Die Regierungsfrage im russischen Revolutionsjahr 1917

Von Lenin lernen …

Die Bundestagswahl 2017 fällt zusammen mit dem hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution in Russland. In den neun Monaten vom Sturz des Zaren durch die Februarrevolution bis zur Eroberung der Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte im Oktober stellten sich der russischen Linken viele Fragen, die eine Bedeutung für die internationale Linke im 21. Jahrhundert haben – auch für Deutschland und DIE LINKE.

Von Sascha Staničić

Dabei geht es nicht darum, in einer schematischen Art und Weise die Herausforderungen von vor hundert Jahren auf heute zu übertragen. Vieles ist heute anders. Natürlich bestand im Russland des Jahres 1917 unzweifelhaft eine revolutionäre Situation, das heißt die Massen, vor allem des städtischen Proletariats, aber auch der Soldaten und Bauernschaft, hatten begonnen, sich aktiv in das politische Geschehen einzumischen und ihre eigenen Organe – in Form der Sowjets (Räte) – zu bilden. Einiges ist heute weltweit, aber vor allem in Deutschland komplizierter. Einiges aber auch nicht: die Arbeiterklasse in Russland war eine kleine Minderheit der Bevölkerung, das Kultur- und Bildungsniveau war niedrig, das Land durch den Weltkrieg ausgeblutet – und: die Linke ist heute um vielfältige Erfahrungen reicher und hat die Chance, daraus die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen, während sich die russische Linke auf unbekanntem Terrain fortbewegen musste.

Wenn wir aus der Politik der russischen Linken – und insbesondere der Partei der Bolschewiki – Lehren für heute ziehen wollen, dann sollte es darum gehen, die Herangehensweise und Prinzipien zu erkennen, die dafür verantwortlich waren, dass die bolschewistische Partei innerhalb von wenigen Monaten von circa zwei Prozent Unterstützung in den Sowjets zur Mehrheitspartei werden konnte, unter deren Führung der Oktoberumsturz gelang. Eine entscheidende Frage war auch damals die nach der Regierungsbeteiligung mit prokapitalistischen Parteien und im Rahmen der kapitalistischen Ordnung. Das klare Nein, das die Partei unter Lenins Einfluss dazu formulierte, war eine entscheidende Vorbedingung für den späteren Erfolg.

Februarrevolution

Diese Absage an eine Koalitionsregierung war alles andere als selbstverständlich, auch in den Reihen der Bolschewiki. Kein Wunder, wenn man sich die Situation im März 1917 vergegenwärtigt. Russland war vom Ersten Weltkrieg gezeichnet, in dem fünf Millionen russische Opfer zu beklagen waren. Krieg, Zarenherrschaft, Unterdrückung der vielen nationalen Minderheiten im „Nationengefängnis“, Großgrundbesitz, schlechte Versorgungslage – all das schuf eine der Grundvoraussetzungen für jede Revolution: die Massen können und wollen nicht mehr unter den gegebenen Bedingungen ihr Dasein fristen. Es waren die Textilarbeiterinnen Petrograds, die als erste „Genug ist genug“ ausriefen und zur Tat schritten. Am 22. Februar (nach dem damals geltenden Julianischen Kalender) traten sie in den Streik und lösten damit die Februarrevolution – den Sturz des Zaren – aus. Die Revolution war „spontan“, „von unten“, das heißt sie folgte keinem Plan der Arbeiterparteien oder revolutionären Zirkel. Deren Mitglieder spielten aber natürlich eine führende Rolle bei den Streiks und Demonstrationen. Vor allem griffen sie auf die Erfahrungen der ersten, gescheiterten, russischen Revolution des Jahres 1905 zurück – und bildeten Sowjets, Räte von Arbeiterdelegierten aus allen Betrieben und von Delegierten der Soldaten von der Front und aus den Kasernen (kurze Zeit später sollten auch die Bäuerinnen und Bauern ihre Sowjets bilden).

Die Massen hatten „die Bühne der Geschichte betreten“ und begonnen, „ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen“. Sie spürten instinktiv, dass sie Organe brauchten, die ihren Kampf organisieren und eine Kontrolle über die weiteren gesellschaftlichen Veränderungen ausüben konnten. Sie hatten aber (noch) kein Bewusstsein über ihre tatsächliche Macht und keine Vorstellung, wie ein revolutionärer Umsturz aussehen müsste, der ihre Ziele hätte sichern können. Diese Ziele waren recht bescheiden: Frieden, Landverteilung, Lösung der Versorgungsengpässe, demokratische Rechte und ein Ende der Unterdrückung der nationalen Minderheiten.

