Über beispiellose Polizeiwillkür und pseudolinke Randale
Bilder brennender Autos und Barrikaden sowie geplünderter Läden dominieren die Berichterstattung über die Proteste gegen den G20-Gipfel. Damit lenken die bürgerlichen Medien davon ab, dass der eigentliche Protest gegen den G20-Gipfel nicht nur friedlich war, sondern auch massenhaft, legitim und die besseren Argumente hatte.
Diese Bilder verschleiern auch, dass wir in Hamburg Zeugen einer bewussten Eskalation seitens des Staates und seiner Polizeikräfte geworden sind, die zum Ziel hatte, den Millionen Euro teuren Polizeieinsatz zu rechtfertigen, die Aushöhlung demokratischer Rechte zu befördern und die Bevölkerung an Militarisierung und Aufrüstung der Polizei zu gewöhnen.
von Claus Ludwig und Sascha Stanicic
Viele Menschen, insbesondere die AnwohnerInnen in Hamburg sind zurecht entsetzt und empört über die Sachbeschädigungen und Plünderungen vermeintlicher AktivistInnen, die insbesondere in der Nacht von Freitag auf Samstag eskalierte und zu schweren Sachschäden führten, von denen in der Regel nicht Kapitalisten oder rechte Politiker betroffen sind, sondern einfache AnwohnerInnen und kleine LadenbesitzerInnen. Diesen Ereignissen gingen jedoch Tage brutaler Polizeiwillkür voraus, die bewusst zu einem Anheizen der Stimmung und zu Eskalationsbereitschaft beitragen sollte. Das Abfackeln von Autos sowie Plünderungen und dramatisch inszenierte Barrikadenkämpfe sind jedoch kein Widerstand gegen Polizeigewalt und schaden nur der einfachen Bevölkerung. Diese Methoden gefährden zudem AktivistInnen, spalten die Proteste und treiben einen Keil zwischen die Demos und die Bevölkerung. Sie bieten Staat und Polizei eine Legitimation hart vorzugehen und dabei die demokratischen Rechte aller Protestierenden mit Füßen zu treten.
Polizeiliches Vorgehen
Von Beginn an hatte die Hamburger Polizeiführung sich über das Recht hinweggesetzt und auf volle Provokation geschaltet. Vom Verwaltungsgericht zugelassene Camps wurden verboten, Zelte zerstört, GipfelgegnerInnen attackiert. Von einem „Putsch der Polizei gegen die Justiz“ sprachen linke KommentatorInnen zurecht. Vom ersten Tag an wurde klar gemacht, dass kein deeskalierendes Vorgehen zu erwarten war, sondern das Gegenteil. Das war gewollt. Anders kann nicht interpretiert werden, warum ausgerechnet der als „harter Hund“ bekannte Hartmut Dudde zum Einsatzleiter der Polizei erkoren wurde. Schon die Entscheidung, den Gipfel in Hamburg inmitten einer Hochburg der linksalternativen Szene durchzuführen, war ein Hinweis darauf, dass der Staat hier demonstrieren wollte, dass er sich durch linken Protest von nichts aufhalten lässt und dass er die kalkulierten Ereignisse nutzen will, um die Linke insgesamt zu diskreditieren.
Am Donnerstag Abend wurde die nächste Stufe der Eskalation geschaltet. Die autonome Demonstration unter der Losung „Welcome to hell“, zu der sich rund 12.000 Menschen versammelt hatten, wurde nach nur wenigen Metern mit massiven Kräften attackiert. Als Vorwand diente die Vermummung einer relativ kleinen Zahl von TeilnehmerInnen. Augenzeugen berichten, dass ein Großteil der vermummten DemonstrationsteilnehmerInnen der Aufforderung der Polizei gefolgt waren, die Vermummung abzulegen. Trotzdem erfolgte ein Angriff, der sehr wahrscheinlich genau so geplant war. Dafür spricht nicht zuletzt, dass dieser Demonstration, völlig unüblicherweise, keinerlei Auflagen gemacht worden waren. Ein Hinweis darauf, dass sie niemals bis zum Ende durchgeführt werden sollte.
