Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und „Entbürokratisierung“
Seit Langem wird in der Politik über eine notwendige Verbesserung der Pflegesituation diskutiert. Trotz mittlerweile drei beschlossenen Pflegestärkungsgesetzen ändert sich an der vor allem katastrophalen Personalsituation im Pflegebereich wenig.
von Julia Blum, Aachen
Zum 1. Januar 2017 tritt der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und mit ihm das neue Begutachtungsassessment (NBA) in Kraft. Die bisherige Einteilung in drei Pflegestufen konzentrierte sich auf körperliche Einschränkungen und nahm den Hilfebedarf bei Verrichtungen des täglichen Lebens wie Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftliche Versorgung zum Ausgangspunkt.
Ab 2017 wird für die fünf Pflegegrade ein Pflegebedürftigkeitsbegriff zugrunde gelegt, in dem keine Rolle mehr spielt, ob körperliche oder kognitive Einschränkungen zur Pflegebedürftigkeit führen. Insofern werden ab 2017 wahrscheinlich mehr Menschen Zugang zu Pflegeleistungen erhalten und für die von Demenz betroffenen Menschen kann sich die Situation verbessern. In sechs unterschiedlich gewichteten Modulen sind zumindest mit geringer Prozentzahl auch Bereiche Teil der Begutachtung, die bisher keine Rolle spielten und vor allem durch eine Demenz oder andere psychische Erkrankungen eingeschränkt sein können. Die Bereiche kognitive/kommunikative Fähigkeiten und Verhaltensweisen/psychische Problemlagen werden zusammen mit fünfzehn Prozent gewichtet. Gleiches gilt für den Bereich Gestaltung des Alltagslebens/soziale Kontakte.
Dies geht allerdings auf Kosten der nicht von Demenz betroffenen Pflegebedürftigen, deren vermeintlicher Hilfebedarf entsprechend geringer ausfällt, da sie in den genannten Bereichen nicht oder nur wenig eingeschränkt sein dürften. Zum Beispiel der frühere Hauptbereich Selbstversorgung schlägt nur noch mit vierzig Prozent in der Gesamtgewichtung zu Buche.
Was sich noch ändert
Mit den neuen Pflegegraden verändern sich außerdem die Kassenzuschüsse bzw. die Pflegesachleistungen. Im häuslichen Bereich erhöhen sich bei der automatischen Überleitung die Beträge, vor allem für Menschen mit einer Demenz, die ja bisher kaum Leistungen erhielten. (Beim Wechsel von zum Beispiel Pflegestufe Null zu Pflegegrad Zwei steigt der Betrag von 231 auf 689 Euro.)
Im stationären Bereich sieht es aber anders aus. Dort werden die Leistungen vor allem in den niedrigen Pflegegraden gekürzt, obwohl die meisten Pflegebedürftigen angesichts sehr zögerlicher Begutachtungspraxis des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) bei schweren Fällen wahrscheinlich dort landen werden. (Beim Wechsel von Pflegestufe Eins auf Pflegegrad Zwei sinkt der Betrag um 294 Euro, bei Pflegestufe Zwei zum Pflegegrad Drei um 68 Euro.) Damit soll das Prinzip „ambulant vor stationär“ weiter forciert werden, also die Pflege zu Hause gefördert werden. Es spricht nichts dagegen, zu Hause zu pflegen, wenn das gewünscht wird und die Pflege dort von qualifiziertem Personal durchgeführt wird. Dies ist aber oft nicht der Fall, denn die Pflege zu Hause wird in zwei Drittel der Fälle von Angehörigen geleistet. In der Regel sind das weibliche Angehörige, die dafür das sehr viel niedrigere Pflegegeld erhalten. Nötig wäre stattdessen eine Ausbildungsoffensive im Pflegebereich und eine deutliche Aufwertung der Pflegeberufe, um den Personalmangel zu beheben.
Wer das bezahlen soll
Ab 2017 soll ein einheitlicher Eigenanteil der Pflegebedürftigen unabhängig vom Grad der Pflegebedürftigkeit gelten, was erst einmal den Vorteil mit sich bringt, dass sich der Eigenanteil mit steigender Pflegebedürftigkeit nicht mehr erhöht. Es heißt aber auch, dass Menschen mit wenig Hilfebedarf den größeren Hilfebedarf anderer mitfinanzieren. In einem Land mit Unternehmen, die Rekordgewinne einfahren, wird außerdem mal wieder vor allem die arbeitende Bevölkerung zur Kasse gebeten, in dem ab 2017 der Beitragssatz zur Pflegeversicherung um 0,2 Prozent angehoben werden soll. Besser wäre, man würde die erwarteten fünf Milliarden Euro höheren Kosten über die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer, finanzieren.
Was sich nicht ändert
Mit den Pflegegraden ist keine Erhöhung der Personaldecke vorgesehen, ganz im Gegenteil: Mit der Formel zur Berechnung des einrichtungsindividuellen einheitlichen Eigenanteils für die Bewohner von stationären Einrichtungen wird sogar explizit festgelegt, dass bei gleichbleibendem Klientel die Pflegesatzeinnahmen der stationären Einrichtungen vorerst gleich bleiben. Auch wenn die Politik bis Mitte 2020 ein wissenschaftlich gesichertes Verfahren zur Personalbedarfsbemessung in Aussicht stellt, rückt eine gesetzlich verankerte, wirklich bedarfsorientierte Personalbemessung noch in weitere Ferne. Zwar stellt das NBA eine Abkehr vom kritisierten Minutenwertsystem dar, aber das vorgesehene Punktesystem lässt keinen nachvollziehbaren Zusammenhang mehr zwischen Hilfebedarf und Personaleinsatz erkennen. Zum Beispiel spielt es im NBA keine explizite Rolle mehr, ob eine Hilfeleistung von einer oder zwei Pflegepersonen durchgeführt werden muss.
Die sogenannte „Entbürokratisierung“
Statt den Personalmangel wie oben skizziert zu beheben, fördert das Gesundheitsministerium seit ein paar Jahren ein neues „Strukturmodell“, das die Pflegedokumentation in der Praxis effizienter gestalten und den Dokumentationsaufwand erheblich reduzieren soll, wobei letzteres den Bedürfnissen der Pflegekräfte sehr entgegen kommt. Mal abgesehen von dem hohen zusätzlichen Zeitaufwand, den die Einführung des neuen Dokumentationssystems mit sich bringt, ist noch nicht raus, wie viel Zeit tatsächlich eingespart werden kann und ob diese den Pflegebedürftigen zu Gute kommen wird.
Pflege vom Profitprinzip befreien
Auch wenn im zweiten Pflegestärkungsgesetz verankert ist, dass die Zeitersparnis nicht zu Personalkürzungen führen darf, gibt es keine wirksamen Mittel, dies zu verhindern, solange Pflege in Unternehmerhand ist und Profite abwerfen muss. Das Marktvolumen des ambulanten und stationären Pflegebereiches lag laut Pflegeheim Rating Report 2013 bei rund vierzig Milliarden Euro und ist damit äußerst attraktiv für Unternehmen um Profite auf Kosten der Pflegebedürftigen und Beschäftigen zu generieren. Daran ändern auch die verschiedenen Pflegestärkungsgesetze nichts. Ziel sollte ein kostenloses, öffentliches und aus Steuermitteln finanziertes Gesundheitswesen sein, in dem Menschen nicht zu Tode gepflegt werden. n
Julia Blum (Name geändert) ist Beschäftigte in der Altenpflege und aktiv in ver.di