Sowjets und Doppelmacht

Während die Sowjets Ausdruck des Erwachens der Massen als Subjekt der Geschichte waren, fiel die politische Macht doch in die Hände bereits existierender Kräfte. So bildete sich neben den Räten die so genannte Provisorische Regierung, eine Koalition aus Kadetten (bürgerlichen Liberaldemokraten), Menschewiki (sozialdemokratische Strömung der russischen Arbeiterbewegung) und der Sozialrevolutionäre (einer radikalen Partei der

Bauernschaft und des städtischen Kleinbürgertums). Eine Regierung also, die von ihrer Zusammensetzung und ihrem Charakter her späteren so genannten Volksfrontregierungen entsprach: Koalitionen aus linken Arbeiterparteien und kleinbürgerlichen bzw. bürgerlichen Parteien, die sich zum Ziel setzen im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Eigentums- und Staatsordnung Verbesserungen für die Massen durchzusetzen. In Russland, wo noch keine bürgerlich-parlamentarische Demokratie bestand, wäre die erste Aufgabe einer solchen Regierung gewesen, die Aufgaben der bürgerlichen Revolution durchzuführen: die Macht der Aristokratie zu brechen, eine parlamentarische Demokratie zu etablieren, das Land an die Bauern verteilen, den unterdrückten Nationen die Freiheit zu gewähren.

Das entsprach auch der klassischen Interpretation des marxistischen Verständnisses über den Verlauf der Geschichte. Die Möglichkeit eines ununterbrochenen Übergangs der bürgerlichen in die sozialistische Revolution in einem Land wie Russland hatten vor dem Februar 1917 nur sehr wenige MarxistInnen für möglich (oder gar nötig) gehalten, darunter der spätere Führer der Roten Armee Leo Trotzki (in seiner Theorie der Permanenten Revolution). Selbst die radikalsten VertreterInnen der russischen Linken – Lenin und die Bolschewiki – hielten es für ausgeschlossen, dass Russland mehr oder weniger direkt vom (Halb-)Feudalismus und Zarenherrschaft zu einer sozialistischen Demokratie und Arbeitermacht übergehen könnte. Sie hatten zwar erkannt, dass die russischen Kapitalisten keine vorwärts treibende Kraft im Kampf gegen die Zarenherrschaft waren, aber sie hielten eine kapitalistische Phase der Entwicklung für notwendig, bevor eine sozialistische Revolution möglich sein sollte. Das nannten sie dann „demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern“. Sie hatten also die Vorstellung, dass im Rahmen der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und Produktionsweise eine revolutionäre Regierung der Arbeiterklasse und Bauernschaft, einen Prozess der kapitalistischen Modernisierung voran treibt, der als notwendige Voraussetzung für sozialistische Veränderungen betrachtet wurde. Sie hofften, dass eine solche „demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern“ in Russland Auslöser der sozialistischen Revolution in Westeuropa hätte sein können – und in diesem Sinne Startpunkt einer sozialistischen Revolution auch in ihrem Land.

Die Provisorische Regierung war zwar eine Folge des Februaraufstands, aber keine revolutionäre Regierung. Sie war nicht vorantreibende Kraft von revolutionären Veränderungen, sondern Bremse. In Wirklichkeit bedeutete die parallele Existenz von Sowjets und Provisorischer Regierung eine Periode der Doppelmacht antagonistischer

Körperschaften. Die Februarrevolution markierte den Beginn der sozialistischen Revolution, weil auch die „bürgerlichen“ Aufgaben der Revolution nur durch einen Bruch mit bürgerlichen Macht- und Eigentumsverhältnissen erreicht werden konnten – nur erkannte das kaum jemand. Auch nicht in den Reihen der Bolschewiki. Lenin schon. Auf Basis dieser Erkenntnis verwarf er die alten Formeln und Prognosen und übernahm faktisch Trotzkis Position der „Permanenten Revolution“, also der völligen Machtergreifung durch die Arbeiter- und Soldatenräte und der Umsetzung sozialistischer Maßnahmen durch diese – aber er war mit dieser Einschätzung und seinen politischen Schlussfolgerungen anfangs in einer kleinen Minderheit. Die Mehrheit der Bolschewiki, insbesondere ihrer Inlands-Führung um Kamenew und Stalin, vertrat eine Politik der Unterstützung der Provisorischen Regierung von außen (wobei einige auch mit einem Eintritt in die Regierung und einer Fusion mit den Menschewiki sympathisierten). Sie konnten sich nicht vorstellen, dass eine alleinige Machteroberung der Arbeiter- und Soldatenräte möglich und nötig war. Dies sollte in den wenigen Monaten bis zum Oktober aber deutlich werden und Lenins (und Trotzkis) Position bestätigen.