Videos zeigen, wie über eine ganze Stunde lang Polizeitrupps gegen die Versammlung vorgehen, an vielen Stellen in die Menschenmenge stechen, immer wieder, obwohl es keine größeren Ausschreitungen gab. Lediglich ein kleiner Teil der TeilnehmerInnen wehrt sich, viele werden attackiert, während sie ruhig warten. Dabei setzt die Polizei voll auf Risiko. Am Ort des Angriffs, der von zwei Seiten erfolgte, gibt es keine Ausweichmöglichkeiten für die DemonstrantInnen außer einer Mauer, gegen die die Menge gedrückt wird und auf die sich einige in halsbrecherischen Aktionen retten. DemonstrantInnen, die auf die Mauer geklettert sind, werden mit Wasserwerfern und Pfefferspray beschossen. Es gibt Stürze, in der Folge einige relativ schwer Verletzte, zum Teil mit Knochenbrüchen. Ein Demonstrant, der einen offenen Bruch erlitt, wird nicht ins Krankenhaus, sondern in eine Gefangenensammelstelle gebracht. Es ist keine Übertreibung zu schlussfolgern, dass die Polizei hier Todesopfer in Kauf genommen hat.
Am Freitag morgen geht es weiter. Sitzblockaden werden sofort mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstöcken angegriffen. DemonstrantInnen werden durch die Straßen gehetzt. Es gibt unzählige Bilder von PolizeibeamtInnen, die wehrlosen Menschen brutal ins Gesicht schlagen oder auf am Boden liegende eintreten. Diese Methoden sind nicht neu, aber selten wurden sie über eine so lange Zeit so massiv eingesetzt.
Im Umgang mit den Festgenommenen setzt die Polizei auf rechtswidrige Härte. Laut Informationen des anwaltlichen Notdienstes wurden Gefangenen die Telefonnummern des Notdienstes nicht genannt, behauptet, diese wollten keine anwaltliche Beratung, der Zugang zu den Zellen verwehrt. Rechtsanwälte wurden von Beamten beschimpft und schikaniert, als sie versuchten, Kontakte zu ihren Mandanten herzustellen.
Auch das harte Vorgehen gegen JournalistInnen ist Ausdruck einer enormen Polizeiwillkür, die sich über rechtsstaatliche Grundsätze hinwegsetzte. Es gab eine schwarze Liste mit den Namen von 31 JournalistInnen, denen die Akkreditierung entzogen wurde bzw. entzogen werden sollte, Presseteams wurden bewusst mit Pfefferspray angegriffen. Eine Journalistin berichtete, wie ein Polizist sie kontrollierte und sagte: „So, sie haben die längste Zeit als Journalistin gearbeitet.“
Am Samstag Abend, nach der Abreise der meisten TeilnehmerInnen der Großdemonstration mit rund 75.000 Menschen ging die Polizei massiv gegen Menschenmengen im Schanzenviertel vor, obwohl dort nach vielen übereinstimmenden Aussagen nichts passiert war.
Kontrollverlust?
Nach den Gewaltexzessen am Donnerstag Abend behauptete die Polizei, die Lage nicht mehr vollständig unter Kontrolle zu haben. Trupps von schwarz Vermummten zogen durch einige Straßen, setzten Autos in Brand, zerschlugen Fensterscheiben, plünderten Geschäfte. Am Freitag Abend wartete die Polizei stundenlang mit dem Eingreifen, während im Schanzenviertel Barrikaden in Brand gesetzt und Läden geplündert wurden. Medial begleitet wurde das von bizarr übertriebenen Schilderungen, als wäre Hamburg im „Bürgerkrieg“ und der Anforderung zusätzlicher Polizeikräfte.
Es ist davon auszugehen, dass eine gewollte Eskalation aus dem Ruder geriet. Vieles spricht dafür, dass die Polizeikräfte die Randalierer erst einmal gewähren ließen, um die entsprechenden Bilder zu erhalten, die wiederum ein hartes Vorgehen rechtfertigen sollten. Die Bilder brennender Autos und Barrikaden waren genau das, was sich der Staat und die etablierten Parteien wünschten. Um den Polizeieinsatz und die Einschränkung demokratischer Rechte zu legitimieren. Um weitere Angriffe auf das Versammlungsrecht durchzusetzen und die polizeilichen Befugnisse zu erweitern.
Maschinenpistolen in der Nacht
Am frühen Samstag Morgen rückten deutsche SEK-Einheiten und nach Presseberichten auch österreischische COBRA-Einheiten mit vorgehaltener automatischer Waffe und vermummt im Schanzenviertel vor. Solche Bilder eines polizeilichen Belagerungszustandes hatte es in Deutschland seit vielen Jahren nicht mehr gegeben, zuletzt vielleicht bei den Polizeieinsätzen nach den rassistischen Pogromen und linken Gegenprotesten in Rostock-Lichtenhagen 1992 oder bei Polizeieinsätzen gegen die Blockaden von Castor-Transporten.
