Ein kritischer Nachruf auf den „Kanzler der Einheit“
Als am 16.6. die Nachricht vom Tod des Altkanzlers Helmut Kohl durch die Medien ging, überschlug sich die Presse und die politische Szene mit Nachrufen. Dass das Establishment und seine Medien den Verstorbenen überschwänglich lobte, war zu erwarten und liegt in der Natur der Dinge – hat Kohl doch sechzehn Jahre im Interesse des Kapitals Politik gemacht und ab 1990 das kapitalistische wiedervereinigte Deutschland wieder zur internationalen Großmacht erhoben.
von Marcus Hesse, Aachen
Doch irritierenderweise kamen Lobhudeleien auch von links. In einer nur als peinlich zu klassifizierenden Erklärung haben Bernd Riexinger, Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch und Katja Kipping Kohl als „großen Europäer“ bezeichnet und dichten ihm ein soziales Gewissen an. Selbst Sevim Dagdelen, als Vertreterin des linken Flügels, bezeichnete ihn aufgrund seiner Haltung gegenüber Russland als „großen Europäer“ und behauptete in einem Facebook-Post, dass diese „näher an der LINKEN und der Friedensbewegung“ stehe als die aktuelle Bundesregierung. Schon im Landtagswahlkampf 2016 hat die LINKE in Rheinland-Pfalz mit einem Kohl-Zitat für soziale Gerechtigkeit geworben. Selbst wenn solche Aussagen darin motiviert sind, die aktuelle Regierungspolitik als besonders rechts zu entlarven, so landet man doch bei einer Verklärung und Verfälschung der Rolle Kohls, die all jenen, die unter Kohl gelebt und gelitten haben, als blanker Hohn erscheinen muss.
Der Mann des rechten Rollbacks
Der Machtwechsel in Bonn 1982, der Kohl an die Macht spülte, war Teil eines reaktionären Rollbacks. Kohl war die deutsche Entsprechung von Reagan und Thatcher. Unter dem Schlagwort der „geistig-moralischen Wende“ wurde eine Rückkehr zu konservativen und wirtschaftsliberalen Positionen vollzogen. Kohl ließ seinen Worten schnell Taten folgen: Er forderte mehr „Eigenverantwortung“ im Gesundheitswesen – also höhere Belastungen für ArbeitnehmerInnen. Der Rotstift regierte. Ebenso wandelte seine Regierung das bisher als Vollzuschuss konzipierte BafÖG zum rückzahlungspflichtigen Volldarlehnen um, sodass Studierende aus Arbeiterfamilien ihr Berufsleben mit horrenden Schulden starten müssen. Neoliberale Ideologie wurde propagiert – die Yuppies wurden zum sozialen Modelltypus der Kohl-Ära. Die Arbeiterklasse musste harte Kämpfe führen. Ein Höhepunkt war der Kampf der Stahlkocher in Rheinhausen ab 1987 gegen die Werksschließung. Kohl wurde zurecht zum meistgehassten Mann der Linken und Arbeiterbewegung.
Kapitalistische Wiedervereinigung
Auf dem Höhepunkt der politischen Revolution in der damaligen DDR gelang es Kohl und der Union, die Weichen in Richtung kapitalistische Wiedervereinigung zu lenken. Damit wurde den Massen in der DDR das Heft aus der Hand genommen. Kohl versprach „blühende Landschaften“ und es gab sie – auf Industrieruinen. Die Politik der Treuhand enteignete das Staatseigentum der DDR und gab es [wieder] in die Hände von Kapitalisten und Großgrundbesitzern. Selbst alte Naziverbrecher bekamen „ihr“ Eigentum wieder. Millionen Menschen wurden arbeitslos. Im Hungerstreik der um ihre Existenz kämpfenden Kali-Kumpel von Bischofferode erreichte das Elend eine dramatische Zuspitzung. Profit stand über Menschen. Dem nationalen Taumel folgte die Resignation. Schon 1991 bewarf ein wütender Demonstrant in Ostdeutschland Kohl mit Eiern.
