Es tut sich mehr als Tito-Nostalgie!
Nach Nationalismus und Krieg spielen heute am Balkan soziale Kämpfe und neue linke Gruppen eine wichtige Rolle.
Von Michael Gehmacher, Sozialistische LinksPartei in Österreich
Auch wenn das Flüchtlingsthema die Schlagzeilen prägt: am Balkan tut sich viel mehr. Proteste in Serbien, Streiks in Slowenien, Massenproteste in Mazedonien – diese Seite ist zu kurz, um auch nur annähernd einen Überblick über die Vielzahl an Protesten zu geben. Der Aufschwung von sozialen Bewegungen und neuen linken Gruppen ist ein balkanweites Phänomen. Vor einigen Jahren bildeten sich an den Hochschulen Sloweniens und Kroatiens neue Studierendenorganisationen und balkanweit organisierten Belegschaften in vielen Betrieben Widerstand. In Serbien z.B. gab es 2009 bis zu 30 Streiks pro Tag in über 100 Unternehmen und mit über 30.000 Beteiligten. Berühmt wurde u.a. die Besetzung und Weiterführung unter Belegschaftskontrolle des Pharmaunternehmens Jugoremedija.
Oft vernetzt sich der Widerstand in „Foren“. Beim Kampf gegen die Studiengebühren kam es in Slowenien und später in Kroatien zu Massenbewegungen. Unibesetzungen und große Demonstrationen gingen oft in die Besetzung öffentlicher Plätze über. Hier wurden Volksversammlungen (Plenas) organisiert. Die Plenumsidee spielte später auch in Bosnien und anderswo eine wichtige Rolle.
Explosiv ist auch die Wut über die korrupte Elite, die etwa zu Massenprotesten gegen den Bürgermeister von Maribor 2012 führte. Unter dem Motto „Sie sind alle fällig“ gingen Zehntausende landesweit auf die Straße. Die AktivistInnen sahen sich als Bewegung gegen die herrschende Politik an sich und nicht nur gegen einzelne Parteien. Bemerkenswert auch der Schulterschluss zwischen Studierendenprotesten und ArbeiterInnenbewegung. In Kroatien protestierten StudentInnen und ArbeiterInnen, verschiedene Bündnisse entstanden. Ein wichtiger Schritt war die Gründung der „Radnicka Fronta“ (Arbeiterfront). Sie sieht sich als neue, antikapitalistische Partei, die in soziale Bewegungen eingreift.
Insgesamt haben die sozialen Bewegungen am Balkan das Potential, den Nationalismus zurückzudrängen. Dies zeigte sich besonders in Bosnien, wo sich alle drei Volksgruppen an den Protesten beteiligten: 2014 kämpften in der bosnischen Industriestadt Tuzla ArbeiterInnen für die Auszahlung ausstehender Löhne. Dabei wurde eine Straßenkreuzung besetzt. Die polizeiliche Räumung löste Massenproteste von Jugendlichen und ArbeiterInnen in ganz Bosnien aus. In Tuzla, Sarajevo und Zenica kam es immer wieder zu Straßenkämpfen. In einzelnen Regionen traten die Regionalverwaltungen zurück. An den Universitäten und in öffentlichen Gebäuden wurden Plenas organisiert, die anfangs als „Volksversammlungen“ einen Machtanspruch gegen die herrschenden Eliten stellten, später aber zu Diskussionsforen verkamen. Durch ihren internationalen Charakter und die Verbindung von ArbeiterInnen und Jugendlichen war die Bewegung in Bosnien 2014 von enormer Bedeutung. Valentin Inzko, österreichischer Diplomat und „Hoher Repräsentant“ von UNO und EU in Bosnien schloss damals ein Eingreifen von EUFOR-Soldaten nicht aus. Ein klares Signal, dass UNO/EU-Truppen im Ernstfall gegen die protestierende Bevölkerung stehen.
Ein Ergebnis der Stimmung von Wut und Widerstand ist auch die Entstehung neuer linker Formationen. Eine der bekanntesten ist die „Vereinigte Linke“ in Slowenien. Dieser Zusammenschluss aus drei Gruppen bekam bei den Parlamentswahlen 6% und sitzt mit drei Abgeordneten im slowenischen Parlament. In Mazedonien könnte die neue linke Partei „Levica“ den Sprung ins Parlament schaffen. Die Entstehung solcher Organisationen ist ein Schritt vorwärts. Nun kommt es darauf an, was sie konkret machen.
Egal ob alt oder jung: überall am Balkan spürt man eine große Tito- und Jugoslawiennostalgie. Auch in den neuen linken Strukturen ist grenzüberschreitende Zusammenarbeit ein Thema. Der Nationalismus wird abgelehnt. Die Gefahr ist aber, dass die Ängste von nationalen Minderheiten unterschätzt werden. Offen ist auch, wie sich die neuen Gruppen entwickeln. Manche wünschen sich eine nationale Eigenständigkeit unter antikapitalistischen Bedingungen. „Sie haben uns vor 20 Jahren gefragt, ob wir unabhängig sein wollen – nicht ob wir den Kapitalismus wollen“ stellte ein Redner bei den Protesten gegen die Privatisierung des Hafens im slowenischen Koper klar. Eine brave angepasste und auf die EU schielende Linke wird keine Antworten auf die soziale Katastrophe am Balkan haben. Auch unkritische Nostalgie bietet keine Antwort. Um soziales Elend und Nationalismus zu überwinden, braucht es kein abstraktes „neues Jugoslawien“, sondern den konkreten Kampf gegen den Raubbau an der Zukunft der Menschen am Balkan. Die existierenden Proteste und Kämpfe können auf ihrer gemeinsamen Grundlage zusammengefasst werden: der kapitalistischen Ausbeutung und ihrer dramatischen Folgen. SLP und CWI werden ihren Beitrag in den sozialen Kämpfen und im Entstehungsprozess linker Gruppen leisten, um eine antikapitalistische, sozialistische Perspektive zu entwickeln.
Dieser Artikel erschien erstmals am 2.10.2016 auf www.slp.at