und mit dem alten zaristischen Staatsapparat verschmelzen. Das Büchlein schildert, wie Lenin vor diesen Entwicklungen warnte und – unmittelbar bevor ihn ein erneuter Schlaganfall für immer arbeitsunfähig machte – versuchte, Stalin zu entmachten.
Im Anhang zu diesem Büchlein sind noch die Texte Lenins aus dieser seiner letzten Auseinandersetzung zusammengestellt, die bisher nur in verschiedenen Sammlungen verstreut erschienen waren.