Im wiedervereinigten Deutschland trieb Kohl die Privatisierung von Post und Bahn voran, mit den bis heute spürbaren Folgen. Kohl erlaubte Unternehmen in Deutschland, sich ausländische Rechtsformen zuzulegen, was sie gegenüber Verbraucher- und Arbeitnehmerforderungen juristisch unantastbar macht. Nach den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen setzte die Kohl-Regierung mit der Grundgesetzänderung zum Asylrecht 1993 faktisch die Forderungen des rechtsradikalen Mobs um bzw. nahm diesen zum Vorwand für die Einschränkung des Asylrechts. Führende CDU/CSU-Politiker und auch Kohl selbst hetzten mit. Schon in den 1980ern sprach Kohl von „Asylantenflut“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“. Die Mär von Kohl als Friedenskanzler ist auch unhaltbar: So arbeitete seine Regierung am Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee und befürwortete die NATO-Osterweiterung. Kohl bereitete vor, was dann erst 1999 unter einer rot-grünen Regierung möglich wurde: Der erste deutsche Kriegseinsatz nach 1945.
Schwarze Koffer und ein klägliches Ende
Unermüdlich forderte Kohl neoliberale „Reformen“ – sein Gesetz zur Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall löste 1996 Massenproteste aus, die auf ihrem Höhepunkt 250.000 Menschen, vor allem Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, zu einer Großdemonstration nach Bonn mobilisierten. Damals mussten die Spitzen der DGB-Gewerkschaften ernsthaft die Möglichkeit eines Generalstreiks diskutieren, so groß war die Empörung und der Druck der Basis. Kohl machte den Weg frei für die Umsetzung neoliberaler Angriffe auf die Arbeiterklasse, was sein sozialdemokratischer Nachfolger dann in aller Brutalität fortsetzte. 1998 wurde Kohl abgewählt. Mit der Wahl der rot-grünen Regierung Schröder-Fischer verbanden sich anfänglich Hoffnungen – die aber schnell der bitteren Realität wichen. Der „Genosse der Bosse“ Schröder konnte die Gewerkschaften besser einbinden und setze in wenigen Jahren um, was Kohl Jahre lang nur scheibchenweise gelang. Am Ende der Ära Kohl und in den ersten Jahren der Nach-Kohl-Ära beschäftigte der CDU-Spendenskandal Deutschland und enthüllte das Ausmaß der Korruption und Verderbtheit des Systems Kohl. Die CDU hatte sich jahrelang illegal finanziert und war in dubiose Waffengeschäfte verwickelt. Während der CDU-Politiker Leisler-Kiep und der Waffenhändler Schreiber verurteilt wurden, saß Kohl die Affäre aus und ging straffrei aus dem Verfahren heraus. Als Altkanzler a.D. unterstütze Kohl in allen wesentlichen Punkten die Politik Schröders und Merkels. Dass Kohl für eine irgendwie sozialere oder friedlichere Politik gestanden hätte, ist und bleibt ein Mythos.
Wahrheit statt Verklärung!
Kohl war durch und durch ein Politiker im Dienst der herrschenden Klasse und hat mit seiner Politik konkret das Leben von ArbeiterInnen und Jugendlichen verschlechtert. Dennoch wird die Kohl-Ära verklärt. Das mag zum einen daran liegen, dass die Schärfe und Dichte der neoliberalen Angriffe zu Schröders Zeiten massiver waren und mehr im Gedächtnis der Menschen sind. Es mag auch daran liegen, dass die sozialen Verwerfungen im Land nach Jahrzehnten des neoliberalen Kahlschlags und der sich häufenden Krise größer geworden sind. Immer mehr Teile der Mittelschichten und der besser situierten Teile der Arbeiterklasse erleben ein Absinken ihres Lebensstandards und steigende Unsicherheit. Nun ist es verständlich, wenn ehemalige CDU-WählerInnen so denken, die heute soziale Abstiegsängste haben und sich unsicher fühlen. Völlig inakzeptabel hingegen ist es, wenn die politisch Linke in diesen Chor der Verklärung und Geschichtsfälschung einstimmt. Damit macht sie sich lächerlich, vernebelt die Hirne der Massen und zeigt nur einmal mehr, wie sehr sie sich an das Establishment anbiedert.