Lenins Politik

Lenin kam erst im April aus dem Schweizer Exil zurück in das revolutionäre Russland. Seine Position schockte die bolschewistische Führung. Einige dachten insgeheim, er habe im Exil den Kontakt zur Realität verloren. Schon unmittelbar nach dem Februarumsturz hatte Lenin an die Führung seiner Partei telegraphiert und gefordert, dass diese keinerlei Unterstützung für die Provisorische Regierung aussprechen solle und es keine Annäherung an eine der anderen Parteien geben dürfe. In den Aprilthesen formulierte er dann eindeutig sein Programm: Alle Macht den Räten!

Warum? Weil er erkannte, dass eine Koalition mit bürgerlichen, prokapitalistischen Parteien und eine Aufrechterhaltung kapitalistischer Verhältnisse es unmöglich machen, die Ziele der Revolution auch nur ansatzweise zu verwirklichen. Auf dem ersten Sowjetkongress sagte Lenin: „Bei uns ist alles beim Alten geblieben, die Koalitionsregierung hat nichts geändert, sie hat nur den Haufen von Deklarationen, von prunkvollen Erklärungen vergrößert. Wie aufrichtig die Leute auch sein, wie aufrichtig sie auch das Wohl der werktätigen Massen wünschen mögen, an der Sache hat sich nichts geändert – dieselbe Klasse ist an der Macht geblieben.“1

Die folgenden Monate gaben Lenin Recht. Der Krieg wurde fortgesetzt – im Interesse der russischen Kapitalisten und ihrer Verbündeten. Die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung wurde verzögert und verzögert. Das Land wurde nicht an die Bäuerinnen und Bauern verteilt. Den unterdrückten Nationen der FinnInnen, UkrainerInnen, GeorgierInnen etc. wurde nicht das Selbstbestimmungsrecht gewährt. Die Not wurde nicht gelindert. Der Zar war gegangen worden – die Generäle und Kapitalisten waren geblieben!

Lenins Vorhersage aus seinem Brief an den Bauernkongress im Mai 1917 sollte innerhalb weniger Monate in Erfüllung gehen: „Wir sind fest davon überzeugt, dass die Erfahrung bald den breitesten Massen des Volkes zeigen wird, wie falsch die Politik der Narodniki und Menschewiki ist. Die Erfahrung wird den Massen bald zeigen, dass die Rettung Russlands, das sich ebenso wie Deutschland und die anderen Länder am Rande des Abgrundes befindet, dass die Rettung der durch den Krieg zermarterten Völker nicht durch Kompromisse mit den Kapitalisten erreicht werden kann. Die Rettung aller Völker ist nur möglich durch den direkten Übergang der Staatsmacht in die Hände der Mehrheit der Bevölkerung.“2

Lenin konnte in einer breiten und demokratischen Debatte im Verlauf des Monats April die Mehrheit der bolschewistischen Partei für seine Position gewinnen und eine Politik der Opposition gegen die Provisorische Regierung und der völligen Unabhängigkeit der Bolschewiki von der Regierung und den Regierungsparteien durchsetzen. Diese Haltung ermöglichte es den Bolschewiki, innerhalb von sechs Monaten von einer kleinen Minderheit in den Sowjets zur Mehrheitspartei zu werden und den Oktoberumsturz zu führen, der die Forderung der Aprilthesen – Alle Macht den Räten – in die Tat umsetzte. Nur durch diese Haltung war es den Bolschewiki möglich, nicht als mitverantwortlich für die gebrochenen Versprechen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre zu erscheinen. Nur so konnten sie in den Augen der Massen als glaubwürdig und vertrauenswürdig erscheinen – und vor allem als Teil der Massen selbst!

