1917 aus der Sicht privilegierter Beobachter
von Geert Cool, „Linkse Socialistische Partij“ // „Parti Socialiste de Lutte“ (LSP/PSL; Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Belgien)
Auf den ersten Blick handelt es sich bei dem Buch „Caught in the Revolution: Petrograd, 1917“ von Helen Rappaport (das noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt; Anm. d. Übers.) um eine befremdliche Darstellung der revolutionären Ereignisse von 1917 in Petrograd. Die Russische Revolution vor 100 Jahren wird als Geschehnis abgetan, zu dem es gar nicht erst hätte kommen dürfen. Bemerkenswert ist hingegen der Aufhänger dieses Buchs: Geliefert wird der Blick durch die Brille britischer und US-amerikanischer Personen, die als DiplomatInnen, JournalistInnen etc. zufällig in Petrograd sind als die Revolution beginnt. Ungenannt bleiben demgegenüber die Menschen, die sich im Zentrum der Revolution befinden. Sie werden im ganzen Buch durchgehend als Gruppe bezeichnet, die zum „Pöbel“ gehört. Im Klappentext des Buches wird die voreingenommene Position mit ehrlichen Worten offenbart: „Helen Rappaport bringt Sie mitten auf den Nevski Prospekt und Sie spüren förmlich, wie um Sie herum die Revolution stattfindet. Es ergeht Ihnen wie den Menschen, die sich plötzlich im >roten Irrenhaus< eingesperrt wiedergefunden haben“.
Wer Genaueres darüber in Erfahrung bringen will, wie die Revolution sich entwickelte, sollte besser andere Bücher zu Rate ziehen: zum Beispiel die „Geschichte der Russischen Revolution“ von Leo Trotzki. Für Interessierte hat aber auch dieser Titel so einiges zu bieten, da die Leserschaft erfährt, wie die andere Seite, die Elite, den revolutionären Ereignissen gegenübergestanden hat. Ohne es zu wollen, liefert „Caught in the Revolution“ mit seinen Augenzeugenberichten und Tagebuchaufzeichnungen darüber hinaus etliche Argumente, mit denen man den verzerrten Darstellungen der damaligen Abläufe begegnen kann, die heute über die Revolution von 1917 ins Feld geführt werden.
Allzu häufig wird die Februarrevolution, die zum Sturz des Zarenreichs führte, als friedliche Revolution bürgerlich-liberaler Kräfte beschrieben. Wohingegen die Oktoberrevolution nach dieser Lesart ein Staatsstreich war, den die Bolschewiki angezettelt haben. In diesem Buch wird deutlich, dass dieses Klischee nicht zutrifft. Die Autorin muss mehrere Kapitel darauf verwenden, um die blutigen Vorgänge des Februar zu beschreiben. Das legt den Schluss nahe, dass dieser Aufstand von unten ein wütender Ausbruch war, dem es noch an einer politischen Schlussfolgerung fehlte. Wesentlich geringer ist die Seitenzahl, auf denen Rappaport sich mit der Oktoberrevolution befasst. Die Überschrift eines der Kapitel fasst zusammen, weshalb dies so ist: „Als wir wach wurden, befand sich die Stadt in den Händen der Bolschewiki“. Die Autorin ergänzt: „Für die Menschen, die den Kampf, der sich im Wesentlichen auf das Winterpalais konzentrierte, nicht aus der Nähe erlebt haben, war der 25. Oktober ein Tag wie jeder andere“. Dann unternimmt sie noch den Versuch, die Bolschewiki für die Gewalt verantwortlich zu machen, zu der es in den Julitagen gekommen ist. Sie vergisst dabei jedoch zu erwähnen, dass die führenden Bolschewiki einen Aufstand im Juli als verfrüht betrachtet haben, sie die Aktionen aber nicht mehr stoppen konnten. Deshalb haben sie sich schlussendlich doch daran beteiligt. Die daraufhin einsetzende Repressionswelle und Lügenkampagne gegen die Bolschewiki wird kritiklos übernommen. Dasselbe gilt sogar für den äußerst dünnen „Beweis“, wonach Lenin ein deutscher Spion gewesen sein soll. Auch diese Geschichte wird im vorliegenden Buch ungeprüft weiterverbreitet. An anderer Stelle wird das „Handeln“ Trotzkis als „teuflisch“ beschrieben. Den Angaben eines US-Amerikaners zufolge war Trotzki „der König der Demagogen“, jemand, der „selbst auf einem Friedhof noch imstande ist, einen Aufruhr zu verursachen“. Der Zitierte vergisst in diesem Zusammenhang leider zu ergänzen, dass es der Friedhof des Kapitalismus war, auf dem der Aufstand „angezettelt“ wurde.
Verherrlichung der „bürgerlichen“ Revolution
Wo Rappaport die Februarrevolution noch als besonders gewaltsame Begebenheit hinstellt, ist diese Revolution im Juli desselben Jahres in den Berichten von Augenzeugen bereits zur Revolution geworden, die für demokratische Freiheiten steht: eine Revolution „für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, die von den gnadenlosen Bolschewiki gefährdet wird. Was sich in der Zwischenzeit verändert hat, kommt im Buch von Rappaport nur zwischen den Zeilen vor. Die provisorische Regierung, die nach der Februarrevolution gebildet wurde, lief meilenweit hinter dem sich rasch verändernden Bewusstsein der Massen hinterher. Die neuen Machthaber stammten aus denselben alten Kreisen, auf die die ausländischen Diplomaten übrigens versuchten Einfluss zu nehmen. Saßen sie zuvor noch kritiklos an der Tafel des Zaren, so suchten sie nun den Zugang zu den neuen Machthabern. Die Einberufung einer Reihe von SozialdemokratInnen und Progressiven aus dem eigenen Land sollte dabei behilflich sein. Sie mussten allerdings ohne Erfolg zurückkehren, da die Massen in Russland erkannten, dass es sich bei ihnen um dieselben bürgerlichen Kräfte handelte, gegen die sie einen Aufstand führten. Dies dürfte als Einschätzung der westeuropäischen Sozialdemokratie genügen.
