107.763 Unterschriften für bessere Fahrrad-Infrastruktur
Elf Radverkehrstote hat es 2016 in Berlin bereits gegeben. Bereits mehr als im ganzen Jahr 2015 Die häufigste Ursache sind Fehler beim Abbiegen von PKWs. Ich selbst bin innerhalb von einem Monat zweimal von einem rechtsabbiegenden Auto angefahren worden. Zeit also, etwas an der autozentrierten Verkehrspolitik zu ändern. Das hat sich auch die Initiative “Volksentscheid Fahrrad” gedacht, die mit einem Volksentscheid für ein neues “Radverkehrsgesetz” den Fahrradverkehr fördern will. In nur vier Wochen wurden 107.763 Unterschriften für eine bessere Fahrradinfrastruktur in Berlin gesammelt.
von Steffen Strandt, aktiv in der LINKE-Neukölln und der SAV
Jedes Jahr steigt der KfZ-Bestand in Berlin um 17.000 Fahrzeuge. Berlin steuert auf vier Millionen EinwohnerInnen zu, die eventuell schon 2020 erreicht sein könnten. Bei vier Millionen BerlinerInnen würden 150.000 Autos dazu kommen, damit kann das gesamte Tempelhofer Feld zugeparkt werden. Der Berliner Senat hält im Großen und Ganzen immer noch an der autozentrierten Politik der fünfziger Jahre fest, als der A100-Stadtring geplant wurde. Die Teilung Berlins verhinderte den Ringschluss. Der Bauabschnitt von Neukölln nach Treptow ist im Bau und die SPD hat jetzt im Wahlkampf angekündigt, auch die Autobahn von Treptow bis nach Lichtenberg weiter zu bauen. Die A100 ist nur ein Beispiel für die Dominanz des Autoverkehrs in der Stadt. Dabei sinkt die relative Bedeutung des Autos für das Gesamtverkehrsaufkommen seit Jahren. Ein Drittel der BerlinerInnen haben ein Auto und genau so groß ist der Anteil vom PKW-Verkehr am Gesamtverkehrsaufkommen. In der Innenstadt macht der Autoverkehr sogar nur 17 Prozent des Gesamtverkehrs aus. Trotzdem nimmt der Autoverkehr 59 Prozent der Verkehrsflächen ein. Pro Jahr werden pro Kopf 83,50 Euro für Autoverkehr ausgegeben.
Fehlende Fahrradförderung des Senats
70,30 Euro werden für den Fahrradverkehr ausgegeben – in Oslo. In Berlin spendiert der Senat den FahrradfahrerInnen jedes Jahr 3,80 Euro pro Kopf– ein großes Bier in einer mehr oder weniger schicken Kneipe. Und das obwohl der Fahrradverkehr jedes Jahr um fünf Prozent wächst. Für die 18 Prozent FahrradfahrerInnen in der Innenstadt stehen nur drei Prozent der Verkehrsfläche zur Verfügung. 2013 hat der Senat den Radverkehrsdialog ausgerufen, um vor allem Unfallschwerpunkte umzubauen und Kreuzungen sicher zu machen. Umgesetzt wurde von den Maßnahmen bisher fast nichts. Das ist auch im internationalen Fahrradranking, dem Copenhagen-Index, erkennbar. 2011 belegte Berlin hier noch Platz 5. 2015 rutschte Berlin auf Platz 12.
Was will der Volksentscheid?