Bedeutung für heute

Nun mag eingewendet werden, dass heute, anders als im Russland des Jahres 1917, keine revolutionäre Situation besteht. Das gilt sicher für Deutschland und viele Länder. Vom internationalen Blickwinkel sei aber darauf hingewiesen, dass es zumindest in Griechenland nach Ausbruch der Euro-Krise und in Venezuela und anderen Ländern Lateinamerikas in den letzten Jahren revolutionäre oder zumindest vorrevolutionäre Situationen gab (welche durch eine „bolschewistische“ Politik der großen linken Parteien in revolutionäre Situationen hätten umschlagen können). Die politischen Kräfte dieser Länder, an denen sich DIE LINKE in Deutschland orientiert, bildeten ebenfalls Koalitionen mit prokapitalistischen Parteien bzw. begrenzten ihre Regierungspolitik auf den bürgerlich-parlamentarischen und kapitalistischen Rahmen.

Gleichzeitig gibt es unzählige Beispiele dafür, dass linke Parteien durch den Eintritt in Koalitionsregierungen zur Sachverwalterin kapitalistischer Misswirtschaft und Kürzungspolitik werden und dadurch an Vertrauen und Verankerung in der Arbeiterklasse verlieren. Die Lehre der Leninschen Politik des Jahres 1917 ist nicht zuletzt, dass es eine Kohärenz in politischer Perspektive, Taktik und Programm geben muss. Und dass die Opposition einer linken Partei zu allen Schattierungen kapitalistischer Macht und ihre Eigenständigkeit gegenüber allen anderen Parteien dringende Voraussetzung dafür ist, dass sie zur Mehrheitskraft in der Gesellschaft werden kann. Die Vorbereitung auf vorrevolutionäre und revolutionäre Situationen muss in den nichtrevolutionären Zeiten betrieben werden. Beteiligung an prokapitalistischen Regierungskoalitionen ist in dieser Logik keine Vorbereitung auf eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft, sondern – Vorbereitung der Niederlage.

Aber die Massen erwarten doch die Bereitschaft zum Regieren und haben kein Verständnis für „Opposition um jeden Preis“ – das ist ein weiteres Argument derjenigen, die sich für Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen aussprechen. Auch hier können wir von Lenin und den Bolschewiki lernen. In ihrer Propaganda verstanden sie es, die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse und die Notwendigkeit der Rätemacht immer mit den konkreten Gegebenheiten zu verknüpfen und im Sinne eines Übergangsprogramms die Brücke von der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution zu den Alltagskämpfen und dem bestehenden Bewusstsein breiterer Teile der Arbeiterklasse zu schlagen.

Die von den Bolschewiki aufgestellte Losung „Nieder mit den Minister-Kapitalisten“ ist Ausdruck hiervon. Denn die Opposition zur Provisorischen Regierung hielt die Bolschewiki nicht davon ab, die Illusionen die in Teilen der Massen noch in diese Regierung bestanden zur Kenntnis zu nehmen und für ihre Propaganda zu berücksichtigen.

Denn die Bolschewiki waren mit einem Phänomen konfrontiert, das auch DIE LINKE heute betrifft. Ihre inhaltlichen Positionen wurden von viel mehr ArbeiterInnen geteilt, als sie bei den Wahlen zu den Räten (vor dem Oktober) gewählt hatten. Die russischen Massen verlangten sozusagen von der Provisorischen Regierung die Umsetzung des bolschewistischen Programms (siehe die Demonstrationen im Juni und Juli in Petrograd, wo die Massen die Parolen der Bolschewiki unterstützen). Damit gingen die Bolschewiki geschickt um, indem sie den Gedanken der Notwendigkeit einer Regierung aus Arbeiterparteien bzw. (selbst ernannten) Parteien der Revolution dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie die Klassenkollaboration anprangerten, die in der Regierung ihre Manifestation fand. Den Ausschluss derjenigen Minister zu fordern, die bürgerlichen Parteien angehörten, war ein Mittel die Notwendigkeit einer Arbeiter- (und Bauern) regierung deutlich zu machen und Menschewiki und Sozialrevolutionäre unter Druck zu setzen – und zu entlarven.

Auch die Anwendung der Einheitsfronttaktik angesichts des drohenden quasi-faschistischen Putsches des Generals Kornilow im August 1917, also die Bereitschaft, Kornilow in Aktionseinheit mit Menschewiki und Sozialrevolutionären zurückzuschlagen, war Teil einer solchen nichtsektiererischen Politik, die aber niemals die Grenze zum Opportunismus und zur Unterstützung der kapitalistischen Ordnung überschritt. Kein Zweifel: von dieser Herangehensweise können linke Parteien heute viel lernen!