Hier wurde „Aufstandsbekämpfung ohne Aufstand“ geprobt, wie es eine Sprecherin des anwaltlichen Notdienstes formulierte. Angesichts der relativ guten ökonomischen Lage Deutschlands und des geringen Levels sozialer Kämpfe mag dies verwundern, aber es scheint, als würden die Herrschenden alle Möglichkeiten nutzen, sich auf zukünftige Veränderungen vorzubereiten.
Die schützende Hand
Es ist schwer zu sagen, wer genau an den Krawallen teilgenommen hat, von wem sie ausgegangen sind und wer für welche Art von Aktionen verantwortlich ist. Klar ist, dass Teile der autonomen Szene es auf Auseinandersetzungen mit der Polizei angelegt hatten. Gerade die OrganisatorInnen der „Welcome to Hell“-Demonstration vom Donnerstag Abend haben in ihren martialischen Mobilisierungsmaterialien den Eindruck erweckt, dass sie es auf eine Gewalteskalation anlegten. Damit lieferten sie der Polizei Munition, einen brutalen Einsatz vorzubereiten und ihr Vorgehen anschließend zu verteidigen. Und es erleichterte den politisch Verantwortlichen und den Medien, den Vandalismus von allen möglichen fragwürdigen Kräften pauschal den „Linken“ in die Schuhe zu schieben.
Die Zerstörungen und Plünderungen richteten sich nicht gegen Symbole des kapitalistischen Systems und vieles spricht dafür, dass hier nicht nur Autonome agierten. Ein Sprecher des autonomen Zentrums Rote Flora distanzierte von der Gewalt und autonome AktivistInnen beteiligten sich am Schutz von Geschäften gegen Plünderungen. Es ist ohnehin ein Fehler von einem „schwarzen Block“ oder einer autonomen Szene im Sinne eines homogenen Gebildes zu sprechen, wie es die bürgerlichen Medien und die Polizei tun.
Nach verschiedenen Berichten haben sich aber auch Hamburger Jugendliche an der Randale beteiligt. Es kann nicht verwundern, wenn Jugendliche, die keine Zukunftsperspektive haben, oftmals diskriminiert werden, die Gelegenheit genutzt haben, ihrem Frust freien Lauf zu lassen und sich dabei noch ein neues Smartphone zu besorgen. Auch muss darauf hingewiesen werden, dass in der Nazi-Szene zur Teilnahme in Hamburg aufgerufen wurde und es Hinweise auf eine Beteiligung von Faschisten gibt. Es wäre nicht das erste Mal, dass Faschisten linke Proteste unterwandern, um sie durch Gewaltaktionen zu diskreditieren. Dafür spricht zum Beispiel, dass eine Gruppe von linken Jugendlichen von schwarz vermummten Personen verprügelt wurde.
Last but not least ist davon auszugehen, dass auch Polizeiprovokateure eine Rolle gespielt haben.Die Szene rund um die Rote Flora war in den letzten Jahren immer wieder das Ziel von verdeckter ErmittlerInnen, welche sich zum Teil jahrelang als Linke ausgaben. Angesichts der tiefen Verstrickung staatlicher Stellen in die NSU-Affäre und deren Beteiligung am Aufbau von Nazi-Strukturen, angesichts der ungelösten Fragen im Fall Anis Amri wäre es naiv zu glauben, dass die Polizei bei derartigen Demos keine Provokateure einsetzt. Für die Ausschreitungen beim G8-Gipfel in Rostock 2007 ist das nachgewiesen.
Darauf deutet auch der Vorfall eines von einem Zivilbeamten am Freitag abgegebenen Warnschusses. Nach Recherchen von Stern und Spiegel schritt der Beamte ein, weil mehrere wie DemonstrantInnen Aussehende einen Menschen schlugen, den er – fälschlicherweise – für einen ebenso zivil agierenden Kollegen hielt. Der Beamte ging wohl von einer Enttarnung aus. Nach dem Warnschuss flüchtete der Zivilbeamte in einen Kiosk und wurde von dort von einem uniformierten Polizeitrupp abgeholt.
Es ist davon auszugehen, dass eine Mélange aus diesen Kräften die Verantwortung für die nächtliche Randale im Schanzenviertel trägt. Klar ist, dass diese nichts mit antikapitalistischem Protest zu tun hat, von der überwältigenden Mehrheit der Protestierenden abgelehnt wird und nur Polizei und Staat in die Hände spielt.