Der Volksentscheid hat einen Gesetzesentwurf zur Investition und Förderung des Fahrrad-Verkehrs vorgelegt – das Gesetz zur Förderung des Radverkehrs in Berlin (RadG). Ein zehn-Punkte umfasst unter anderem:
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350 Kilometer Fahrradstraßen
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zwei Meter breite Radwege an jeder Hauptstraße
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sichere Verkehrsführung an Kreuzungen – 75 Kreuzungen pro Jahr sicher machen
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100 Kilometer Radschnellwege für den Pendlerverkehr
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50 grüne Wellen für Fahrräder
Mit diesen Maßnahmen soll der Fahrrad-Verkehr attraktiver gemacht werden und damit mehr Menschen auf das Fahrrad umsteigen. Für eine Übersicht der Ziele mit anschaulichen Beispielen siehe hier: www.volksentscheid-fahrrad.de/ziele
Debatte um die Kosten
320 Millionen Euro würden die Maßnahmen nach Kostenschätzung der Volksentscheidsinitiative kosten. Der Senat hat pauschal eine Kostenschätzung von 2,1 Milliarden Euro abgegeben. Der Fahrradvolksentscheid hat die Kostenschätzung vom Senat überprüft. Das Ergebnis: Der Senat geht in seiner Kostenschätzung von der Planung einer „Fünf-Sterne-Fahrradstadt“ aus, mit doppelt so vielen Radwegen als das RadG vorsieht. So wurden deutlich mehr Straßen als Hauptstraße kategorisiert und die Kosten für Fahrradstraßen- und Wege an den Hauptstraßen deutlich höher angegeben, um die Kostenschätzung in die Höhe zu treiben. Doch selbst wenn die Kosten bei einer Milliarde liegen würden – was sie wahrscheinlich nicht tun – würden sie immer noch unter dem beschriebenen Ausbau der A100 liegen. Der Neukölln-Treptow Bauabschnitt kostet schon 500 Millionen Euro. Der Abschnitt Treptow-Lichtenberg wird mit Untertunnelung der Spree und des Ostkreuzes vermutlich noch deutlich über den 500 Millionen liegen.
Mobilität für alle
Das Verkehrskonzept ist in Deutschland, sowie in allen entwickelten kapitalistischen Ländern, seit der Erfindung des Automobils voll und ganz auf den Motorisierten Individualverkehr (MIV) ausgerichtet. Das liegt nicht an dem Mangel an anderen technischen Lösungen, dem Fehlen von Kreativität oder der Liebe zum Auto von Verkehrsplanern, sondern vor allem an den durchsetzungsstarken Interessen der Kapitalisten aus Auto- und Erdölbranche. Ohne Autostädte und massive Subventionen für Autobauer, wie die letzte „Öko-Prämie“ (Abwrackprämie) kann es keinen Absatz für die Automobilbranche geben. Ob damit das Klima oder die Gesundheit von (Groß-)Städtern zerstört wird, spielt hier keine Rolle. Das ist auch der Grund, warum der Fahrrad-Volksentscheid bei CDU und SPD als Hauptvertreter der Kapitalinteressen von Auto- und Bauindustrie auf Widerstand stößt. Denn der Fahrrad-Volksentscheid würde zu einem zurückdrängen von Autos in der Stadt führen und damit den Interesse der wichtigsten deutschen Industrie zuwider laufen.
Der Ansatz, den Fahrradverkehr zu fördern und damit den motorisierten Individualverkehr zu begrenzen, ist gut. Doch bietet er auch Potential von Konflikten zwischen den NutzerInnen der verschiedenen Verkehrsmittel. Wegen der katastrophalen Verkehrslage auf Berliner Straßen gibt es die schon zu Genüge. Die Volksentscheidsinitiative listet auch Vorteile für AutofahrerInnen, ÖPNV-NutzerInnen und FußgängerInnen durch das RadG auf, durch die Verbesserung der Radverkehrsführung und eine Entlastung der Straßen durch UmsteigerInnen vom Auto aufs Rad. Doch nicht alle AutofahrerInnen werden aufs Rad umsteigen. Für eine soziales und ökologisches Verkehrskonzept ist mehr als nur die Förderung von Radverkehr notwendig. Vor allem muss der ÖPNV deutlich gestärkt werden. Mit Investitionen in die Infrastruktur der U- und S-Bahn, sowie von Tram und Bus, mit einem dichteren Takt, einem Ausbau des Liniennetzes und der Erweiterung des Straßenbahnnetzes auch im Westen der Stadt. Damit sich der Umstieg auf den ÖPNV auch lohnt, muss es einen Nulltarif im ÖPNV gegeben. Um das zu finanzieren, muss man an die Gewinne der Autoindustrie ran. Auch wenn nicht alle diese Forderungen in den Gesetzestext eines Volksbegehrens passen, ist es wichtig sie als politische Forderungen mit aufzunehmen, um aufzuzeigen, dass es ein gemeinsames Interesse an einer Verkehrsplanung nach den Bedürfnissen aller VerkehrsteilnehmerInnen und nicht im Interesse der Autoindustrie gibt, um zu vermeiden, dass es eine Diskussion von Fahrradpendlern gegen Autopendler und gegen ÖPNV-Pendler gibt.
Wie weiter mit dem Volksentscheid?