Exkurs: Liebknecht und die Regierungsfrage im November 1918

Im Deutschland sollte etwas mehr als ein Jahr nach der Oktoberrevolution eine Revolution ausbrechen, die ebenfalls Räte hervorbrachte und kurzfristig zu einer Situation der Doppelmacht führte. Mit den Räten und deren am 10. November von einer Delegiertenversammlung der Berliner Räte gewähltem Vollzugsrat gab es embryonale Organe eines Arbeiterstaates, der eine Entwicklung zu einer sozialistischen Gesellschaft hätte einleiten können. Gleichzeitig wurde am 9. November, nach langen Verhandlungen zwischen SPD und USPD eine Regierung gebildet. Karl Liebknecht war an diesen Verhandlungen beteiligt gewesen. Er wurde von vielen Arbeiterdelegationen bedrängt, in eine Regierung einzutreten. In ihm, dem prinzipienfesten Kriegsgegner, sahen sie einen Garanten für eine Regierung, die Arbeiterinteressen vertreten würde. Liebknecht war sich

der Gefahren einer Regierungsbildung, die nicht aus den Räten selber erwachsen wäre, bewusst. Er spielte nur mit dem Gedanken, für wenige Tage einer Regierungsbildung zuzustimmen und daran teilzunehmen, um einen Waffenstillstand aushandeln zu können. Selbst dafür wurde er von seinen GenossInnen der Spartakusgruppe (die sich bald Spartakusbund nannte) scharf kritisiert, denn jedes Zusammengehen mit den Mehrheitssozialdemokraten konnte die Massen nur verwirren. Unter seinem Einfluss stellte die USPD verschiedene Bedingungen für eine Regierungsbildung mit Vertretern der Mehrheitssozialdemokratie, darunter folgende:

1.Deutschland soll eine soziale Republik sein.

2.In dieser Republik soll die gesamte exekutive, legislative und jurisdiktionelle (ausführende, gesetzgebende und rechtsprechende) Macht ausschließlich in den Händen von gewählten Vertrauensmännern der gesamten werktätigen Bevölkerung und der Soldaten sein.

3.Ausschluss aller bürgerlichen Mitglieder aus der Regierung.

4.Die Beteiligung der Unabhängigen gilt nur für drei Tage als ein Provisorium, um eine für den Abschluss des Waffenstillstands fähige Regierung zu schaffen.

Mit diesen Bedingungen sollte sich eine Übergangsregierung auf die Schaffung einer Republik der Arbeiter- und Soldatenräte verpflichten. Die Mehrheits-SPD lehnte diese Bedingungen ab, für Liebknecht kam ein Regierungsbeitritt nun nicht mehr in Frage. Die USPD-Vertreter aber einigten sich auf eine Regierungsbildung mit abgespeckten Bedingungen. Diese beinhalteten immerhin die Aussage, dass die „politische Gewalt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte liegt“, gleichzeitig aber auch einen Bezug auf eine Konstituierende Versammlung. Diese Frage solle zwar „erst nach einer Konsolidierung der durch die Revolution geschaffenen Zustände“ erörtert werden. Aber damit war die Verfassunggebende Versammlung auf dem Tisch. Die Regierung bestand aus jeweils drei Vertretern von MSPD und USPD und nannte sich, in Anlehnung an die russische Arbeiterregierung, Rat der Volksbeauftragten. Es gab also zwei Machtzentren: den Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte und den Rat der Volksbeauftragten. Ersterer erkannte die Regierung an, letzterer in Worten die politische Macht der Räte. Was zu keinem Zeitpunkt angetastet wurde, war der eigentliche alte kapitalistische Staatsapparat. Minister und andere Staatsbeamte blieben im Amt, was auch für die Provinzen und Kommunen im ganzen Land, mit der Ausnahme von Bremen und Hamburg, galt. So wurde mit dem Eintritt der USPD in eine Regierung, die nicht mit dem kapitalistischen System brechen wollte, der Boden bereitet, die Macht der Arbeiter- und Soldatenräte zu untergraben und den Kapitalismus in Deutschland zu retten.

Sascha Staničić ist Bundessprecher der SAV und aktiv in der LINKEn Neukölln. Der Artikel erschien zuerst in Gleiss/Höger/Redler/Stanicic (Hrsg): Nach Goldschätzen graben, Regenwürmer finden, Papyrossa 2016.