Durch das gesamte Buch zieht sich wie ein roter Faden die große Sympathie der ausländischen Diplomaten und Journalisten für die aufeinander folgenden bürgerlichen Regime: erst für den Zaren und danach für die Provisorische Regierung. Um das Gesamtbild ein wenig differenzierter erscheinen zu lassen, kommen am Ende des Buchs auch John Reed und Louise Bryant zu Wort. Diese beiden amerikanischen Journalisten sympathisierten mit den Bolschewiki. Reed verfasste später das Buch „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, ein ausgezeichnetes Werk über die Oktoberrevolution, das von Rappaport herablassend als „ermüdend“ und „aufgeblasen“ bezeichnet wird. An keiner Stelle des Buches wird auf die Gründe für den gesellschaftlichen Verfall oder die enorme Wut eingegangen, die unter den Menschen des „Pöbels“ existiert. Auf indirekte Weise kommt dies zum Ausdruck, wenn von den Kürzungen und dem schwierigen Zugang zu Lebensmitteln die Rede ist. Denn davon sind selbst die AusländerInnen in ihren schicken Hotels betroffen. Die große Betroffenheit angesichts der revolutionären Entwicklungen wird deutlich, wenn über das streikende Hotelpersonal geklagt wird, wodurch es keine Kellner mehr gibt und die Zimmer nicht mehr gereinigt werden. Besonders großen Abstand zum einfachen Volk pflegen die Diplomaten. Sie hoffen vor allem, dass es zu einer stabilen Regierung kommt, die den Krieg fortsetzen wird. Als der Zar dazu nicht mehr imstande war, musste es die Provisorische Regierung versuchen. Und als auch diese keine Stabilität bringen und nicht für Ruhe sorgen kann, zieht man eine Militärdiktatur in Erwägung. Dann kommt Emmeline Pankhurst von der Suffragettenbewegung aus England nach Petrograd, um die Frauen davon zu überzeugen, im Krieg durchzuhalten. Im Sommer des Jahres 1917 war Pankhurst Fürsprecherin einer strengen Militärdiktatur unter Führung von General Kornilow. Eine ganze Reihe anderer Personen aus dem Ausland, die sich in Petrograd befinden – darunter Botschafter und Diplomaten – teilen ihre Meinung. Ein Arzt fasste seinen Standpunkt wie folgt zusammen: „Durch die weit verbreitete Trägheit, die sie als Freiheit betrachten, sind sie so nachlässig, dass nur das intensive Leiden sie wieder zu Verstand bringen kann“. Soweit also der Mythos von der „demokratischen Revolution“ im Februar, die von den EngländerInnen, AmerikanerInnen, FranzösInnen etc. unterstützt worden ist …
Ablehnung der Arbeiterklasse
Der große Abstand zum „Pöbel“ steht in diesem Buch im schrillen Kontrast zum ziemlich geringen Abstand zur Elite. Die Warteschlangen hungriger Frauen wirken düster und beunruhigend, das in aller Eile geräumte Palais des Zaren liefert den BesucherInnen vom Roten Kreuz hingegen „ergreifende Dinge, die an die Zarenfamilie erinnern: Bücher, die offen auf den Tischen lagen, Notenblätter, die noch auf dem Klavier zu finden waren“. Ein britischer Spion, der im September einem Kongress beiwohnt, steht unter dem Eindruck dieses „zurückgebliebenen, plumpen Volkes“ mit „dummen Gesichtern“ und einem „scheelen Blick“. Die Autorin fügt an dieser Stelle hinzu, dass der entwickelte und mondäne Spion „sich normalerweise niemals [mit den] Plebejern“ im Rahmen eines sozialistischen Kongresses einlassen würde. Aus dem Buch blickt hindurch, dass der Spion nicht der einzige ist, der sich normalerweise niemals mit normalen Menschen einlassen würde.
Bei einigen der JournalistInnen und DiplomatInnen kommt ein gewisses Maß an Sensationslust zum Vorschein. Wer kämpft und warum, scheint hingegen weniger wichtig zu sein als der Rausch nächtlicher Suchfahrten nach sensationellen Geschichten und Figuren. Im Juli lag die britische Botschaft in der Schusslinie, woraufhin der Botschafter mit seinen engsten MitarbeiterInnen auf den Balkon ging, um von dort alles zu beobachten. Der Botschafter meinte, dass es ein „spannender Morgen“ gewesen sein. Seine Frau schrieb: „Man hatte tatsächlich beinahe das Gefühl, dass man sich im Schützengraben an der Front befand“. Der Begriff „beinahe“ ist an dieser Stelle von großer Bedeutung: Die Entbehrungen und das Leid der Schützengräben haben die DiplomatInnen selbstverständlich nie kennengelernt.
Zusammenfassend haben wir es mit einem Buch zu tun, das interessant ist, wenn man wissen möchte, wie die Revolution von Menschen gesehen wurde, die an und für sich nichts mit ihr zu tun gehabt hätten und aus privilegierter Position, durchweg ohne jede Sympathie für die Menschen geblieben sind, die sich tatsächlich inmitten der Revolution befanden: die arbeitenden Menschen aus Petrograd und ihre Familien.