Durch die Rekordsammlung von Unterschriften für den Volksentscheid muss der Gesetzestext jetzt vom Senat geprüft und diskutiert werden. Die SPD-CDU-Koalition könnte das Gesetz noch vor dem Wahlen im September beschließen, was bei den Autolobby-Parteien aber eher unwahrscheinlich ist. Wenn das Gesetz die rechtliche Prüfung besteht und der neue Senat das Gesetz nicht übernimmt, kann im März 2017 die zweite Stufe des Volksbegehren beginnen, bei der 180.000 Unterschriften gesammelt werden müssen, damit es zu einer Abstimmung über das Gesetz zum Zeitpunkt der Bundestagswahlen 2017 kommen kann.
Parallel wurde für die Kampagne von „Volksentscheid retten“ gesammelt, die unter anderem eine stärkere Verbindlichkeit von Volksentscheiden in die Berliner Verfassung schreiben will (www.volksentscheid-retten.de). Sie sammelten über 50.000 Unterschriften. Hintergrund ist hier das Handeln des Senats auf dem Tempelhofer Feld. Nachdem 2014 ein Volksentscheid die Bebauung des Tempelhofer Feldes verhinderte, hat das Abgeordnetenhaus das Gesetz mit einfacher Mehrheit geändert und eine Bebauung des Feldes wieder zugelassen, um dort Massenlager für Flüchtlinge zu errichten. Das Beispiel des Tempelhofer Feldes, sowie das Handeln des Senats gegen das S-Bahn-Volksbegehren und den Mediaspree-Volksentscheid, zeigt aber auch, dass der Senat immer wieder juristisch und politisch Wege sucht und findet um Forderungen und Entscheidungen von Volksentscheids-Initiativen zu übergehen oder zu verwessern. Die vielen SammlerInnen haben durch ihre kontinuierliche Arbeit Druck aufgebaut und die Fahrradproblematik in der Stadt als wichtiges Thema auch im Wahlkampf auf die Agenda gesetzt. Allein der Gesetztesentwurf wird aber zur Durchsetzung der Forderungen nicht reichen, dafür muss der politische Druck der kontinuierlich aufrecht erhalten werden. 140.000 RadfahrerInnen haben ein starkes Zeichen für einen besseren Fahrradverkehr bei der Sternfahrt des ADFC am 5. Juni gesetzt und auch die Initiative zum Stopp der A100 mobilisiert gegen den Weiterbau der A100 in Treptow, Friedrichshain und Lichtenberg (www.a100stoppen.de).
Der Fahrradvolksentscheid nach den Abgeordnetenhauswahlen
Die Grünen werden einen Abgeordnetenhaus-Wahlkampf führen, indem sie sich offensiv für die Forderungen des Fahrradvolksentscheids einsetzen. Doch was hat die Verkehrspolitik der Grünen in der Vergangenheit geleistet? Im Bund an der Regierung mit der SPD haben sie nichts getan um die Privatisierung der Bahn zu stoppen. Um den Autoverkehr zu schwächen haben sie mit der Ökosteuer die Kosten auf Benzin erhöht. Nicht die Förderung von ÖPNV und vom Fahrradverkehr, sondern die unsoziale Kostensteigerung des Autos für alle sollte zu sinkenden Verkehrsaufkommen von PKW-Verkehr führen. Wie oben ausgeführt, kann eine wirkliche Verbesserung der Verkehrssituation nur durch massive Investitionen in ÖPNV und Fahrrad-Infrastruktur erreicht werden. Dafür braucht es eine deutliche Ausgabensteigerung. Das Geld dafür muss sich von den Autokonzernen und den Reichen geholt werden. Dafür sind SPD und Grüne weder bundesweit noch in Berlin bereit. DIE LINKE Berlin sollte ein Verkehrskonzept für die Stadt aufstellen, dass sich an den Bedürfnissen eines sinnvollen kostenlosen ÖPNV und Fahrrad-Verkehrs ausrichtet und dafür die entsprechende Finanzierung einfordern. Sie sollte jede Maßnahme unterstützen, die die Fahrradinfrastruktur und das ÖPNV-Angebot verbessert. An einer Regierung, die sich an die Zwangsjacke der Schuldenbremse bindet und einen weiteren Ausverkauf und Betonierung der Stadt, wie bei der A100 akzeptiert, darf sie sich nicht beteiligen. Mit SPD und Grüne, den Parteien des großen Geldes und der Autolobby, wird eine Politik, die ökologische und soziale Mobilität für alle ermöglicht nicht machbar sein.
Weitere Infos zum Fahrradvolksentscheid: volksentscheid-fahrrad.de