Gewaltfrage
Auf der Demonstration am Samstag haben rund 75.000 Menschen eine klare Antwort auf die polizeilichen Eskalationen und die Randale einer Minderheit gegeben. Sie haben diszipliniert, bunt und friedlich demonstriert, haben sich von den Attacken der Polizei nicht provozieren lassen.
Es ist nötig für die Bewegung, sich von den Dummheiten von Teilen der autonomen Szene abzugrenzen und dem die eigene produktive Praxis entgegen zu halten. Der einzig erfolgversprechende Weg, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern sind solche Massenproteste, aber vor allem der Aufbau einer massenhaften, demokratischen und linken Bewegung, von Gewerkschaften und einer sozialistischen Arbeiterpartei. Angesichts der Weigerung der Gewerkschaftsführungen, die linken Proteste gegen G20 zu unterstützen und der allgemeinen Schwäche der politischen Linken im allgemeinen und der Tatsache, dass DIE LINKE vielen ArbeiterInnen und Jugendlichen ans zahm und etabliert erscheint, ist es aber nachvollziehbar, dass gerade empörte und radikalisierte Jugendliche nach anderen Wegen des Widerstands suchen. Die Polizeigewalt treibt solche Jugendliche potenziell in sinnlose Aktionen individueller Gewalt und Randale.
Die Polizeigewalt wirft aber auch die Frage auf, wie sich die tatsächliche Bewegung, die ja das erste Opfer von staatlicher Willkür und Repression ist, dagegen wehren kann. Auch hier gilt, dass Massenmobilisierungen das entscheidende und wirksamste Mittel sind, denn „militärisch“ können hunderte oder auch tausende DemonstrantInnen gegen die Robocops des 21. Jahrhunderts kaum gewinnen. Trotzdem wird sich auch die Linke verstärkt die Frage nach Selbstschutz und Wehrhaftigkeit stellen müssen. Gut organisierte Ordnerdienste auf Demonstrationen und demokratisch organisierte nachbarschaftliche Selbstschutzkomitees wären hier angemessene Maßnahmen, um Demonstrationen sowohl gegen die Polizeigewalt als auch gegen Provokateure verteidigen zu können . Diese können aber nur Ergebnis eines Aufbaus einer starken Bewegung sein, die deutlich größer und stärker sein muss, als die heutige Linke. Stellen wir uns eine sozialistische Arbeiterbewegung vor, wie sie zum Ende des 19. Jahrhunderts existierte – eine Millionen umfassende Bewegung könnte sich auch effektiv gegen staatliche Repression zur Wehr setzen.
Law-and-order-Debatte
Hamburg wird Folgen haben. Die bürgerlichen Parteien werden weitere Gesetzesverschärfungen und die Ausweitung polizeilicher Befugnisse vorschlagen. Kanzleramtsminister Altmaier (CDU) sprach von „linksextremem Terror“ und stellte diesen auf eine Stufe mit dem von Islamisten und Nazis, ungeachtet der Tatsache, dass in Hamburg Autos brannten und Scheiben klirrten, während Nazis in den letzten 25 Jahren über 200 Menschen ermordet haben und bei dschihadistischen Anschlägen in Europa Hunderte getötet wurden. CDU-Innenpolitiker Schuster forderte mehr Versammlungsverbote. Schon in den letzten Jahren wurden, zum Teil von der Öffentlichkeit kaum beachtet, Gesetzesverschärfungen durchgesetzt. Das wird weiter versucht werden.
Nachdem es zunächst keinen großen öffentlichen Aufschrei gegeben hat, könnten wir die Maschinenpistolen-Trupps vom SEK häufiger im Umfeld von Demonstrationen sehen, was zur Einschüchterung potenzieller Demo-TeilnehmerInnen beitragen dürfte.
Die Gesetzesverschärfer werden einige Unterstützung aus der Bevölkerung bekommen, dazu haben Auto-Anzünder und Plünderer beigetragen. Viele Menschen haben aber mitbekommen, wie der Staat einen Ausnahmezustand provoziert und die demokratischen Rechte eingeschränkt hat. Die Solidarisierung mit den Protesten war groß, viele haben das Agieren der Polizei mitbekommen. Das wird in den nächsten Monaten ein Ansatzpunkt sein, um die Geschehnisse rund um den Gipfel nachzubereiten.